NIUS & Co: „Erbärmlicher Populismus“
Gekürzter Reprint von Frederik Mallon (volksverpetzer.de). Ergänzt und erweitert vom AIB. (Gastbeitrag)Ein CDU-Chef lügt über die Zähne von Migrant:innen und ein Ex-BILD-Chef produziert dazu passende Fake-News.
CDU-Chef Friedrich Merz leistete sich im „WELT-Talk“ einen faktenfernen Fail und rückt damit seine Partei im politischen Diskurs weiter nach rechts. An der folgenden Aussage ist fast alles falsch: „Wenn die sehen, dass 300.000 Asylbewerber abgelehnt sind, nicht ausreisen, die vollen Leistungen bekommen, die volle Heilfürsorge bekommen, die sitzen beim Arzt und lassen sich die Zähne neu machen und die deutschen Bürger nebendran kriegen keine Termine“.
Bereits im September 2022 übernahm Merz das Wording der NPD, als er Geflüchtete aus der Ukraine als „Sozialtouristen“ diffamierte. Im Januar 2023 bezeichnete er in einer Talkshow von Markus Lanz arabischstämmige Schüler als „kleine Paschas“ und im Juli öffnete er die Tür für eine Zusammenarbeit mit der rechtsextremen AfD auf kommunaler Ebene. Merz wiederholt also gerne und häufig (extrem) rechte Narrative und stellt dabei seine politische Haltung über die Faktenlage. Doch geht es hier nicht nur um Lügen über die Zähne von Migrant_innen. Hinter den Statements von Merz steckt ein Versuch der Diskursverschiebung nach rechts, der die Tür für die AfD weit aufmacht.
Tatsächlich lebten mit Stand Ende Juni 2023 laut Bundesinnenministerium 279 .098 ausreisepflichtige Personen in Deutschland, von denen allerdings 224.768 eine Duldung besaßen. Das heißt, es lag ein pragmatischer Grund vor, sie nicht abzuschieben. Bleiben von den 300.000 noch 54 .330 übrig. Dazu kommt, dass nicht alle Ausreisepflichtigen abgelehnte Asylbewerber_innen sind, wie von Merz suggeriert. Blickt man also nur auf die Menschen, die sich um Asyl in Deutschland beworben haben, abgelehnt wurden und nun ausreisepflichtig sind, sinkt die Zahl laut Bundesinnenministerium auf 13. 784. Das sind dann nur noch 4,6 Prozent der von Merz ausgedachten 300. 000. Im Asylbewerberleistungsgesetz steht: Eine Versorgung mit Zahnersatz erfolgt nur, soweit dies im Einzelfall aus medizinischen Gründen unaufschiebbar ist. Erst, wenn Asylbewerber_innen länger als 18 Monate in Deutschland sind, werden sie rechtlich mit Sozialhilfeempfänger_innen (§2 AsylbLG) gleichgestellt. Das heißt, selbst von den 13.784 können nur einige im Notfall zum Zahnarzt gehen – die Zahl sinkt noch weiter.1
Konservative und rechte Politiker*innen lieben es, sich mit Forderungen nach Abschiebungen in den Medien zu profilieren. Des Beifalls von rechts können sie sich dabei genauso sicher sein wie der weitreichenden Empörung. Mit Hilfe dieser Empörung machen Rechte und Konservative wie CDU-Chef Merz aus politischen Debatten emotionale Streitigkeiten, denn sie wissen, dass Fakten und Argumente nicht auf ihrer Seite stehen.
Das zeigt sich dann, wenn Rechte nach großspurigen Ankündigungen die Macht übernehmen und abliefern müssen, wie etwa in England, als sie den Brexit tatsächlich umsetzen mussten. Auch die (post)faschistische italienische Regierungschefin Giorgia Meloni kann die Fluchtrealität nicht einfach ändern. Wem dieser Diskussionsstil dagegen hilft, ist die AfD. Merz eröffnet das diskursive Spielfeld, auf dem die AfD am besten spielen kann.
Fake-Nius aus Kreuzberg
Für „Nius“, die rechte Wutbürger-Seite um Ex-„BILD“-Chefredakteur Julian Reichelt, war die Zahnarzt-Lüge nicht zu dick aufgetragen. Ein faktenschwacher Text wird zusammengestaucht auf eine Bildkachel, die ein Foto lachender Männer zeigt mit der Schlagzeile: „Danke, Deutschland!“ Wir haben uns die Zähne machen lassen.
Die Text-Bild Montage ist nicht nur widerlich, sondern schlicht falsch. Die gezeigten Personen haben sich nicht „die Zähne neu machen lassen“. Sie hatten eine Routinebehandlung aufgrund akuter Zahnschmerzen. Dass einige eine Zuzahlung für die Zahnbehandlung geleistet haben, bleibt unerwähnt. Keiner von ihnen sagt, dass er wegen der guten Zahnversorgung nach Deutschland gekommen ist. Dass Merz von abgelehnten Asylbewerbern sprach, die eigentlich ausreisen müssten, ist „Nius“ auch egal. Hauptsache Ausländer. Das Bild lässt sich so besser in der Rassisten-Blase teilen und kann von „Nius“ auf Facebook, Instagram und Telegram weiterziehen.
Der „Nius“-Beitrag ist anonym veröffentlicht. Autor Stefan Niggemeier von Übermedien und „BILDblog“ weist in seinem Newsletter darauf hin, dass im HTML-Code Philippe Fischer als Autor angegeben ist. Ein Absolvent der "Axel Springer Akademie", der zu „Nius“ wechselte. Als Chefredakteur verantwortet Jan David Sutthoff, ein selbsterklärter „Feelgood-Leader“, die Inhalte.
Das NDR-Medienmagazin „Zapp“ besuchte die Flüchtlingsunterkunft, vor der der „Nius“-Reporter die gezeigten Männer aufgegabelt hat. Die Leiterin des Wohnheims stellt im Beitrag klar: „Im Grunde wurden die Leute missbraucht“ (...) „Denen wurden die Worte im Mund umgedreht.“
Das rechte Medienportal „Nius“ wird von einem Milliardär (mit) finanziert und vereint(e) Julian Reichelt mit weiteren Autor*innen gleich hohen Sympathie-Levels, wie Jan Fleischhauer, Judith Sevinç Basad, Anabel Schunke, Giovanna Winterfeldt oder Jan Aleksander Karon. Unterstützt wird die selbsternannte „Stimme der Mehrheit“ vom CDU-nahen Milliardär Frank Gotthardt. „Nius“ soll übrigens wie "News" ausgesprochen werden - aber halt auf Deutsch - schlauer wird es an dieser Stelle nicht. Nach dem Vorbild USA („Fox News“) wird hier nicht „nur“ überspitzt, sondern auch mal gelogen.
Rome Medien GmbH
Fassen wir zusammen: Ein vermögender, einflussreicher Journalist - eingebettet und verpimpelt in der herrschenden Oberschicht - spielt sich als „Stimme des Volkes“ oder „Stimme der Mehrheit“ auf, ist dabei aber exklusiv sozial abgesichert und ausgestattet mit etablierten Kontakten in Politik und Wirtschaft. Nach seinem Karriereende bei „BILD“ betrieb Reichelt zunächst einen Youtube-Kanal („Achtung, Reichelt!“) und die Medienplattform „Pleiteticker“. Reichelts Vorbild bei „Achtung, Reichelt!“ war hierbei offenbar der US-amerikanische Tucker Carlson vom "Alt-Right"-nahen Sender „Fox News“.
Zur "Stimme des Volkes" gehörte bei Reichelt etwa die Fürstin und Unternehmerin Gloria von Thurn und Taxis und zu seiner Redaktion viele ehemalige „BILD“-Redakteure. Beim Projekt „Pleiteticker – Vom Achtung, Reichelt! Team“ tauchten einige Autor*innen auf, die zudem auch bei „Apollo News – Das unabhängige Jugendmagazin für den freien Westen“ zu finden waren. Ein Blog, der sich mit dem "neurechten" Medienformat „Tichys Einblick“ um Nachwuchsjournalist*innen bemühte. Das Medienunternehmen „Rome Medien“ hinter "Pleiteticker" & Co war Reichelt’s Unternehmen.
Mit wechselndem Personal zur Volksverhetzung?
Von 2017 bis 2022 war Reichelt „BILD“- Chefredakteur, ab März 2022 Geschäftsführer der Produktionsfirma „Rome Medien GmbH“. Es folgten YouTube-Format und „Pleiteticker“. Mit „Nius“ ging der geschasste „BILD“- Chef im Sommer 2023 an den Start. Seit dem Abgang von Chefredakteur Sutthoff im Oktober 2023 gibt es mehrere „Mitglieder der Chefredaktion“. Auch „Focus“-Kolumnist Jan Fleischhauer, der ursprünglich ab September 2023 eine Late-Night-Show namens "Fleischhauers Welt" moderieren sollte, löste seinen Vertrag bereits wieder auf.
Zunächst war „Rome Medien“ noch standesgemäß in Berlin-Charlottenburg ansässig, zog dann aber mit Anzeige im Handelsregister vom November 2022 nach Berlin-Kreuzberg um.2 Die Adresse der Redaktion im „Nius“-Impressum (Rome Medien GmbH) wechselte zwischenzeitlich von der Lobeckstraße zur Ritterstraße, verweist aber auf den gleichen Kreuzberger Gewerbekomplex mit dem „Nius“-Redaktionssitz in einem Co-Working-Space ("Aqua-Höfe"). Direkt über dem Nachtklub „Ritter Butzke“ soll sich laut „kress - der Mediendienst“ Reichelt‘s Firma als Untermieterin der „CompuGroup Medical“ eingemietet haben.
Das würde zumindest passen, denn hinter dem Konzern steckt wohl auch der Medienunternehmer Gotthardt. Als Herausgeber fungiert inzwischen nicht mehr die „Rome Medien GmbH“, sondern die Firma „VIUS SE & Co. KGaA“, die Gotthardt über eine eigens gegründete Aktiengesellschaften kontrollieren soll. Daneben ist er an drei Fernsehsendern beteiligt. Parallelen zum US-Sender "Fox News" des Milliardärs Rupert Murdoch liegen also nicht nur politisch auf der Hand.
Dass Reichelt und seine Kollegin Judith Sevinç Basad keine Freunde von LGBTI* und politischen Forderungen nach Trans-Rechten sind, zeigen sie deutlich: In einem Kommentar bezeichnete Reichelt die Regenbogenflagge als Symbol einer „politischen Bewegung“ und fabulierte von deren „totalitären Ideologie“. Die gemeinsame Abneigung ist mitunter justiziabel: Das Landgericht Frankfurt (Pressekammer, Fall 2-03 O 149/23) verurteilte Reichelt‘s Unternehmen bereits im März 2023, weil in dessen Blog Judith Sevinç Basad eine trans Frau vorsätzlich misgenderte. Die neuesten Ermittlungen wegen Volksverhetzung gegen „Nius“-Mitarbeitende sind wegen eines transfeindlichen Films („Trans ist Trend“) eingeleitet worden, zumindest der Anfangsverdacht der Volksverhetzung scheint hier wohl gegeben zu sein.
Mehr Hintergründe:
www.queer.de: Gericht: Unternehmen von Julian Reichelt darf trans Frau nicht misgendern, 22. März 2023
www.taz.de: Rechtes Medienportal „Nius“: Grundprinzip verdrehte Fakten, Malene Gürgen, 18. Juli 2023
www.queer.de: Berliner Polizei sieht bei Reichelt und Basad Anfangsverdacht wegen Volksverhetzung, Jeja Klein, 19. Juli 2023
www.uebermedien.de: Demagogen-Portal „Nius“ - Verhetzen, verunglimpfen, verachten, Stefan Niggemeier, 9. Oktober 2023
ZAPP - Das Medienmagazin: NIUS-Kontroverse, 11. Oktober 2023
- 1volksverpetzer.de: „Darum lügt Friedrich Merz über die Zähne von Migranten“ von Frederik Mallon, 28. September 2023 www.volksverpetzer.de/aktuelles/merz-luegt-zaehne-migranten
- 2Anfang November 2023 findet sich im Handelsregister eine neue „repräsentative“ Geschäftsadresse am Kurfürstendamm in Berlin Charlottenburg, die sich "Rome Media" mit über 70 Firmen teilt. Denn dort befinden sich zum Teil „Virtuelle Büros“ zur Miete mit „Supportteam“, die „Post- und Telefonservice“ anbieten, und ein „matchoffice“ wirbt mit dem Hinweis: „Wenden Sie sich jederzeit auch vertrauensvoll an uns, wenn Sie einen Firmensitz mit Eintrag ins Handelsregister brauchen.“