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"Querdenker" - Selbstermächtigung, Staatsversagen und Radikalisierung

Chronik.LE (Leipzig)
Einleitung

Am 7. November 2020 fand in Leipzig mit mehreren zehntausend Teilnehmenden eine der größten Versammlungen der Corona-Leugner-Szene statt und wurde zum Höhepunkt der von "Querdenken" angestrebten „Selbstermächtigung“. Zugleich offenbarte sich eine zunehmende Radikalisierung der Proteste und ein Versagen sächsischer Behörden im Umgang damit.

Foto: Presseservice Rathenow

Rechte Hooligans bei einer "Bürger-Demonstration" gegen Corona-Schutzmaßnahmen in Leipzig.

Kurz nach Einführung der ersten Corona-Schutzmaßnahmen im März 2020 demonstrierten bundesweit Menschen gegen die Einschränkungen in ihrem Alltag. Auch in Leipzig protestierte eine lose Gruppe schon frühzeitig und bediente sich dabei diffuser Aktionsformen von "Tanzdemos" über "Spaziergänge", "Open-Mics" und "Meditationen". Trotz vielfältiger Ansätze für berechtigte Kritik, wie der Einschränkung von Grundrechten oder der ungleichen Beschränkung des öffentlichen Lebens, wurden bei diesen Veranstaltungen von Beginn an vor allem Verschwörungsideologien und Antisemitismus verbreitet.

Weithin war auch bei den Protesten in Leipzig ein fehlender Mindestabstand zur (extremen) Rechten feststellbar: So fungierte Marko Zschörner, Inhaber des „Bushido Sportcenter Leipzig“ und MMA-Trainer bekannter neonazistischer Gewalttäter1 , als eine Ansprechperson für die Polizei der ab April stattfindenden „Ignorance Meditations“. Zusätzlich begleiteten lokale Verschwörungsideologen wie der YouTuber Hans-Joachim Müller und das Medienunternehmen NuoViso-TV die Aktionen propagandistisch und verschafften ihnen bundesweite Öffentlichkeit.

Trotz verschiedener aktiver Personenzusammenhänge kristallisierte sich in Leipzig ein Ableger von „Nicht ohne Uns“ als zentraler Protestakteur heraus. Die Gruppe benannte sich später in „Bewegung Leipzig“2 um und nahm im September 2020 den Zusatz „Querdenken 341“ an. Einerseits griffen die Protagonist_innen auf die schon seit LEGIDA bekannte Strategie einer Protesttour durch das Leipziger Umland zurück, andererseits intensivierten sie ihre Kontakte ins bundesweite Querdenken-Netzwerk: Mit Nils Wehner meldete eine zentrale Person der „Bewegung Leipzig“ am 29. August 2020 eine Veranstaltung in Berlin an. In Leipzig tritt er als Moderator, Redner und Anmelder in Erscheinung.

Der Anwalt Ralf Ludwig, der "Querdenken" bundesweit in juristischen Auseinandersetzungen vertritt, kommt wiederholt als Redner nach Leipzig. Mit „Klagepaten“ betreibt er darüber hinaus ein lukratives Geschäftsmodell zur Durchsetzung von Einsprüchen gegen verschiedene Corona-Maßnahmen.

#le0711: Selbstermächtigung und Staatsversagen

Nachdem bundesweite "Querdenken"-Proteste im Oktober 2020 in Berlin nur noch knapp 2.000 Teilnehmende mobilisierten, rechneten aufmerksame Antifaschist_innen nach Beginn des „Lockdown-Light“ Anfang November 2020 für die angekündigten Proteste in Leipzig mit einer fünfstelligen Zahl an Teilnehmenden. Auch die Versammlungsbehörde schloss sich dieser Einschätzung an und beauflagte die Kundgebung daher auf die Neue Messe am Stadtrand, wo die Einhaltung von Abständen zum Infektionsschutz theoretisch möglich wäre. Hatte die Argumentation vor dem Verwaltungsgericht in Leipzig noch Bestand, so kippte das Oberverwaltungsgericht Bautzen diese Entscheidung und erlaubte eine Kundgebung auf dem zentralen Augustusplatz für 16.000 Personen.

Auf ihren Ansteckern, Schildern und Transparenten verbreiteten diese vielfach antisemitische Verschwörungsideologien und Geschichtsrevisionismus. Redner auf der Bühne setzten die Corona-Gesetzgebung mit dem Ermächtigungsgesetz von 1933 gleich und verglichen Maskierungsregeln mit antisemitischen Zwangsmaßnahmen der NS-Zeit. Wie schon bei vergangenen Großveranstaltungen der "Querdenker" wird die Weigerung eine Maske zu tragen und Abstandsregeln zu achten zur Performance kollektiver Selbstermächtigung, der große Teile der Teilnehmenden folgen.

Seitens der Organisator_innen waren zentrale Personen der Corona-Leugner-Szene wie Nils Wehner, Stephan Bergmann, Bodo Schiffmann, Anselm Lenz und Markus Haintz vertreten. Bei den Protesten fanden sich bekannte Verschwörungsideolog_innen und rechte Medienschaffende wie Attila Hildmann, Sven Liebich, Martin Lejeune, Jürgen Elsässer, Ilia Tabere ("Elijah Tee") und Miriam Hope ein. Auch die Mitglieder der sächsischen AfD Jörg Dornau und Albrecht Harlaß sowie der ideologische Hintermann des völkischen „Flügels“ Götz Kubitzschek nahmen teil.

Als die Kundgebung nach drei Stunden wegen fehlender Masken und Abstände polizeilich aufgelöst wurde, begannen zugleich Versuche eine Demonstration auf dem Innenstadtring durchzusetzen. Damit versuchten die Organisator_innen und Demonstrierenden gezielt an die historischen Montagsdemonstrationen des Jahres 1989 anzuknüpfen. Der Aufruf für den 7. November 2020 lief unter dem Motto „zweite friedliche (R)Evolution“ und auch das Szenario eines „spontanen“ und unangemeldeten Marsches auf dem Ring hatte der Anmelder Nils Wehner bereits im Vorfeld gerechtfertigt. Direkten Bezug auf die 1989 durchgeführten Ringdemonstrationen nahmen letztlich auch Redner_innen wie die Kommunalpolitikerin Heike Oehlert (ehem. Freie Wähler, stellvertretende Bürgermeisterin Zwenkau) und der Pfarrer i.R. Christoph Wonneberger (ehemaliger Koordinator Friedensgebete). Durchgesetzt wurde der Marsch schließlich durch gewalttätige Hooligans, Kampfsportler und Neonazis. Gemeinsam mit anderen "Querdenkern" trieben diese die wenigen Beamt_innen vor sich her und machten damit den Weg frei. Bundesweit angereiste Vertreter der extremen Rechten hatten sich schon frühzeitig auf dem Versammlungsplatz eingefunden. Ihre Anwesenheit zeigt den Stellenwert der Mobilisierung nach Leipzig: Udo Voigt, Stefan Trautmann, Patrick Wieschke (alle NPD), Paul Rzehaczek, Maik Schmidt (beide „Junge Nationalisten“), Michael Brück, Sven Skoda, Kevin Gabbe (alle „Die Rechte“), Enrico Böhm (ehem. NPD), Rick Wegner3 , Alexander Kurth (ehem.: NPD, „Die Rechte“, „Thügida“, Republikaner; jetzt: „Ungetrübt Media“), Pierre Bauer, Arno Niederländer, Tim Kühn, Yves Rahmel (ehemals Geschäftsführer „PC Records“), Chris Junghänel („Kaotic Chemnitz“), Fabian N. und Benjamin B. („Imperium Fighting Team“).

Vor den teils koordinierten Angriffen, teils chaotisch wirkenden Durchbruchsversuchen zog sich die Polizei schließlich weitgehend vom Innenstadtring zurück. Im Umfeld der Demonstration kam es immer wieder zu gezielten Angriffen auf politische Gegner_innen und Journalist_innen.

#2111: Radikalisierung der "Querdenker"

Beflügelt von der erfolgreichen Durchsetzung der Demonstration mobilisierte eine den "Reichsbürgern" nahestehende Fraktion des Corona-Leugner-Spektrums zu einer Folgedemonstration am 21. November 2020. Aufgrund von Gegenveranstaltungen wurde diese jedoch verlegt und durch Absperrungen sowie konsequente Vorkontrollen für die Teilnehmenden sichtbar unattraktiv. Doch auch nach dem Abbruch dieser Kundgebung demonstrierten Corona-Leugner “spontan” in der Leipziger Innenstadt.

Neonazis griffen Gegendemonstrant_innen und Polizeikräfte an. Allein der zahlenmäßig größere Gegenprotest konnte die Demonstrationsversuche durch Blockaden stoppen. Unter den Teilnehmenden waren diesmal u.a. die verschwörungsideologischen YouTuber Nikolai Nerling ("Der Volkslehrer") sowie Martin Lejeune und Anne „Anni“ Höhne, der verurteilte Mörder Rick Wegner sowie die vormaligen Mitglieder des „Flügels“ der AfD Hans-Thomas Tillschneider und Jens Maier.

Trotz der rückläufigen Teilnehmendenzahl ist eine weitere Radikalisierung des Protestspektrums zu beobachten. Straßenkampf erprobte Neonazis finden zunehmend ihre Rolle im arbeitsteiligen Vorgehen der Querdenken-Proteste. Unterstützt werden diese neuerdings vom eindeutigen Bekenntnis Björn Höckes und seiner UnterstützerInnen in der AfD zum „Protest auf der Straße“. In der Partei offenbart diese Strategie der Fundamentalopposition mal wieder die tiefe Zerrissenheit von der Basis in die Führung.

Die "Querdenken"-Bewegung und ihre organisatorischen Vorläufer verbreiten mit ihrer facettenreichen Leugnung der Gefahren von COVID-19 ein zutiefst regressives, insbesondere antisemitisches, geschichtsrevisionistisches und sozialdarwinistisches Weltbild. Bestehende rechte Narrative des "Reichsbürger"- und Selbstverwalter-Spektrums fügen sich hier ebenso bereitwillig ein, wie die Vorstellung eines bevorstehenden “Tag X”.

(Die Dokumentations- und Rechercheplattform "chronik.LE" dokumentiert und veröffentlicht seit über 10 Jahren zu faschistischen, rassistischen und anderweitig diskriminierenden Ereignissen in Leipzig und Umland. Anfang Januar 2021 erschien ihre neue Broschüre „Leipziger Zustände 2021“, zu beziehen über: chronikle.org)

  • 1Im „Bushido Sportcenter“ trainier(t)en u.a. Brian E., Jonas F. und Martin K. (beteiligt am Connewitz-Überfall 2016) sowie Johannes H. (beteiligt am rassistischen Angriff auf einen Türsteher im Mallorca 2019).
  • 2Die „Bewegung Leipzig“ demonstrierte deutschlandweit mit anderen lokalen Corona-Leugnern.
  • 3Richard "Rick" Wegner (aka "Richard Houdershell") ist ein verurteilter Mörder. Seit seiner Entlassung lebt er in Deutschland und war in rechten Gruppen aktiv. Am 29. August 2020 ist er u.a. mit Christoph Zloch ("Chris Ares") und Kai Naggert ("Prototyp") beim „Sturm“ auf die Reichstagstreppe dabei.