„Antifaschismus ist immer auch Selbstverteidigung“
Jacob ReinhardtIm Stockholmer Vorort Kärrtorp wurde Mitte Dezember 2013 eine antirassistische Kundgebung von militanten Neonazis angegriffen. Der Antifaschist Joel sitzt seitdem inUntersuchungshaft, da er an der Abwehr des Überfalls beteiligt gewesen sein soll.
Im vergangen Jahr haben in Schweden Aktionen und Übergriffe durch militante Neonazis spürbar zugenommen. In Kärrtorp, einem ruhigen Wohnviertel im Süden Stockholms, waren seit Monaten Hakenkreuz-Schmierereien, neonazistische Plakate und Aufkleber gesichtet worden. Zudem kam es zu Übergriffen gegen Einzelpersonen. Mitglieder der neonazistischen Gruppe „Svenska motståndsrörelsen” („Schwedische Widerstandsbewegung”, SMR) wurden gesichtet, wie sie auf dem Sportplatz in Kärrtorp gemeinsam in Uniform „Kampfübungen” trainierten. Auf die zunehmenden Neonaziaktivitäten in dem Stockholmer Vorort reagierte die antirassistische Gruppe „Nätverk Linje 17”, benannt nach der U-Bahnlinie, die vom Zentrum in die südöstlichen Vororte führt. Mit einer antifaschistischen Kundgebung versuchte „Nätverk Linje 17” am 15. Dezember 2013 auf die Situation in Kärrtorp hinzuweisen und die Bereitschaft zur Gegenwehr deutlich zu machen. Diese musste auch zugleich unter Beweis gestellt werden: Nicht mal eine halbe Stunde nach Kundgebungsbeginn stürmte eine Gruppe von ca. 30 Neonazis unvermittelt auf die Kundgebung zu und griff diese mit Knüppeln, Feuerwerkskörpern, Messern und selbstgebauten Schilden an. Dass es zu keinen größeren Verletzungen kam, war dem entschlossenen Handeln der Kundgebungsteilnehmer_innen zu verdanken. Gemeinsam drängten sie die Angreifer vom Platz in ein nahegelegenes Waldstück, wo sich die Auseinandersetzung fortsetzte.
„Svenska motståndsrörelsen” bekennt sich zum Angriff
Die SMR bekannte sich im Nachhinein zu dem Angriff. Die Nachfolgeorganisation des „Vitt Ariskt Motstånd” („Weißer arischer Widerstand”) zählt zu den aktivsten und am besten vernetzten Strukturen des militanten Neonazismus in Schweden. So verfügt die SMR über gute Kontakte in den gesamten skandinavischen Raum und nach Deutschland. Pressesprecher Pär Öberg bekam nach dem Angriff in Kärrtorp in der größten Tageszeitung Dagens Nyheter die Möglichkeit, seine Sicht der Dinge zu schildern: „Wir haben die Policy, Gewalt zur Selbstverteidigung anzuwenden, und wenn da einige sind, die aggressiv drohen, uns aus Kärrtorp zu vertreiben, dann kommt es eben zu Gewalt, daran ist ja nichts Merkwürdiges.“ Die Attacke in Kärrtorp stellte einen vorläufigen Höhepunkt der Aktionen von SMR dar. Trotz des Wahlerfolgs der rechtspopulistischen „Sverigedemokraterna“ befand sich die militante Neonaziszene in einer Tiefphase. Das Auseinanderbrechen des Vorbereitungsbündnisses der alljährlichen neonazistischen Salem-Demonstration und deren schwindende TeilnehmerInnenanzahl bis hin zur gänzlichen Aufgabe dieses regelmäßigen Neonazi-Events waren sichtbare Anzeichen der Schwächung der gesamten Szene. Doch 2013 nahmen öffentliche Aktionen und Demonstrationen der militanten Neonaziszene wieder zu und fanden zudem vermehrt in den Städten Stockholm und Malmö statt. Damit hat die SMR die ländliche Region Dalarna verlassen, in der die Gruppe bisher ihre stärkste Basis hatte. Eine besondere Provokation war eine von der SMR angemeldete Demonstration am 9. November 2013 in der Stockholmer Innenstadt, offiziell als Solidaritätsaktion für die griechische Neonazipartei „Goldene Morgenröte“ deklariert. Bereits hier war es zu gewaltsamen Auseinandersetzungen mit antifaschistischen Gegendemonstrant_innen gekommen. Trotz der organisatorischen Schwäche scheint das Gewaltpotential unvermindert und Angriffe auf antifaschistische Veranstaltungen kamen in den letzten Jahren immer wieder vor.
Politische Nachwehen des Angriffs
Bei den Auseinandersetzungen am 15. Dezember 2013 wurden mehrere Personen verletzt, die Polizei nahm schließlich 26 Neonazis fest, gerade mal drei davon sitzen noch in Untersuchungshaft. Unter ihnen der 29jährige Emil Hagberg, eine Frontfigur der SMR und verantwortlicher Herausgeber der Internetseite Nordfront. Besonders pikant: die Säpo (Säkerhetspolisen, Pendant zum Verfassungsschutz) hatte im Vorfeld Informationen darüber gehabt, dass die SMR einen Angriff auf die Demonstration plante. Diese Information war aber irgendwo auf dem Dienstweg verloren gegangen, sodass die Polizei mit ganzen zehn BeamtInnen in Kärrtorp anwesend und ihre Rolle in den gewaltsamen Auseinandersetzungen entsprechend minimal war.
Nicht mal eine Woche später wurde der antifaschistische Aktivist Joel mit dem Vorwurf des versuchten Mordes festgenommen. Er sitzt seitdem im Gefängnis, der Kontakt zur Außenwelt wird ihm größtenteils verwehrt und sein kompletter Postverkehr überwacht. Obwohl Joel unbewaffnet war und seine eigene körperliche Unversehrtheit einsetzte um andere Menschen zu schützen, wird er unter Vorwurf des versuchten Mordes inhaftiert. Aus der Abwehr eines organisierten Neonaziangriffs wird hier eine versuchte Messerattacke. Die Angegriffenen selbst werden so zur Zielscheibe der Repressionsbehörden.
Neue Schritte in der politischen Auseinandersetzung
Eine Woche nach dem Angriff versammelten sich etwa 20.000 Menschen in Kärrtorp, um ein Zeichen gegen die zunehmende rechte Gewalt zu setzen. Es war die größte antifaschistische Kundgebung der schwedischen Geschichte, an der Kirchen, Gewerkschaften sowie unter anderem die Parteivorsitzenden der Sozialdemokraten und der feministischen Partei teilnahmen. Gleichzeitig wurde aus der radikalen Linken die Freilassung des Antifaschisten Joel gefordert. Aus dieser Initiative ist mittlerweile eine europaweit ausgerufene Solidaritätskampagne erwachsen, die es in Schweden jedoch nicht in die bürgerlichen Medien schafft.
Nach der großen Demonstration kehrte wieder der Alltag ein. Neonazischmierereien gibt es weiterhin und einem alternativen Theater werden immer mal wieder die Scheiben eingeworfen. „Nätverk Linje 17“ versucht, die Energie der großen antifaschistischen Demonstration aufzugreifen und arbeitet mit Seminaren und Veranstaltungsreihen weiter. Hier wird nun allerdings kaum mehr über antifaschistische Selbstverteidigung geredet – auch in Schweden ist Antifaschismus immer dann besonders mehrheitsfähig, wenn er sich unpolitisch gibt.
Repression gegen Antifaschist_innen in Schweden
Die Inhaftierung des Antifaschisten Joel ist der zweite staatliche Angriff auf die schwedische Antifaszene innerhalb weniger Monate. Erst Mitte November führte die Polizei eine Reihe von Hausdurchsuchungen im vermuteten Umfeld der Gruppe „Revolutionära Fronten“ durch. Angriffe auf Neonazi-Konzerte sowie Wohnungen und Eigentum organisierter Neonazis dokumentierte die Organisation und stellte die Videobeiträge ins Netz. Die Gruppe genießt daher einen hohen Bekanntheitsgrad auch außerhalb Schwedens, obgleich jene Praxis auch immer wieder für Diskussionsstoff sorgt, da sie eben ein nicht zu unterschätzendes Einfallstor für Repression darstellt.
„Revolutionära Fronten“ ist es durch die Artikulation einer konfrontativen politischen Linie zumindest gelungen, Konjunkturen rechter Organisierung nach außen zu vermitteln. Der Aufbau einer klaren konfrontativen Linie weist nicht nur auf die Existenz der Auseinandersetzung hin, sondern auch auf die Existenz neonazistischer Gruppen in Schweden. Deren Existenz und Strukturen werden staatlicherseits nicht nur überwiegend geleugnet, sondern sind auch außerhalb Schwedens nur den wenigsten Antifaschist_innen geläufig. Auch wenn es sich hier um zwei unabhängige Vorgänge handelte, so stehen beide Fälle in einem Zusammenhang: Den Widerstand gegen neonazistische Zusammenhänge durch staatliche Gegenschläge zu kontrollieren und zu regulieren.
UPDATE:
Am 29. April 2014 wurde der Antifaschist Joel wegen versuchten Mord zu 6 Jahren Haft verurteilt. Gegen das Urteil wurde Berufung eingelegt.
Aktuelle Infos findet ihr hier: https://www.facebook.com/freejoel