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Antifa-Arbeit im Westhavelland: Dienstleistung statt Intervention

Sebastian Lange
Einleitung

Antifa-Arbeit im Westhavelland 20 Jahre nach dem Aufbruch.

Eine Szene aus den frühen 2000er Jahren: Rechte Jugendliche warten auf eine antirassistische Demonstration in Rathenow. Sie stehen vor einem Augenoptik-Geschäft. Ein Symbol - Rathenow ist "Stadt der Optik".

Ein von Geflüchteten aus dem branden­burgischen Rathenow verfasstes Memorandum, indem diese rechte Übergriffe beklagten und eine Evakuierung wünschten, sorgte im Februar 2000 für bundesweites Aufsehen. In der Stadt führte es zu wochenlangen Polizeieinsätzen und zur Organisierung in Bündnissen gegen Rechts. Doch 20 Jahre später bleibt von diesem Aufbruch nicht viel übrig. Im Gegenteil, alltäglicher Rassismus hat sich in der Bürgerschaft sogar verfestigt, während die Bereitschaft zur gesellschaftlichen Intervention gesunken ist.

Gewalt gegen Geflüchtete

Einfamilienhäuser, grüne Kleingärten, der nahe Wolzensee im Naturschutzgebiet bilden im Jahr 2000 in der Rathenower Wolzensiedlung das idyllische Kontrastprogramm zu einer aus grauem Stahlbeton errichteten, mit einem Metallzaun eingefriedeten und von einer Security mit z.T. neonazistischen Angestellten bewachten, fünfgeschossigen Wohneinrichtung für Asylsuchende. In diesem Heim sind zu dieser Zeit dutzende Geflüchtete aus mehreren Staaten auf engstem Raum untergebracht. Ihre einzige Abwechslung besteht aus Ausflügen ins Zentrum von Rathenow, welches zumindest die Möglichkeit sozialer Kontakte bieten. Doch offen empfängt sie die Kleinstadt nicht: Am 11. September 1999 wird ein 21- jähriger Inder von einem rechten Jugendlichen in Gesicht geschlagen, am 8. Januar 2000 ein 32-Jähriger aus dem Tschad von fünf Männern verprügelt. Am brutalsten trifft es jedoch einen 24-Jährigen aus Pakistan. Der junge Mann wird in der Neujahrsnacht zunächst von mehreren Neonazis durch die Stadt gejagt, in Höhe der Hauptpost überwältigt und anschließend so lange mit Schlägen und Tritten malträtiert, dass er anschließend in einer Klinik behandelt werden muss. Das sind nur Beispiele.Es sind Momente wie diese, welche bei Geflüchteten nicht nur physische Schmerzen, sondern auch ein tiefe psychische Zäsur hinterlassen. Denn der Ort, für den sie auf der Suche nach Schutz ihre Heimat aufgaben, konnte ihnen keine Sicherheit bieten.

Hilfeschrei zwang zum Umdenken

Erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik ergriffen daraufhin Asylsuchende selbst die Initiative und verfassten einen an die Landesregierung gerichteten und in den bundesweiten Medien beachteten Hilferuf. In diesem Memorandum baten die Asylsuchenden aufgrund der rechten Gewaltübergriffe in Rathenow, aber auch wegen ähnlicher Vorfälle in Potsdam, Belzig und Cottbus, um eine Evakuierung in ein anderes Bundesland. Doch reagiert wurde zunächst nur mit einer Erhöhung der Polizeipräsenz in der Stadt. Bis zu 70 Beamte der Landespolizei patrouillierten nun wochenlang zusätzlich in Rathenow, während dort zuvor höchstens zwei Streifenwagen pro Schicht unterwegs waren.
Die nachdrückliche Bitte der Geflüchteten um Evakuierung versinnbildlichte jedoch mehr als nur den Wunsch nach mehr Polizei. Sie war auch von einer tiefen Enttäuschung gegenüber einer Gesellschaft geprägt, welche sich weder schützend vor Menschen in ihrer Mitte stellte, noch sich empörte, als Blut durch die Straßen ihrer Stadt floss. Erst nach dem Memorandum begannen einzelne Parteien Stellung zu beziehen. Die SPD veröffentlichte eine Erklärung gegen Ausländerfeindlichkeit und Gewalt. Die PDS setzte einen zeitweiligen Ausschuss „Tolerante Stadt Rathenow“ in der Stadtverordnetenversammlung durch. Doch die Kritik an der Stadt wuchs weiter, als durch Interviews in einer Fernsehsendung der alltägliche Rassismus mancher Bürger offensichtlich wurde.

Erst dann rief die „Tolerante Stadt Ra­the­now“ ihre Einwohner zur Teilnahme an einer Lichterkette auf und bat um Unterstützung im Kampf gegen jede Art von Rassismus und Gewalt. Am 21. März 2000 beteiligen sich daraufhin knapp 1 000 Menschen an der bisher größten antirassistischen Kundgebung in der Stadt. Doch das abschließende Bild am Abend bestimmten wieder die am Rande versammelten Rechten, sie trampelten nach Abschluss der Veranstaltung die als Symbol der Toleranz aufgestellten Kerzen nieder und griffen antifaschistische Jugendliche an.

Antifa interveniert gegen Neonazis

Während Politik und Gesellschaft nun ihr Bekenntnis gegen Rassismus und Gewalt für ausreichend erachteten, blieb letztendlich nur die Antifa, welche sich danach ernsthaft mit der Gefahr der Neonazis in Rathenow auseinandersetzte.  Weitere antifaschistische Demonstrationen und Recherche-Publikationen brachten die Aktivitäten des neonazistischen Milieus immer wieder in den Fokus der Öffentlichkeit zurück. Selbst die Polizei attestierte in einem lokalen Präventionslagebild, dass die örtliche Antifa „rechtsgerichtete Kriminalität sehr genau beobachtet und in gut recherchierten Berichten zusammenfasst“.

Der Abzug der mit Neonazis durchsetzten Security von der Geflüchtetenunterkunft in der Wolzensiedlung im Jahr 2003 oder das Verbot der Kameradschaften „Hauptvolk“ und „Sturm 27“ im Jahr 2005 dürfte ohne die zuvor massive öffentliche Fokussierung durch antifaschistische Gruppen  so nicht möglich gewesen sein.

Formierung der Zivilgesellschaft

Zur Aktivierung einer breitgefächerten Zivilgesellschaft in Rathenow kam es hingegen erst Anfang 2006. Denn trotz entschiedener Verbotsmaßnahmen gegen führende Kameradschaften, blieb das neonazistische Milieu nicht nur weiterhin aktiv, sondern organisierte sich nun in der NPD neu und versuchte dadurch auch politischen Einfluss in der Kommunalpolitik zu erlangen. Ab 2006 fanden sich deshalb Vertreter der Stadtverwaltung und verschiedene Akteure aus Politik und Gesellschaft, darunter der Bürgermeister, Abgeordnete, ein Unternehmerverein, der Kreissportbund, das Kinder- und Jugendparlament sowie die Antifa Westhavelland zum Bündnis: „Rathenow schaut nicht weg – Rathenow zeigt Flagge für Demokratie und Toleranz“ zusammen. Gemeinsam wurden Veranstaltungen gegen Neonaziaufmärsche, Musikfestivals für Toleranz, Tage der Demokratie und Ähnliches organisiert. Zwar konnte der Einzug der NPD in kommunale Parlamente dadurch nicht verhindert, jedoch der Einfluss von Neonazis auf weite Teile der Gesellschaft, insbesondere auf Jugendliche, deutlich zurückgedrängt werden. Übergriffe durch neonazistische Gewalttäter verringerten sich sogar erheblich.

Die große Zäsur

Doch der Fokus auf den kleinsten gemeinsamen Nenner, den Kampf gegen die radikalsten Vertreter rassistischer Weltanschauungen, verhinderte jahrelang die Thematisierung von flüchtlings-, migranten- oder islamfeindlichen Einstellungen in bürgerlichen Parteien; Ressentiments, welche später eine Basis für PEGIDA und AfD bildeten. So sammelten im Jahr 2014 in Rathenow mehrere CDU-Mitglieder gemeinsam mit einem NPD Stadtverordneten Unterschriften gegen eine geplante Geflüchtetenunterkunft. Ein Stadtrat der Linken kam 2015 seinem Rauswurf aus der Fraktion durch Austritt zuvor, weil bekannt geworden war, dass er unter anderem bei einer flüchtlingsfeindlichen Demonstration eine Flagge der rechten „Identitären Bewegung“ schwenkte. Ab Oktober 2015 wurden Aktivitäten rechter Akteure aus dem bürgerlichen Lager schließlich sogar zum Massenereig­nis. Rassisten, Flüchtlings- und Islamfeinde versammelten sich nun wöchentlich als „Bürgerbündnis Havelland“ und hetzten gegen Muslime und Geflüchtete.

Diese Aufzüge wurden sogar so stark frequentiert, dass selbst die Teilnehmendenanzahl der großen Gegenveranstaltungen von „Rathenow zeigt Flagge“ stets übertroffen wurde. Von diesem Schock, nicht mehr für die Mehrheit in der Stadt zu sprechen, erholte sich das zivilgesellschaftliche Netzwerk nie wieder.

Dienstleistung statt Intervention

Unter dem neuen Namen: „Unser Rathenow – Miteinander, füreinander“ (URMF) und personell stark ausgedünnt, tritt „Rathenow zeigt Flagge“ heute nicht nur neutraler auf. Das Bündnis erscheint als verlängerter Arm der Stadtverwaltung, das kaum mehr gesellschaftlich interveniert, sondern nur noch soziale Dienste bietet.

„Toleranz fördern” und „Demokratie leben” bedeutet für URMF momentan vor allem  Gesprächsangebote zu organi­sieren, den Gedankenaustausch innerhalb der Bürgerschaft anzuregen, zwischen Verwaltung und Bürgern zu vermitteln und Debatten zu Problemen und Sorgen der Rathenower zu moderieren. In den bisherigen Dialogen war jeder willkommen, der sich an der Gestaltung der Kommune beteiligen wollte, auch Akteure des Bürgerbündnisses Havelland oder der AfD.

Eine klare Position gegen Rassismus und rechte Netzwerke wird dagegen nur noch in typischen Extremismusfällen bezogen, beispielsweise wenn der NPD Ortsverband rechte Schläger gegen Ausländer aufmarschieren lässt oder Hammerskins aus Rathenow in Budapest der SS gedenken.