Bunt und entspannt
Sebastian FriedrichDie Ideologie des deutschen „Post-Nationalismus“
Es dürfte hierzulande wohl ausreichen, „vierundfünfzig“ zu sagen, um bei den meisten Menschen den gleichen Film zu starten: „Aus dem Hintergrund müsste Rahn schießen. Rahn schießt. Tor.“ 1954 durfte Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg erstmals wieder an einer WM teilnehmen — und wurde zum ersten Mal Fußball-Weltmeister. Der Triumph war Grundstein für den deutschen Nationalmythos der Nachkriegszeit. „Das Wunder von Bern“ war Balsam für die Seelen, denn „man war wieder wer“. Man war das Wohlstandswunder-Land mit Alleinernährer-Modell, in dem scheinbar alle im Sommer nach Italien fuhren, die Väter Samstagnachmittag ihre Autos wuschen — und viele einfache Arbeiter nicht zuletzt aufgrund des rassistisch segmentierten Arbeitsmarktes auf Kosten weitgehend prekär beschäftigter Arbeitsmigrant_innen aufstiegen. Es dominierte die Vorstellung von Deutschland als „nivellierte Mittelstandsgesellschaft“, in denen das Leben zwar etwas eintönig, der Wohlstand aber relativ vorhanden und die Arbeitsplätze samt Zukunftsplanungen sicher waren. Mit Politik und auch mit dem expliziten Bezug auf die Nation hatte man es freilich nicht so. Es lässt sich nicht so unbeschwert Fahneschwenken, wenn die Frage gestellt werden könnte, wo man denn so gut Schwenken gelernt habe. Alles in allem war es ein gediegener deutscher Fußball-Nationalismus: weiß, deutsch, männlich, spießig und verklemmt zurückhaltend.
Die WM 2006, als die „Welt zu Gast bei Freunden“ war, ist gewiss nicht die Geburtsstunde des heiteren Partypatriotismus. Geschwenkt wurde bereits 1990 eifrig, Public Viewing gab es im größeren Maße auch schon 2002, aber die WM im eigenen Land war zweifelsohne die Reifeprüfung für einen entspannten Umgang mit der Nation. Noch konnte dieser entkrampfte Nationalismus seine volle Kraft nicht entfalten. Der Nationalmythos war noch weitgehend frei von deutschen (Wirtschafts-)Großmachtphantasien, was wesentlich auf die sich zu diesem Zeitpunkt noch in der Krise befindende Wirtschaftskraft Deutschlands zurückzuführen sein dürfte. Auch war der Arbeitsmarkt noch nicht auf dem heutigen Niveau „reformiert“. Anders im Jahr 2014, in dem die goldene Generation endlich den Titel geholt und damit das Sommermärchen 2006 vollendet hat — und schon wird fleißig an einem neuen Nationalmythos gearbeitet.
Wenig überraschend wurde der WM-Sieg sofort verallgemeinert. In der Berliner Morgenpost betonte Hajo Schumacher am Tag nach dem WM-Sieg, dieser sei ein typisch deutsches Produkt, „zu verdanken dem Beharrungsvermögen einiger unerschrockener Köpfe“. Der Erfolg zeige: „Wer gut ist, der kann hier was werden, wenn viele daran glauben und mitarbeiten. Dieser Geist ist mehr wert als jede Trophäe.“ Es ist der neue Geist des deutschen Nationalmythos, der sich hier zeigt: Deutschland ist die Nation der Leistungsgesellschaft, in der alle alles schaffen können, sofern sie es richtig wollen. Die hier zum Ausdruck kommende Leistungsideologie ist kein Novum, doch nie in der Geschichte der Bundesrepublik war sie so eng verbunden mit dem nationalistischen Diskurs. Und noch nie in der Geschichte der Bundesrepublik befand sich Deutschland wirtschaftlich und politisch weltweit und vor allem in Europa in solch hervorragender Position.
Dazu passt, dass besonders die Bescheidenheit und der Respekt betont wird, mit dem das D-Team auftrat. Auf ZEIT ONLINE wurde das neue deutsche Selbstbewusstsein gefeiert, das so frei sei von Arroganz und Häme. Der Tanz einiger siegestrunkener DFB-Kicker, die bei der Ankunftsfeier am Brandenburger Tor die unterlegenen Argentinier verhöhnten, wurde rasch öffentlich skandalisiert. Was 2008 von teilweise den gleichen Spielern an gleicher Stelle vorgeführt wurde und seinerzeit niemanden empörte, schickt sich heute nicht mehr, denn der Respekt gegenüber den Unterlegenen ist Teil des neuen Nationalismus. Köpfe tätschelt man in der Regel von oben.
Hinzu kommt: Es sind nicht mehr nur typisch weiß-deutsche Brehmes, Völlers und Klinsmänner, die den Titel holten, sondern nun heißen die Helden auch Khedira, Boateng und Özil. Laut einem SPIEGEL-Titelbeitrag sei Deutschland auch deshalb so locker, weil wir ein buntes Volk seien, ein „modernes Einwanderungsland“. Der neue deutsche Nationalmythos hat die Realität der Einwanderungsgesellschaft in sich aufgenommen: Schwarz-Rot-Gold ist bunt.
Der deutsche Nationalismus nach 1945 hatte immer ein zentrales Problem: Was tun mit dem Nationalsozialismus? Die Problemlösungsstrategien waren dabei vielseitig und reichten von Leugnung über Schuldumkehr bis zu Relativierung. Bei allen Strategien war der Nationalsozialismus allerdings ein Dämpfer für den Nationalmythos, auf den reagiert werden musste. Der neue Geist nimmt hingegen die Nazi-Vergangenheit Deutschlands selbstbewusst in sich auf. Im SPIEGEL-Beitrag erfahren wir, dass kein anderes Volk der Welt „so grässliche Dinge angetan“ habe. Nur durch ein Komma getrennt, wird fortgefahren: „kein anderes Volk hat sich so schuldbewusst und intensiv mit der Geschichte seiner Verbrechen befasst“. Will heißen: Auschwitz ist singulär, die Bewältigung von Auschwitz ist es aber auch. Plusminusnull — die Rechnung ist beglichen. Der neue Geist ist geläutert und „antifaschistisch“.
Es zeigt sich noch ein weiteres Element. Zwar besteht Einigkeit darüber, dass Deutschland und die Deutschen auf einem guten Weg sind zu einem entspannten Nationalbewusstsein, aber an einem Punkt bräuchte es noch etwas Nachhilfe. ZEIT ONLINE meint, die Nationalelf habe den Deutschen voraus, dass sie wüsste, was sie wolle: „Den aufgeregten Debatten über die Euro- und Europapolitik, über den Umgang mit Russland oder die Auslandseinsätze der Bundeswehr fehlt manchmal das Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten. Wer sich dagegen bewusst macht, was er kann, und dann wie diese Spieler handelt, wird seine Fähigkeiten nicht leichtfertig einsetzen, sondern professionell.“ Noch deutlicher gauckelt es im SPIEGEL-Titelbeitrag. Im Gegensatz zu 1954 seien die Deutschen nun auch politisch selbstbewusst, fraglich sei nur, was wir damit machten. Die Kanzlerin wird als Vordenkerin hervorgehoben, denn sie denke „expansiv“, beispielsweise wenn sie auf europäischer Ebene strikt den „nationalen Interessen“ folgt und anderen Staaten ihre Politik nahelegt.
Der alte BRD-Nationalmythos war weiß, deutsch, männlich, spießig und verklemmt, der neue Geist ist leistungsorientiert, bescheiden, entspannt, bunt, geläutert und dominant. Der neue deutsche Nationalismus behauptet keiner zu sein, er ist post-nationalistisch. Müßig zu erwähnen, dass der neue Geist nicht darüber hinweg täuschen sollte, dass er nichts anderes als Nationalismus ist. Das Credo ist ein altbekanntes: Wir sitzen alle in einem Boot, alle packen mit an, um den Standort nach vorne zu bringen. Was Deutschland nützt, nützt allen — alle die Gesellschaft in Deutschland durchziehenden Macht- und Herrschaftsstrukturen werden auf diese Weise nivelliert. Damit erfüllt der neue Geist die klassische ideologische Funktion, aber er drückt sich anders aus und hat weniger zu tun mit dem (alten) völkischen Nationalismus, dafür viel mit (modernem) Standortnationalismus.
Der postnationalistische Nationalismus, der sich anhand der Reaktionen auf den WM-Titel abzeichnet, stellt Linke vor besondere Aufgaben. Die Auseinandersetzungen um überhebliche, siegestrunkene Tänze einiger Fußballspieler führen ebenso in eine Sackgasse wie das Ausrufen des #mobwatch bei Twitter, um nationalistische und rassistische Übergriffe in der Nacht des WM-Sieges aufzudecken. Der neue Geist kann entsprechende Vorwürfe leicht abblitzen lassen, denn er kann nicht zu ganz Unrecht behaupten, damit nix zu tun zu haben, denn seine Stärke besteht darin, die antifaschistische und antirassistische Kritik in sich aufgenommen zu haben. Der neue Geist des postnationalistischen Nationalismus ist nicht nur gegen die alte Kritik resistent, er kann sie für sich nutzen.