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Wovon der Mensch lebt ... Widerstand und Überleben

Einleitung

In naher Zukunft wird die Erinnerung an den Nationalsozialismus und die Shoa ohne die letzten überlebenden Zeitzeugen auskommen müssen. Neue Formen der Erinnerungsarbeit müssen erschlossen und auf ihre Tauglichkeit überprüft werden, Zeugnis zu geben vom Leiden und Sterben, aber auch vom Leben, Überleben und vom Widerstand in den Konzentrations- und Vernichtungslagern. Literarische Verarbeitungsversuche der Shoa spielen eine immer wichtigere Rolle. Am Beispiel des Lebens und Werkes von Primo Levi soll ein solcher Versuch exemplarisch besprochen werden.

Bild: flickr.com/tatler; Alfred Essea/CC BY-SA

Literarische Verarbeitungsversuche der Shoa spielen eine immer wichtigere Rolle. Am Beispiel des Lebens und Werkes von Primo Levi soll ein solcher Versuch exemplarisch besprochen werden. Primo Levi wird im Jahre 1919 in Turinal Sohn jüdischer Eltern geboren. Diese sind Teil des liberalen jüdischen Bürgertums von Turin. So wächst Levi in einem vom westlich säkularen Judentum geprägten Umfeld auf. Der Sabbat und die hohen jüdischen Feiertage werden in der Familie begangen, auch erhält Levi mit 13 Jahren die Bar-Mizwa – die feierliche Einführung in die jüdische Glaubensgemeinschaft der Erwachsenen. Doch Levis Bindung an die jüdische Gemeinde geht über eine eher aus der Familientradition gespeiste zivilreligiöse Sozialisation nicht hinaus.

Nach dem Besuch der Grundschule wird Levi 1934 in das renommierte humanistische Gymnasium von Turin aufgenommen. Zu diesem Zeitpunkt sind die italienischen Faschisten unter Mussolini bereits seit zwölf Jahren an der Macht. So ist auch der Lehrkörper des Gymnasiums von jenen antifaschistischen Professoren »gesäubert«, die sich 1931 geweigert hatten, einen Treueschwur auf das faschistische Regime abzulegen.

Mit Bitterkeit registriert der Schüler den von der faschistischen Ideologie geprägten Alltag am Gymnasium. Nur mit Widerwillen trägt er die obligatorische Uniform der »Balilla«, der faschistischen Jugendorganisation. Sein zunächst bestehendes Interesse an den Geisteswissenschaften erlischt in dem Maße, in welchem rassistische und antisemitische Inhalte im Unterricht Einzug halten. Mehr und mehr wendet er sich dem, im Gegensatz dazu, von ihm als objektiv empfundenen Gegenstand der Naturwissenschaften zu. Dabei entwickelt Levi Talent und Leidenschaft und nimmt nach Abschluss des Gymnasiums das Studium der Chemie in Turin auf. Hierin geht er vollkommen auf und sucht über die intensive Arbeit im chemischen Labordie stärker werdende antisemitische Hetze in Italien hinter sich zu lassen.

Im Jahr 1941 schließt er das Studium mit der Bestnote »summa cum laude« ab. Doch seit 1938 gelten in Italien Rassengesetze, die eine Anstellung von Juden verhindern sollen. Daher enthält Levis Abschluss den Vermerk »Jude«. Er bekommt keine Arbeit und muss sich mit Gelegenheitsjobs durchschlagen. Die Intensität der antisemitischen Politik der Faschisten nimmt zu Beginn der 40er Jahre immer repressivere Formen an. In Levis Heimatstadt Turin kann eine Brandstiftung in der Synagoge knapp verhindert werden, es kursieren Flugblätter mit den Namen jüdischer Einwohner Turins, verbunden mit der Aufforderung, diese zu ermorden. Obwohl die Inkraftsetzung der Rassengesetze bei Levi und seinen FreundInnen einen Schock auslöst, glauben sie sehr lange nicht an eine persönliche Gefährdung.

Erst im Jahr 1943 im Zuge der Landung der Alliierten beginnt Levis explizite Politisierung. Er erfährt von den Antifaschisten Gramsci und Rosselli und bekommt Kontakt zu einer Gruppe antifaschistischer Intellektueller. Durch gemeinsame Wanderungen in den Bergen von Oberitalien entwickelt sich ein Kontakt zu den dort operierenden Partisanen der »Resistenzia«. Diesen schließt er sich einige Zeit später gemeinsam mit einer Gruppe von sieben FreundInnen an. Der Gang in den Untergrund ist stark von der Hoffnung getragen, dem antisemitischen Terror der Städte zu entkommen. Levi und seine FreundInnen verfügen weder über eine militärische Ausbildung noch über Ausrüstung, um an den Kämpfen der Partisaneneinheiten teilzunehmen. Die Gruppe gerät, ohne an Kampfhandlungen teilgenommen zu haben, im Januar 1944 in Gefangenschaft. Ihnen droht als Partisanen eine Verurteilung zum Tode. Doch Levi wird in das Gefangenenlager Carpi-Fossoli verbracht, das die SS wenig später vom italienischen Sicherheitsdienst übernimmt.

Am 22. Februar 43 wird Levi gemeinsam mit sämtlichen Juden aus Carpi-Fossoli nach Auschwitz deportiert. Auf der mehrtägigen Deportationsfahrt, auf engstem Raum in einem Waggon zusammengepfercht, sterben viele von Levis LeidensgenossInnen, andere verlieren den Verstand. Die Überlebenden leiden Hunger und Durst. Was sie in Auschwitz erwartet, können sie nur erahnen. In Auschwitz wird der Transport aus Italien selektiert. Neunundzwanzig Frauen und Männer werden von der SS als SklavenarbeiterInnen ausgesucht. Die übrigen Menschenwerden innerhalb kürzester Zeit vergast. Levi wird zunächst einem Arbeitskommando im Umfeld der IG Farben Baustelle Buna-Monowitz zugeteilt. In Auschwitz-Monowitz errichtete die IG Farben ein Bunawerk zur Herstellung von kriegswirtschaftlich wichtigem synthetischem Kautschuk. Zu diesem Zweck kaufte die IG der SS die Häftlinge als Zwangsarbeiter ab. Die Überlebenserwartung der Häftlinge beträgt bei Unterernährung, Schlägen und katastrophalen hygienischen Bedingungen je nach Arbeitskommando einige Wochen oder Monate.

Hier muss Levi ohne technische Hilfsmittel schwere körperliche Arbeit verrichten. Erst durch einen Zufall erhält er bei einem Lagerappell die Möglichkeit, in das »Chemiekommando« zu wechseln. Viele Häftlinge möchten in das »Chemiekommando«, da die Überlebenschancen dort – in den trockenen und warmen Labors der IG bei etwas besserer Versorgung – sehr viel höher sind, als bei der Arbeit aufder IG-Baustelle. Die für den Wechsel des Arbeitskommandos von deutschen IG-Farben Chemikern durchgeführte Prüfung besteht Levi. Auch die Arbeit im Labor ermöglicht ihm das Überleben. Nach der Befreiung des Lagers Auschwitz durch die Rote Armee im Januar 1945 irrt Levi zunächst als Displaced Person durch mehrere Länder, bevor er nach Italien zurückkehrt. Wieder in Turin, tritt Levi in einen chemischen Betrieb ein und arbeitet dort bis 1977. Hiernach arbeitet er als freier, international anerkannter Schriftsteller und Essayist. Im April 1987 begeht Levi im Treppenhaus seines Geburtshauses Selbstmord. Die italienische Tageszeitung »La Stampa«, in der auch Levi veröffentlicht hatte, widmete ihm einen umfangreichen Nachruf, seinem Sarg folgten Tausende Einwohner Turins.

Literatur nach Auschwitz und Levis Roman »Ist das ein Mensch?«

Die kulturkritische Diskussion über die Frage nach der Vermittelbarkeit des Geschehens von Auschwitz drehte sich von Beginn an im Wesentlichen um zwei Fragen: Gibt es für Auschwitz eine angemessene Sprache und eine dafür taugliche literarische Form? Und: Welchen Sinn hat die Produktion von Literatur nach Auschwitz überhaupt noch? Zu diesen Fragen und denen nach den antisemitischen Figurenstereotypen in der deutschen Literatur des 20. Jahrhunderts gibt es eine vielschichtige literaturtheoretische Debatten. Als einer der Ausgangspunkte gilt ein Aufsatz des nach dem Krieg aus dem amerikanischen Exil zurückgekehrten deutsch-jüdischen Philosophen Th.W. Adorno aus dem Jahr 1951. Darin kritisiert dieser scharf die unreflektierte Fortführung des Kulturbetriebs inklusive der Kulturkritik nach dem zivilisatorischen Bruch von Auschwitz. Eine Fortführung von Kultur und vor allem Poetik lenke vom Grauen des Geschehenen ab. Das Schreiben eines Gedichts nach Auschwitz bezeichnete Adorno als barbarisch; Kultur und Poetik könnten den Zivilisationsbruch Auschwitz weder aufheben noch verstehbar machen. Als Gegenargument für Adornos These von der Unmöglichkeit von Literatur nach Auschwitz wurde das literarische Schaffen von Paul Celan, Nelly Sachs und auch Levi angeführt.

Dass es schwierig ist und bleibt, für die Shoa eine Sprache zu finden, zeigt die Tatsache, dass viele Überlebende erst nach mehr als fünfzig Jahren die Kraft finden, ihr Schicksal niederzuschreiben. Dies trifft auf Levis Roman »Ist das ein Mensch?« nicht zu. Er erschien – zunächst öffentlich unbeachtet – schon im Jahre 1947 in einem kleinen italienischen Verlag. Als erzählerisches Grundgerüst dienen Levi die Rahmenbedingungen des KZ-Alltags. Dabei gilt sein Interesse nicht der genauen Erläuterung von Funktion und Struktur der KZ-Bürokratie. Diese umreißt Levi nur, wo es seinem Erzählinteresse dient. Dieses liegt darin, den Menschen und sein Verhalten in der fundamental existenzbedrohenden Situation Auschwitz zu beschreiben. Namen und Funktionen der Täter bleiben mit einer Ausnahme außen vor, sind sie doch durch den realen historischen Hintergrund immer präsent. Levis Blick ist auf die Opfer und ihr Leiden gerichtet. Levi teilt Situationen, Empfindungen und Wertungen des als Häftling Erlebten unmittelbar aus damaliger Sicht mit. Nachträglich gewonnene Erkenntnisse, Einsichten und Erklärungsversuche sind selten. Er lässt die Erinnerung sprechen.

Levi reflektiert nicht nur sein eigenes Handeln im Konzentrationslager Auschwitz, sondern prüft auch die Veränderung der Selbstwahrung. Die Figuren führen nicht nur ein zu beschreibendes Eigenleben, sondern werden mit dem Autor vor existenzielle Entscheidungen, wie etwa der nach dem Teilen der kargen Brotration, gestellt. Herausragend ist der Sprachstil des Romans, der gekennzeichnet ist durch sparsamen Einsatz sprachlicher Mittel. Das Geschehen wird im Tone großer Nüchternheit und Rationalität wiedergegeben. Die Emotionen des Erzählers sind vordergründig nicht entschlüsselbar und erschließen sich erst im Gesamtkontext des Romans. Der analytisch distanzierte Blick prägt den Buchs ganz entscheidend. Nie weicht der Autor von diesem, auch zu sich selbst Distanz suchenden Sprachstil des beobachtenden Naturwissenschaftlers ab. Doch hinter dieser Form des Erzählens verbirgt sich nicht teilnahmslose Kälte. Vielmehr ist diese analytisch beschreibende Erzählstruktur für Levi ein Medium, um sich und seinen Lesern einen Weg zur versuchten Aneignung von Auschwitz zu öffnen.

Zu welchem Ausmaß der Erniedrigung des Menschen die Vernichtungslogik der Nationalsozialisten führt, schildert Levi in einer in der Literatur- und Wirkungsgeschichte des Romans unter dem sinngemäßen Begriff: »Der Blick des Doktor Pannwitz« bekannt gewordenen Erzählsequenz. Um in das beschriebene »Chemiekommando« wechseln zu können, muss Levi eine Prüfung durch den Abteilungsleiter der chemischen Labors in Monowitz bestehen. Diese schildert er: »Wir sind eingetreten. Nur Doktor Pannwitz ist anwesend. (...) und er thront fürchterlich hinter einem wuchtigen Schreibtisch. Ich, Häftling 174517, stehe in seinem Arbeitszimmer, klar, sauber und ordentlich, und mir ist, als müsste ich überall, wo ich hinkomme, Schmutzflecken hinterlassen. Wie er mit dem Schreiben fertig ist, hebt er die Augen und sieht mich an. (...) Was wir alle über die Deutschen dachten und sagten, war in dem Augenblick unvermittelt zu spüren. Der jene blauen Augen und gepflegten Hände beherrschende Verstand sprach: »Dieses Dingsda vor mir gehört einer Spezies an, die auszurotten selbstverständlich zweckmäßig ist. In diesem besonderen Fall gilt es festzustellen, ob nicht ein verwertbarer Faktor in ihm vorhanden ist.« (...) Und es begann das Verhör. (...) »Wo sind Sie geboren?« (...) »Ich habe 1941 in Turin meinen Doktor mit summa cum laude gemacht.« Während ich dies sage, habe ich das sichere Empfinden, dass man mir nicht glaubt; eigentlich glaube ich es selber nicht, man braucht nur meine schmutzigen, wunden Hände und meine dreckstarrenden Hosen zu betrachten. (...) Und doch kann gerade in diesem Moment über meine Identität mit demjenigen, der in Turin promoviert hat, kein Zweifel bestehen.«1

In dieser Erzählsequenz treffen zwei Welten aufeinander: die des Lagers, in der Hunger, totale Ausbeutung und Tod regieren. Eine Welt, die sowohl geographisch als auch human jenseits der Zivilisation liegt. Und mitten darin liegt eine andere – das geheizte, saubere, bürgerliche Arbeitszimmer des Doktor Pannwitz. Levi, in Italien Doktor der Chemie wird gar nicht als Person angesprochen. Die Fragen und der Blick des Doktor Pannwitz taxieren ausschließlich den Nutzwert von Wissen und Können Levis. Die Größe dieses Romans liegt in seinem Versuch, dem geordneten Chaos der Vernichtung einen spröden, präzisen Ausdruck zu geben. In den Jahrzehnten nach der Erstveröffentlichung wird sein Bericht weltbekannt. Levi versucht, sich mit zwei weiteren Romanen und unzähligen Aufsätzen seiner Auschwitz-Erfahrung zu nähern, angetrieben von dem Wunsch, Zeugnis zu geben für die Zukunft.

Literatur:
Primo Levi, Ist das ein Mensch?, dtv, München 1992
Primo Levi, Die Atempause, dtv, München 1993
Primo Levi, Die Untergegangenen und die Geretteten, dtv, München
Primo Levi, Das Periodische System, dtv, München 1996
Myriam Anissimov, Primo Levi / Die Tragödie eines Optimisten, Philo Verlag, Berlin 1999


  • 1Vgl. P. Levi a.a.O, S. 128