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Zielobjekt Rechts - Wie die Stasi die westdeutsche Neonaziszene unterwanderte

Andreas Förster
Einleitung

Am Vormittag des 30. November 1982 öffnet sich eine elektrisch betriebene Tür der Haftanstalt im niedersächsischen Celle. Ein mittelgroßer junger Mann, 27 Jahre alt, tritt heraus. Er ist etwas füllig um die Hüften, hat ein rundes Gesicht unter kurzgeschnittenem dunklem Haar. Der Mann ist Michael Kühnen, der gerade eine vierjährige Haftstrafe wegen Volksverhetzung und Verbreitung von neofaschistischen Propagandamaterialien abgesessen hat. Im sogenannten Bückeburger Prozess 1978/79, dem ersten Strafverfahren in der Bundesrepublik, in dem Rechtsextremisten als Terroristen verurteilt wurden, war er mit der geringsten Strafe aller sechs Angeklagten davongekommen. Vor den Mauern der Justizvollzugsanstalt Celle I blickt sich Kühnen suchend um, dann entdeckt er ein Taxi mit Braunschweiger Kennzeichen. Kühnen geht zielsicher auf das Fahrzeug zu, steigt ein und fährt los. Irgendwann an diesem Tag wird er das Taxi in Hamburg wieder verlassen. Wie lange die Fahrt dauert, was in dem Auto besprochen wird und ob man vielleicht sogar eine Pause unterwegs einlegt, ist nicht bekannt. Nur das Kennzeichen des Taxis ist überliefert: BS-EK 528.

Das Kennzeichen steht in einem „Sachstandsbericht“ Lauschabteilung III der Staatssicherheit (Stasi) vom 10. Januar 1983. Den Bericht hatte am Tag darauf der damalige Leiter der Hauptabteilung (HA) III, Horst Männchen, dem stellvertretenden Stasi-Minister Generalleutnant Gerhard Neiber persönlich zugesandt, was die Bedeutung des Vorgangs unterstreicht. Gegenstand des Berichts war die „festgestellte Zusammenarbeit zwischen dem westdeutschen Verfassungsschutz und dem Rechtsextremisten Kühnen, Michael“, wie es in dem Begleitschreiben Männchens an Neiber heißt.

Demnach sei Kühnen am 30. November 1982, als er das Gefängnis in Celle verließ, in ein dort „auf ihn wartendes Kraftfahrzeug (gestiegen) …, das als Taxi kenntlich gemacht worden war“. Anhand des Kennzeichens konnte die HA III feststellen, dass es sich bei diesem Auto „nachweislich um ein Dienstfahrzeug des LfV Niedersachsen“ handelIn Berichten der war u.a. die „festgestellte Zusammenarbeit zwischen dem westdeutschen Verfassungsschutz und dem Rechtsextremisten Kühnen, Michael“ thematisiert worden.e, heißt es in dem Bericht weiter. Das Fazit des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS): „Aus dem Umstand, dass Kühnen nach mehrjährigem Aufenthalt in einer Haftanstalt bei seiner Entlassung unmittelbar Kontakt zum westdeutschen Verfassungsschutz findet, lässt sich der Schluss ableiten, dass er mindestens bereits während seiner Haft Kontakt zu Mitarbeitern des westdeutschen Verfassungsschutzes hatte. Möglicherweise war die mehrjährige Inhaftierung des K. dazu genutzt worden, ihn als Informanten oder für eine Zusammenarbeit in anderer Form zu gewinnen.1

Die Stasi-HA III berief sich in ihrem Bericht über Kühnens Taxifahrt auf eine „zuverlässige inoffizielle Quelle“. Damit umschrieb die Lauschabteilung gemeinhin Erkenntnisse, die sie aus abgehörtem Funk­verkehr und Telefongesprächen gewonnen hatte. Der Umstand, dass die HA III ihren Bericht erst gut anderthalb Monate nach der Entlassung Kühnens verfasste und an die MfS-Führung weitergab, weist zudem darauf hin, dass in der Zwischenzeit weitere Überprüfungen erfolgten, um die Stichhaltigkeit der Information zu überprüfen. Gut möglich, dass die HA III dabei auch Hilfe von der für Auslandsspionage zuständigen HVA erhielt, die zu dieser Zeit gleich zwei Agenten im Landesamt für Verfassungsschutz in Niedersachsen führte.

War Kühnen tatsächlich in der Haft mit dem Verfassungsschutz ins Gespräch gekommen und hatte sich ihm angedient? Einen Beleg dafür gibt es nicht.2  Der Publizist Werner Bräuninger schreibt in seiner Kühnen-Biographie, dass der bekennende Hitler-Verehrer in seiner Celler Haft Besuch von einem Beamten der Führungsaufsichtsbehörde Lüneburg mit Namen „Edelbüttel“ erhalten habe. In dem Besuch, der einige Monate vor dem geplanten Entlassungstermin stattfand, habe ihm „Edelbüttel“ eine vorzeitige Haftentlassung vorgeschlagen, wenn er denn seinen natio­nalsozialistischen Ideen abschwöre. „Das aber kam für ihn nach wie vor nicht in Frage. Eine vorgezogene Haftentlassung stand für ihn nicht im Vordergrund“, schreibt Biograph Bräuninger unter Berufung auf ein seinerzeitiges Schreiben Kühnens an seinen Anwalt.3  Das kann natürlich eine Schutzbehauptung Kühnens gewesen sein. Denn schon der Verdacht, die charismatischste und einflussreichste Führungspersönlichkeit der rechtsextremen Szene der 1980er Jahre habe sich im Gefängnis mit einem Verfassungsschützer unterhalten, wäre für Kühnens Position verheerend gewesen.

Auch dem MfS waren die Aktivitäten des Verfassungsschutzes zur Unterwanderung der rechten Szene in der Bundesrepublik nicht verborgen geblieben. In einer von der für die Überwachung der westdeutschen Rechtsextremisten zuständigen Abteilung XXII/1 im Oktober 1988 vorgelegten „Analyse des neonazistischen Potentials des Operationsgebietes“ heißt es, die Szene sei, „wie vorliegende Informationen sowie Äußerungen führender Politiker beweisen, in hohem Maße von Informanten gegnerischer Sicherheitsorgane durchsetzt. In der Abteilung XXII/1 liegen Hinweise zu 17 erkannten und 22 vermuteten V-Männern des Gegners vor.“4

Schon Ende der 1970er Jahre hatte die Stasi-Abteilung XXII/1 damit begonnen, ein Dossier über Kühnen anzulegen. Darin erhielt er den Decknamen „Hummel“, offenbar eine Anspielung auf sein zeitweise etwas pummeliges Äußeres. 1981 eröffnete die XXII zusätzlich den Operativvorgang OV „Hansa“, mit dem – so eine Stasi-­Einschätzung – der „intellektuelle Drahtzieher des neonazistischen Untergrundes der BRD“, der über „umfangreiche Verbindungen zu führenden Mitgliedern von rechtsextremistischen Terrororganisationen“ in Deutschland und ganz Westeuropa verfüge, sowie seine Organisation ANS aufgeklärt werden sollten.5  Allerdings gelang es dem MfS nie, einen eigenen Spitzel im näheren Umfeld Kühnens zu rekrutieren.

Bei der operativen Bearbeitung Kühnens und seiner ANS fiel der Abteilung XXII das lasche Vorgehen westdeutscher Sicher­heitsbehörden gegen „Hummel“ auf. So hatte er seit seiner Haftentlassung wiederholt gegen gerichtliche Auflagen – etwa Kontaktverbote zu Gesinnungsfreunden und ANS-Mitgliedern sowie eine unverzügliche Information der Behörde über Wohnsitzwechsel – verstoßen und in Interviews offen angekündigt, Verbindung zu neofaschistischen Organisationen in der Bundesrepublik aufzunehmen, um sie zu einer „Bewegung“ zusammenzufassen. Nicht zuletzt war Kühnen bei Festnahmen – etwa bei einem Treffen der wenige Wochen zuvor verbotenen ANS/NA in Westdeutschland sowie in Wien, wo er sogar eine Waffe bei sich führte – nach kurzer Zeit stets wieder freigekommen. „Obwohl die entsprechenden staatlichen Stellen der BRD davon Kenntnis erhielten, wurden gegen Kühnen keine Maßnahmen daraufhin eingeleitet“, wunderte sich die Stasi. „Diese Tatsache unterstützt die Vermutung, … dass Kühnen möglicherweise während seiner Haft oder unmittelbar danach durch den Verfassungsschutz der BRD als Kontaktperson angeworben wurde.“6

Auch der westdeutsche Rechtsterrorist Odfried Hepp nährte das Misstrauen in der XXII gegen Kühnen weiter. Hepp hatte Anfang 1982 den Kontakt zur Stasi gesucht und war nach dem Auffliegen seiner terroristischen Hepp-Kexel-Gruppe im Jahr 1983 nach Ostberlin geflohen, wo er bei der Stasi Unterschlupf gefunden hatte. „Friedrich“ – so sein Deckname beim MfS – machte bei der Stasi umfangreiche Aussagen über die rechte Szene der Bundesrepublik. Was die Kühnen-Organisation anbelangte, glaubte er an eine Unterwanderung durch die westdeutschen Behörden. „Zum eventuellen Zeitpunkt eines Verbots der ANS/NA schätzte der operative Kontakt ‚Friedrich’ bereits Anfang 1983 ein, dass die ANS/NA von gegnerischen Abwehrorganen mit V-Männern durchsetzt sei und die Existenz der ANS/NA davon abhängt, wann ihre Verbindungen und Hintermänner aufgeklärt sind“, notierte die Stasi im OV „Hansa“.7  Hepp alias „Friedrich“ verwies zudem auf die seltsamen Umstände, unter denen der ANS-Gründer im März 1984 über die Schweiz und Italien nach Frankreich geflohen war. Tatsächlich hatte Kühnen, obwohl gegen ihn eine Ausreiseuntersagung durch die deutschen Behörden vorlag, die Grenze zur Schweiz passieren dürfen. Allerdings erst, nachdem ihm westdeutsche Grenzbeamte eine Hakenkreuzfahne, Hitlers „Mein Kampf“ und weiteres Propagandamaterial abgenommen hatten.8

Im Oktober 1984 aber zog sich die schützende Hand über Kühnen – sollte sie denn tatsächlich existiert haben – wieder zurück: Die französischen Behörden schoben ihn nach Deutschland ab, nachdem er fünf Monate zuvor mit anderen ANS/NA-Aktivisten und ehemaligen SS-Leuten in Spanien ein "Europakomitee zur Vorbereitung des 100. Geburtstages von Adolf Hitler" gegründet hatte. Am Flughafen Köln/Bonn wurde er festgenommen und im Januar 1985 wegen Verbreitung neofaschistischer Propaganda zu einer Haftstrafe von drei Jahren und vier Monaten verurteilt.

Andreas Förster
Zielobjekt Rechts
Wie die Stasi die westdeutsche
Neonaziszene unterwanderte
Erschienen: Dezember 2018
Ausstattung: Broschur
Format: 12,5 x 20,5 cm
Seitenzahl: 264
ISBN: 978-3-86153-987-2

  • 1BStU, MfS AP 73204/92.
  • 2Das Landesamt für Verfassungsschutz in Niedersachsen konnte auf Anfrage keine Auskunft geben. Die Verfassungsschutzakten aus jener Zeit seien bereits vernichtet worden.
  • 3Werner Bräuninger: „Kühnen. Portrait einer deutschen Karriere“, 2016, S. 119
  • 4BStU, MfS HA IX, Nr. 1478, S. 233
  • 5BStU, MfS AOP 10921/88, Bd. 1, S. 156
  • 6ebd., S. 157
  • 7ebd., S. 161
  • 8BStU, MfS AOP 10921/88, Bd. 2, S. 33