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Polen: Leid und Sterben im Grenzstreifen

Christian Jakob
Einleitung

Es war eine Sprache der Entmenschlichung und aus ihr folgte eine ebensolche Politik: Von einer „hybriden Attacke“ hatten zuerst Polen, dann Deutschland und die EU gesprochen, als ab August 2021 zunehmend Geflüchtete über Belarus nach Europa kamen. In einem regelrechten nationalistischen Rausch schickte die konservative Regierungspartei PiS daraufhin eine fünfstellige Zahl Angehöriger des Militärs und der „Territorialverteidigung“ genannten Staats-Miliz an die Grenze.

Foto: Kancelaria Premiera; WOT; flickr.com, CC BY-NC-ND 2.0

Dazu warf sie eine Propagandamaschine an, die ihresgleichen sucht: In Polen kann man von allen Postfilialen im Land umsonst Dankesgrüße an die Einsatzkräfte an der belarussischen Grenze verschicken. Die polnische Zentralbank kündigte an, eine eigene Banknote zur „Verteidigung der Ostgrenze“ zu drucken. Es gab Dank-Musik­festivals für die Grenzschützer:innen und Propagandaberichte im TV mit Bildern von Truppenbesuchen mit Ministern in Tarnjacken.

Wegen der „Repression gegen die Zivilgesellschaft“ in Belarus hat die EU die 2020 verhängten Sanktionen gegen das Lukaschenko-Regime immer weiter verschärft. Mit der Öffnung der Fluchtroute, so kann man vermuten, wollte Lukaschenko nicht nur eine Aufhebung dieser Sanktionen erreichen, sondern möchte sich die Rückkehr zur alten Grenzabschottung aus Brüssel bezahlen lassen.

Wer sich dem Grenzgebiet nähert, ­bekommt eine harsche Nachricht aufs Handy: „Die polnische Grenze ist abgeriegelt“, erscheint in englischer Sprache. „Die Behörden von Belarus haben Sie angelogen. Gehen Sie zurück nach Minsk.“ Dazu ein Link zur Regierungswebseite. Hier wird vor „Gefängnis“ und „Lebensgefahr“ gewarnt. „Nach Polen zu kommen wird ihnen nicht dabei helfen, Deutschland zu erreichen“ steht dort in fünf Sprachen.

Seit August 2021 hat Polens Grenzpolizei nach eigenen Angaben über 35.000 Pushbacks, gewaltsame Zurückschiebungen, durchgeführt. Mindestens 10.000 Menschen schafften es dennoch aus Belarus über Polen nach Deutschland. Die meisten stammten aus Syrien und dem Irak. Mindestens 14 Geflüchtete starben in dem Grenzstreifen, unter weitgehend ungeklärten Umständen. (Stand Ende 2021)

Nicht wenige glauben, das zu den Opfern dieses Erpressungsversuchs auch Teile des EU-Asylrechts zählen werden. Denn Ende November 2021 kündigte die EU-Kommission einen Sondermechanismus an, der Lettland, Litauen und Polen erlaubt, Asylschnellverfahren direkt an der Grenze durchzuführen und Asylsuchende dafür – bei gekürzter Versorgung – bis zu 16 Wochen zu internieren. Wessen Antrag abgelehnt wird, den dürfen sie „vereinfacht und schneller“ abschieben. Grund sei eine „Notlage“ der drei Staaten durch die Flücht­lingsankünfte aus Belarus.

Notlage? Die drei Länder haben in der Vergangenheit praktisch überhaupt keine Flüchtlinge aufgenommen. Wie viele zuletzt in Polen ankamen, hat die Regierung nicht veröffentlicht. Die Zahl dürfte sich lediglich im vierstelligen Bereich bewegen.

Bei dem angekündigten Sondermechanismus soll es indes nicht bleiben. Im Dezember 2021 kommen zwei Reformen der Schengen-Vorschriften hinzu. Die sollen Möglichkeiten schaffen, künftigen Fällen „einer politischen Instrumentalisierung von Migranten zu begegnen“. Alle 27 EU-Staaten sollen künftig die Rechte von Flüchtlingen noch weiter einschränken dürfen, wenn eine Fluchtroute geöffnet wird, um der EU zu schaden – wie es zuletzt der belarussische Präsident Lukaschenko oder 2020 der türkische Präsident Erdoğan taten. Der Begriff „Instrumentalisierung“ wird dabei bewusst dehnbar gehalten worden sein. Anders als man denken könnte, ist Polen mit den aus Brüssel angedachten Verschärfungen keineswegs glücklich.

Den speziell für den Konflikt mit Belarus gedachten Sondermechanismus wies die Regierung in Warschau als „kontraproduktiv“ zurück, weil darin weiter die Prüfung von Asylanträgen vorgesehen ist. Asylverfahren müssten stattdessen gänzlich eingestellt werden, sagte Polens EU-Botschafter.

Viele Be­woh­ne­r:in­nen des Grenzstreifens zwischen Polen und Belarus sehen das anders. Gemeinsam mit Aktivistin:nnen antirassistischer polnischer Netzwerke – vor allem der Grupa Granica und der Stiftung Ocalenie – leisten sie seit Monaten praktische Hilfe vor Ort. Dabei werden sie immer wieder behindert. Mitte November 2021 veröffentlichten die Bewohner des Dorfes Białowieża deshalb einen dramatischen Appell: „Da wir uns in einem Ausnahmezustand befinden, können wir nicht auf Hilfe von außen zählen, wir haben keine medizinische oder mediale Unterstützung“, schreiben sie. Sie seien mit einer Situation völlig alleingelassen worden, die „alles übersteigt, was wir uns vorstellen konnten“. Trotzdem wollten sie den Bedürftigen helfen, vor allem, weil sich aufgrund der Kälte die Todesfälle häuften. „Wir kennen diesen Wald besser als die Uniformierten, die aus ganz Polen hierherkommen, und wir wissen, dass es unmöglich ist, in diesem Wald zu überleben“, schreiben sie weiter. Menschen dort dem Tod zu überlassen, sei eine „Straftat, unmenschlich und inakzeptabel“. Sie selbst wollten „keine passiven Beobachter sein“ und „keine Leichen in unseren Wäldern sammeln“. Vom Staat fordern sie, nicht behindert zu werden. Die Bereitstellung humanitärer Hilfe verstoße nicht gegen die Regeln des Ausnahmezustands. Was sie ansehen müssen, belaste sie. „Der psychologische Druck, das tägliche Funktionieren in einem Klima des ‚Krieges‘, die dramatischen moralischen Entscheidungen, vor denen wir stehen, machen auch uns zu Opfern dieser Situation“, schließen sie ihren Appell. „Was wir jetzt erleben, wird in uns bleiben und nicht mit dem Abzug der Armee verschwinden.“

Die deutsche Regierung hat an all dem keinen Anstoß genommen, im Gegenteil. Der Sprecher des scheidenden Innenministers Horst Seehofer (CSU) schrieb auf Twitter, Polen handele „seit Wochen an der Grenze zutiefst europäisch“. Deutschland stehe „fest an der Seite Polens.“ Ende November war Polens Ministerpräsident Mateusz Morawiecki bei Angela Merkel. Die übernahm die Formel von der „hybride Attacke“ und drückte Polen ihre „volle Solidarität“ aus. Als absolutes Minimum hätte Merkel Morawiecki drängen können, wenigstens humanitäre Hilfe auf polnischer Seite zuzulassen: Beheizte Schlafzelte, Essen, Wasser, Ärzt:innen. Doch davon war keine Rede.

Und so setzte sich das Leid in dem Grenzstreifen weiter fort. Was dort genau geschah, ist kaum zu dokumentieren – Helfer:innen und Medien ist der Zugang versperrt. Eine der wenigen Ausnahmen ist Hanna Machińska, die polnische Vizekommissarin für Menschenrechte. Sie dürfe über das, was sie gesehen habe, nicht alle Informationen weitergeben, sagt sie gegenüber dem Portal T-Online. Doch es gebe „Hunderte von Beispielen“, die zeigten, wie angespannt die Situation dort sei. Eines davon: „Wir haben von einer jungen Mutter im Grenzgebiet erfahren, die einen Schwamm ausgewrungen und das schmutzige Wasser mit dem Milchpulver für ihr Kind vermischt hat. Sie wusste, was sie tat: Es war der sichere Tod für das Baby, aber sie konnte nicht anders, das Kind hatte Hunger.

Auch andere berichten Grauenvolles. Mitte November meldet das Polnische „Zentrum für Internationale Hilfe“, das Ärz­t:in­nen zu den Flüchtenden in die Wälder schickt: „Um 2.26 Uhr erhielten wir eine Nachricht, dass mindestens eine Person, die sich jetzt im Wald aufhält, ärztliche Hilfe benötigt. Vor Ort stellte sich heraus, dass drei Personen verletzt wurden. Sie waren 1,5 Monate im Wald!“ Um 6.04 Uhr twittern die Ärzt:innen: „Der junge Mann hatte starke Bauchschmerzen. Er war hungrig und dehydriert. Außer ihm brauchte ein syrisches Ehepaar Hilfe. Der Mann hatte eine Schnittwunde am Arm, die Frau eine Stichwunde am Unterschenkel. Ihr einjähriges Kind starb im Wald.“ Das Kind wäre der dreizehnte bekannte Todesfall. Woher stammen die „Stichwunden“? Woran genau sterben die Menschen in den Wäldern im Osten Polens? Offizielle Angaben gibt es dazu kaum. Ob die Gewalt durch polnische oder belarussische Grenzschützer für einige Todesfälle relevant war, weiß niemand.

Müssten schon die Pushbacks selbst und die daraus ­folgende Unterkühlung und Entkräftung juristisch als Todesursache gelten? „Wir glauben, dass hier Verbrechen gegen die Menschlichkeit im Sinne des Völkerstrafrechts vorliegen könnten“ sagt die Juristin Marta Górczyńska. Sie arbeitet für die Helsinki Foundation in Warschau. Für Verbrechen gegen die Menschlichkeit ist der ­Internationale Strafgerichtshof (IStGH) ­zuständig. Seit Monaten beobachtet Górczyńskas Gruppe die Situation an der Grenze und dokumentiert die Menschenrechtsverletzungen. Die Beweise werden an die Ankläger des IStGH weitergeleitet. Der müsste dann wiederum ein Ermittlungsverfahren einleiten Aber das sei „noch ein weiter Weg“, sagt Górczyńska.