„Anarchie ist machbar, Herr Nachbar“
Paul HockenosPunks, Freigeister und Anarchisten in der DDR kämpften für den Wandel des Sozialismus. In Geschichtsbüchern liest man kaum etwas über sie. Der Text ist ein Auszug aus dem auf englisch erschienenen Buch von Paul Hockenos „Berlin Calling: A Story of Anarchy, Music, the Wall and the Birth of the New Berlin“ (The New Press, 2017), übersetzt von Lisa Dittmer und erstveröffentlicht in der TAZ vom 08. November 2017.
Als der 21-jährige Werkzeugmacher aus Quedlinburg Silvio Meier 1986 nach Ostberlin zog, kannte er dort fast niemanden. Er fand eine leer stehende Wohnung in der Friedrichshainer Bänschstraße. Wie viele Ostberliner Mietskasernen war die Einraumwohnung weder mit Bad oder Dusche, und statt Heizung mit Kohleofen ausgestattet. Was ihn beschäftigte, war die offensichtliche Ziellosigkeit der erdrückenden und politisch erstarrten DDR. Als Idealist träumte er von einem Wandel des Sozialismus, egalitärer und radikal-demokratisch sollte er werden — dass dieser Wandel weder aus der SED noch aus der Provinz heraus entstehen würde, war ihm klar.
Meier hätte sich natürlich nie vorstellen können, dass die Mauer drei Jahre später fallen und die DDR mit ihr gleich ganz von der Landkarte verschwinden würde, zusammen mit jedweder Möglichkeit eines wie auch immer gearteten Sozialismus in Ostdeutschland. Doch er und seine Mitstreiter*innen aus der anarchistisch orientierten Gruppe „Kirche von Unten“ (KvU) spielten eine zentrale Rolle bei den Ereignissen, die die DDR-Diktatur delegitimierten und ihren Sturz ermöglichten.
Nur liest man darüber nichts in den heutigen Geschichtsbüchern. Die Geschichte dieser Gruppe von Dissident*innen1
findet kaum Erwähnung in Mainstreamdarstellungen des Mauerfalls — zu Unrecht.
Ansprechpartner für unautorisierte Gigs
Über Bekannte hatte Meier erfahren, dass sich Wehrpflichtverweigerer, Punks und andere Außenseiter in einem Keller hinter der Berliner Erlöserkirche trafen. Vor dem Krieg hatte die Kirche eine Krankenstation im Professor-Fischer-Haus auf dem Gelände der Erlöserkirche betrieben. Eine Bombe der Alliierten hatte diese dem Erdboden gleichgemacht, übrig blieb nur ein Keller, der wahrscheinlich als Leichenkeller benutzt worden war. Als in den 1960er Jahren im Professor-Fischer-Haus mit der Jugendarbeit begonnen wurde, nannte man es auch Pro-Fi-Haus und den Keller Pro-Fi-Keller. Er bestand aus drei Räumen, von denen einer mit uralten Holzfässern zum Sitzen und Tischen und einer kleinen Bar versehen war.
Der Großteil der Aktivitäten der Ostberliner Untergrundbewegung spielte sich in den Räumen der protestantischen Kirche ab, die einen Balanceakt zwischen offener Opposition und pragmatischer Koexistenz mit dem Staat zu vollziehen versuchte. Der kleinste gemeinsame Nenner war die Verpflichtung auf die direkte Demokratie und zur permanenten Diskussion. Im Pro-Fi-Keller traf Meier auf Leute aus der der Punkszene, die unter Polizeiüberwachung standen und sich regelmäßigen Schikanen ausgesetzt sahen, wenngleich sich der Staatsapparat nicht traute, die Szene zu zerschlagen. Meier machte Bekanntschaft mit anderen, wie dem 23-jährigen Dirk Moldt, dessen Frustration über das System und Glaube an etwas Besseres mit Meiers Ideen im Einklang standen. Und er traf dort auf Speiche, einen landläufig bekannten Punk.
Meier selbst wurde ein Ansprechpartner für unautorisierte Gigs von Bands wie „Die Firma“, „Wartburgs für Walter“ oder „Antitrott“, die unter anderem über Faschismus in der DDR sangen, eines der vielen Tabuthemen im antifaschistischen Staat. In den ostdeutschen Clubs durften sie nicht spielen. Von 1986 bis Ende 1988 veranstalteten sie im Pro-Fi-Keller alle paar Wochen ein Nachtcafé, das sie „Nachtpott” nannten. Im „Nachtpott“ sprachen die Anarchos und anderen Aufbegehrenden über Politik, lasen und diskutierten anarchistische Traktate und planten Aktionen zur Bloßstellung des Regimes. Doch die Kellerräume der Erlöserkirche und die Handvoll ähnlich Unzufriedener waren ihnen nicht genug.
Verpflichtung auf die direkte Demokratie
„Wir wussten, wir brauchen unseren eigenen Freiraum, um etwas zu bewegen“, erklärt Moldt, der wie Meier in Teilzeit bei der Volkssolidarität arbeitete und Senioren heiße Mahlzeiten mit dem Fahrrad brachte. „Wir wurden von einer Kirche zur nächsten geschickt, aus Cafés rausgeschmissen. Es war unmöglich, die Gruppe zusammenzuhalten, geschweige denn irgendetwas dauerhaft in Gang zu setzen. Die Kirche war die einzige Institution mit dem nötigen Freiraum, doch nur eine Handvoll Pfarrer und Diakone war bereit, uns zu unterstützen. Dann brauchte es nur eine Meinungsverschiedenheit, und schon standen wir wieder auf der Straße.“
Die Kirche von Unten wurde im Frühjahr 1987 ins Leben gerufen, weil sich die Kirchenleitung für die Erlaubnis, einen Kirchentag in der DDR-Hauptstadt durchführen zu können, bereitfand, die Handlungsmöglichkeiten der Basisgruppen in der Kirche einzuschränken. Die Gruppe um Meier und Moldt, gestärkt durch Neuzugänge wie Kathrin Kadasch vom Friedrichsfelder Friedenskreis, steuerte die Gruppe in Richtung eines lebhaften Widerstands. Der Anarchismus hatte unterschiedliche Bedeutungen für sie. Meier und seine Mitstreiter*innen waren keineswegs in politische Theorie versunken. Sie alle kamen aus dem Handwerk, Moldt war gelernter Uhrmacher, Kadasch Erzieherin, Speiche Bäcker. Und Anarchismus war Tabu im dogmatischen DDR-Sozialismus.
Ende 1988 erhielten sie eigene Räume in der Sankt-Elisabeth-Kirche in der Invalidenstraße, zwei Büro-Räume und einen großen Saal. Ein neues Kapitel hatte begonnen. Gleich als erstes drückten sie den Räumen ihren Stempel auf. Die Wände wurden durchbrochen, schwarz/weiß gestrichen, die Fensterrahmen rot. Der Pfarrer der St.-Elisabeth-Kirche, ein ängstlicher Typ, war von Anfang an abgeneigt und machte keinen Hehl aus seiner Verärgerung über den Untergrundpunkclub, der in den Hinterräumen seiner Gemeinde entstanden war.
Erste Veranstaltung der KvU war eine umstrittene Benefizveranstaltung zugunsten der Opfer eines Erdbebens in Armenien. Umstritten, weil die DDR als sozialistischer Alliierter der Sowjetischen Republik Armenien eine derartige Veranstaltung gut und gerne selbst hätte sponsern können. Die Frage war: Was ist unsere Beziehung zum „real existierenden Sozialismus“? Die KvU-Truppe wollte einen besseren, direktdemokratischen Sozialismus — nicht leninistischen, demokratischen Zentralismus und auch nicht westliche Demokratie. Schlussendlich zogen sie ihren Armenien-Gig durch: Hungrige, obdachlose Menschen waren hungrige, obdachlose Menschen, ungeachtet der Beziehung der DDR zur Sowjetunion.
98,85 Prozent für die Einheitsliste
Als der Stein erst einmal ins Rollen gekommen war, gab es kein Halten mehr. Das Café und die Bibliothek der KvU öffneten ihre Türen, und ein Event folgte aufs andere: Lesungen, Sketchabende und situationskunstartige Happenings. Verbotene Punk- und Postpunkbands spielten regelmäßig. Aus Polen, Ungarn und der ganzen DDR reisten Bands an, um in der KvU aufzutreten.
Ein einschneidendes Datum war der 7. Mai 1989. Zu den Freuden der KvU gehörte eine Handvoll junger Dissidentengruppen, die die DDR-Kommunalwahlen als Chance sahen, das Regime bloßzustellen. Kirche von Unten, Friedenskreis Weißensee, die Umweltbibliothek und einige andere machten auf eine wenig bekannte Klausel im Wahlrecht aufmerksam, die der Öffentlichkeit das Recht einräumte, die Auszählung zu beobachten. „Das war ein Recht, das wir auf dem Papier hatten“, erklärt Silke Ahrens. „Viele von uns sahen es als Witz. Aber warum es nicht versuchen?“ In Mitte, Friedrichshain, Weißensee und Prenzlauer Berg hatten die Aktivist*innen mehr als hundert Leute am Start, zwei bis drei pro Wahllokal. Zur Überraschung aller durften die selbst ernannten Wahlbeobachter*innen tatsächlich bezeugen, wie die freiwilligen Wahlhelfer*innen die Ergebnisse auszählten. Alle Wahlbeobachter*innen kamen in der KvU mit ihren Resultaten zusammen. Die Zählung ergab, dass es zehn bis fünfzehn Prozent Gegenstimmen gegeben hatte. Der DDR-Wahlleiter Egon Krenz trat an diesem Abend vor die Fernsehkameras und verkündete ein Ergebnis von 98,85 Prozent für die Einheitsliste der Nationalen Front. „In dem Moment wussten wir, wir haben sie“, sagt Jolly, ein Sozialarbeiter aus dem Umfeld der KvU. Sie machten die Fälschung öffentlich, die Westmedien griffen das Thema auf: Die Wahl war manipuliert, die Resultate waren gefälscht, die Partei hatte gelogen.
Der Wahlbetrug und die Kampagne, die folgte, sorgten für einen dramatischen Profilgewinn der Oppositionsgruppen. Zudem bewies die Aktion, dass es möglich war, den Staat frontal anzugreifen — und zu gewinnen.
(Sivio Meier wurde 1992 von Neonazis ermordet. Mehr Infos unter dem AIB-Dossier "Der Mord an Silvio Meier").
- 1Wie auch die der jungen Aktivist*innen innerhalb und außerhalb der Leipziger Nikolaikirchengemeinde — erzählt in Peter Wensierskis Buch „Die unheimliche Leichtigkeit der Revolution“