Die Bewegung „Querdenken“ – Aspekte einer Zwischenbilanz
Keine andere politische Akteursgruppe hat die bisherige Zeit der Pandemie so stark dominiert wie „Querdenken“. Auf das Ausbleiben einer realen politischen Wirksamkeit folgte eine rapide Radikalisierung entlang verschwörungsnarrativer und extrem rechter Ideologieelemente.
Am ersten Novemberwochenende 2021 versammelte sich die „Querdenker“-Anhängerschaft in Leipzig mit der Hoffnung ihren Mobilisierungserfolg vom November 2020 wiederholen zu können. Anders als im vergangenen Jahr blieb der symbolische Erfolg diesmal aus. Nur rund zweitausend Anhänger_innen von „Querdenken“ konnten mobilisiert werden. Rund um den Augustusplatz lieferten sie sich Rangeleien mit der Polizei, griffen Pressevertreter_innen an, konnten sich jedoch nicht zu einem großen Demonstrationszug formieren. Im November 2020 sollen es um die 20.000 Teilnehmende gewesen sein, die auf dem Leipziger Innenstadtring demonstrierten. Ihre rhetorische und inhaltliche Bezugnahme auf die Montagsdemonstrationen des Herbstes 1989 lösten eine kontroverse Debatte über die Aneignung des ’89-Narrativs durch „Querdenken“ aus.
Nicht erst im Vorfeld der 2020er Demonstration in Leipzig hatten Vertreter_innen von „Querdenken“ zur Beschreibung der von ihnen wahrgenommenen gesellschaftlichen Situation in der Pandemie die Spätphase der DDR als zeitgeschichtliche Referenz herangezogen, um ihrem Protest historische Legitimität zu verschaffen. Wie im Jahr 1989 gelte es in der Pandemie gegen eine alle Bereiche des Lebens durchdringende Diktatur vorzugehen, die die individuellen und kollektiven Freiheitsrechte mit Füßen trete, und jene unter den Druck politischer Diffamierung und Verfolgung setze, die sich der angeblichen „Corona-Diktatur“ zu entziehen suchten. Entsprechend griffen „Querdenken“-Akteure auf Schlagworte des Herbstes 1989 zurück. In den ostdeutschen Ländern stieß dies auf Resonanz. Ein Sonderfall stellt Sachsen dar: Wie schon im Kontext der Mobilisierung gegen Geflüchtete in den Jahren nach 2015 tritt hier offensiver als andernorts ein rechter gesellschaftlicher Block auf, dessen Resonanz weit über den Kern des eigenen Milieus hinausreicht.
Neue ideologische Allianzen?
In den ersten Analysen der im Entstehen begriffenen Bewegung „Querdenken“ im Jahr 2020 war davon die Rede, dass sich dort ein neues politisches Lager formiere. Ebenso war von einer „Querfront“ die Rede. Diese Versuche der inhaltlichen Beschreibung von „Querdenken“ reagierten zunächst auf den äußeren Augenschein des Protests, die darauf schließen ließe, dass in diesem Fall einander diametral gegenüberstehende ideologische und habituelle Milieus gemeinsam gegen die Maßnahmen der Regierung mobilisierten: eher als „links“ apostrophierte Milieus, wie Teile des postmaterialistischen, ökologisch orientierten Bürgertums in direkter Interaktion mit Protagonist_innen aus der „Reichsbürger“- und Esoterikszene. Diese lagerübergreifende „Querfront“ stelle eine neue Qualität politischer Mobilisierung dar. Eine nähere Betrachtung lässt jedoch den Schluss zu, dass hier ein Zusammengehen einer Teilmenge politischer Strömungen und Protagonist_innen zu beobachten war, die bereits 2014 im Kontext der sogenannten „Friedensmahnwachen“ gemeinsam politisch auftraten. Zweifelsohne waren darunter Menschen, die sich zuvor in linken Kontexten bewegt hatten, in Bezug auf ihre Positionierung in der Debatte um die „Friedensmahnwachen“ linke Positionen jedoch immer weiter aufgegeben hatten. Eine „Querfront“ im historischen Sinne eines aktiven Zugehens vormals explizit linker Akteure auf rechts orientierte oder extrem rechte Milieus war nicht zu beobachten.
Im Gegenteil: Organisierte Linke distanzierten sich rasch von den erstmals im März 2020 durchgeführten sogenannten „Hygiene Demos“ und kritisierten den Auftritt verschwörungsnarrativer Gruppen deutlich. Statt von neuen ideologischen Allianzen ist bei „Querdenken“ von einer autoritären und regressiven politischen Strömung zu sprechen, die unter Einschluss von Elementen der extremen Rechten ideologisch durchaus einander verwandt sind. „Reichsbürger“, Esoteriker, rechte Ökologen, Anthroposophen, Verschwörungsideologen und militante Neonazis und Hooligans eint habituell auf den ersten Blick nicht allzu viel. Ihr Bindeglied ist vielmehr der jeweils szenespezifische Antisemitismus, die Affinität zu Rassismus und ihre anti-moderne und wissenschaftsfeindliche Deutung der gegenwärtigen multiplen Krisen des kapitalistischen Gesellschaftsmodells. Als „Lösung“ der Krisen favorisieren diese autoritäre Formierung und den Ausschluss von zuvor definierter Minderheiten an der materiellen Teilhabe.
Rechte Trabanten
Für die AfD und ihr rechtsintellektuelles Umfeld stellte „Querdenken“ in seiner Hochphase eine politische Herausforderung dar. Wie im Falle von PEGIDA erkannte man erneut eine gesellschaftliche Mobilisierung, die für die (extreme) Rechte mehr als nur Anknüpfungspunkte bot. Das „Compact“-Magazin, die AfD oder das „Institut für Staatspolitik“(IfS) beschäftigten sich damit, auf welche Weise „Querdenken“ für die eigene Agenda nützlich sein könne.
Am Sitz des IfS in Schnellroda überwog bei aller Sympathie für das Projekt am Ende die Skepsis, ob sich daraus Funken für eine Erweiterung der politischen Basis der extremen Rechten als Hegemonieprojekt schlagen lassen. Das „Compact“ Magazin widmete „Querdenken“ eine Sonderausgabe und eine wohlwollende Berichterstattung. Doch der Versuch der AfD, das Thema Pandemie und damit „Querdenken“ parteipolitisch im Wahlkampf so mobilisierend zu besetzen, wie es mit dem Thema Migration in den Jahren 2015/2016 geschah, misslang. Das Wahlergebnis der Partei „Die Basis“ - die als parteipolitischer Arm der „Querdenken“-Bewegung angetreten ist - vermochte jedoch weit weniger Wähler_innen an sich zu binden, als das mediale Echo, auf welches „Querdenken“ gestoßen war, die Partei hatte hoffen lassen.
Aufstieg, Differenzierung, Zerfall?
Der Aufstieg von „Querdenken“ selbst vollzog sich zunächst in Baden-Württemberg, wo die ersten Demonstrationen in Stuttgart stattfanden. Es folgten große Demonstrationen in Berlin, bei denen popkulturell performende Exzentriker_innen im Superman- oder Captain Future-Kostüm ebenso ihren Auftritt suchten, wie AfD-Bundestagsabgeordnete und militante Neonazis. Doch die Inszenierung einer Revolution vor dem Reichstagsgebäude und dem Brandenburger Tor scheiterte.
Wie nicht anders zu erwarten, brach danach innerhalb der Bewegung Streit aus: um Führung, politische Ausrichtung und nicht zuletzt um Geld und den Zugriff darauf. Die ausbleibende politische Selbstwirksamkeit der Bewegung führte dazu, dass sich manche frustriert zurückzogen, wieder andere ihre Aktivitäten in Telegram-Kanäle verlegten. Mehrere erneute Anläufe die Dynamik von „Querdenken“ zu beleben, schlugen fehl. Um den endgültigen Zerfall von „Querdenken“ zu konstatieren ist es zu früh. Unter den gegenwärtigen Bedingungen einer erneuten Zuspitzung der Pandemie und der Debatte um den künftigen Status von Ungeimpften bzw. den für sie zu erwartenden Einschränkungen, könnte die Mobilisierungsfähigkeit von „Querdenken“ wieder zunehmen. Die Wahrnehmung, in einer Diktatur zu leben, wird sich für Impfverweiger_innen absehbar verstärken, wenn für sie Einschränkungen der individuellen Freiheit zurückkehren, wie sie für den Lockdown kennzeichnend waren.
Radikalisierung
Denkbar sind daher Szenarien einer fortschreitenden Radikalisierung von Menschen, die vor dem Hintergrund des Ausbleibens messbarer politischer Erfolge nach neuen politischen Artikulationsformen suchen und dabei vor Gewalt nicht zurückschrecken. Der Mord von Idar- Oberstein, wo ein Maskenverweigerer einen Tankstellenangestellten tötete, weil dieser ihn auf die Maskenpflicht hinwies, kann als Indikator dafür angesehen werden, dass es ein Radikalisierungs- und Gewaltpotential gibt, welches nicht zwingend an die Mobilisierungsverläufe von „Querdenken“ gebunden ist, aber indirekt damit korrespondiert. Nicht zu vergessen all jene militanten Prepper, „Reichsbürger“ und andere extrem rechte Akteur_innen, die in den Corona-Maßnahmen der Regierung einen Indikator für die Degeneration des Staates sowie des Modells des weltoffenen Neoliberalismus sehen und die Zeichen der Zeit als Aufruf zum Bürgerkrieg interpretieren bzw. diesen herbeisehnen. Bekanntlich gibt es in den genannten Szenen keinen Mangel an Waffen.