Ungarn: Auslieferungsandrohung treibt Menschen in den Untergrund
Busl/Eder/Elberling/Elster/Friedrich/Hoffmann/Kostik/Onken/Pietrzyk/Richwin (Gastbeitrag)Drohende Auslieferung von Antifaschist_innen nach Ungarn. Eine aktualisierte Pressemitteilung der Rechtsanwält*innen Anna Magdalena Busl, Britta Eder, Dr. Björn Elberling, Maik Elster, Alexander Hoffmann, Yasemin Kostik, Gerrit Onken, Kristin Pietrzyk und Sven Richwin.
Angesichts des laufenden Auslieferungsverfahrens gegen einen jungen Menschen, dem die Beteiligung an Angriffen auf Neonazis in Budapest im Februar 2023 vorgeworfen wird, und angesichts der mit erheblichem Aufwand betriebenen Fahndung nach weiteren Beschuldigten sehen wir uns als Verteidiger_innen gezwungen, uns an die Öffentlichkeit zu wenden.
Initiiert durch das Landeskriminalamt (LKA) Sachsen, wird seit dem vergangenen Sommer die sensationslüsterne Meldung verbreitet, mehr als 20 Linksextremisten seien zurzeit untergetaucht, es bestehe eine aus dem Untergrund agierende Gruppe, die aus der antifaschistischen Bewegung unterstützt werde. Die Aktionsformen dieser Gruppe hätten sich radikalisiert, es sei nicht auszuschließen, dass Menschen zu Tode kämen. Eine Öffentlichkeitsfahndung durch das sächsische LKA läuft.
Ganz davon abgesehen, dass es in keinem der bislang bekannten Fälle zu einem gezielten Tötungsversuch gegen angegriffene Neonazis gekommen ist, zeigen diese offensichtlich immer wieder lancierten Meldungen, dass es den sächsischen Strafverfolgern in erster Linie darum geht, ein falsches Bild von angeblich aus dem Untergrund agierenden Antifaschist_innen zu zeichnen und damit gleichzeitig legal arbeitende antifaschistische Gruppen als „Unterstützersumpf“ zu kriminalisieren. Dass dabei auch immer wieder eine mögliche neue RAF heraufbeschworen wird, rundet dieses Bild ab. Das Ziel ist offensichtlich, eine antifaschistische „Terrorzelle“ zu propagieren und damit Repressions- und Ermittlungsmöglichkeiten gegen die gesamte linksradikale Bewegung als mutmaßliche „Unterstützer“ zu legitimieren.
Hintergrund: Im Februar 2023 wurden am Rande einer nationalsozialistischen Gedenkfeierlichkeit in Budapest mehrere Neonazis angegriffen und verletzt. Die ungarische Polizei nahm mehrere Personen fest. Zunächst wurden drei Personen in Untersuchungshaft genommen. Die festgenommene ungarische Staatsbürgerin musste nach einiger Zeit freigelassen werden, weil es keinerlei belastende Indizien gegen sie gibt. Eine italienische Staatsbürgerin sowie ein deutscher Staatsbürger sitzen seitdem in Ungarn in Untersuchungshaft.
Gegen eine größere Anzahl weiterer Personen wird sowohl in Deutschland als auch in Ungarn wegen der Taten in Budapest ermittelt und es liegen von Ungarn ausgestellte Europäische Haftbefehle gegen diese Personen vor. Zurzeit sitzen in Italien und in Deutschland (Dresden) jeweils ein_e Antifaschist_in in Auslieferungshaft, die nationalen Gerichte, hier das Berliner Kammergericht, müssen entscheiden, ob eine Auslieferung nach Ungarn zulässig ist.
Die Staatsanwaltschaft in Budapest und das Landeskriminalamt Sachsen entwerfen in ihren Ermittlungen eine wilde Konstruktion: die angebliche kriminelle Vereinigung um Lina E. sei verantwortlich für die Angriffe in Budapest. Konkrete Beweise für die Begehung der vorgeworfenen Taten durch eine kriminelle Vereinigung wurden bislang nicht vorgelegt (...) Die mageren Ermittlungsergebnisse, die der Verteidigung der Beschuldigten vorgelegt wurden, geben wenig her. Unter rechtsstaatlichen Bedingungen könnte einem Ermittlungsverfahren wegen gefährlicher Körperverletzung gelassen entgegengesehen werden.
Zwischenzeitlich hatte sich das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) im Dezember 2023 an Angehörige von in diesem Zusammenhang gesuchten Personen gewandt und eine „Vermittlung“ angeboten. Der Verteidiger einer gesuchten Person nahm daraufhin Kontakt auf und fragte nach, welche Art von Unterstützung durch das BfV erfolgen könnte, machte aber auch klar, dass eine Zusammenarbeit, ein Geständnis oder gar eine Kooperation der Gesuchten nicht in Frage käme. Das BfV nahm daher zur Generalstaatsanwaltschaft Dresden Kontakt auf und versuchte einen Deal – Zusicherung der Verweigerung der Auslieferung nach Ungarn gegen Stellung in Deutschland – anzuregen. Die Generalstaatsanwaltschaft Dresden hat hierauf bislang nicht reagiert und betreibt weiter das Auslieferungsverfahren, obwohl sie das Verfahren in Dresden führen und aus diesem Grunde die Auslieferung ablehnen könnte.
Das ungarische Justizsystem entspricht nicht rechtsstaatlichen Standards. Einfachste rechtsstaatliche Selbstverständlichkeiten werden in Ungarn nicht eingehalten, die Untersuchungshaft kann beinahe nach Belieben ausgedehnt werden und die Haftbedingungen verstoßen eklatant gegen menschenrechtliche Standards.
Dies führte in anderen Fällen dazu, dass deutsche Oberlandesgerichte die Auslieferung nach Ungarn verweigerten. Die ungarische Justiz zeigt mit ihrem Vorgehen gegen die beiden seit Februar 2023, also seit einem Jahr, in Untersuchungshaft sitzenden Antifaschist_innen, dass hier eine rein politische Strafverfolgung vorliegt. Ihnen wurden von der ungarischen Staatsanwaltschaft Haftstrafen zwischen 3,5 und 11 Jahren angedroht. Ein politisch motiviertes Strafverfahren gegen Antifaschist_innen entspricht der ungarischen Regierungspolitik. Eine Chance auf ein rechtsstaatliches Verfahren haben unsere Mandant_innen in Ungarn nicht. Es darf keine Auslieferungen an das autoritäre Ungarn geben! Wir fordern die zuständigen Generalstaatsanwaltschaften Dresden und Berlin auf, einer Auslieferung nach Ungarn eine dauerhafte und verlässliche Absage zu erteilen und das Strafverfahren in Deutschland zu führen!
Nachtrag von RA Maik Elster und RAin Kristin Pietrzyk (Jena/Leipzig)
Im Januar 2024 wurde in Deutschland das Auslieferungsverfahren in Bezug auf Maja T. eingeleitet. Nachdem zunächst unklar blieb, welche Generalstaatsanwaltschaft – Dresden oder Berlin – für dieses Verfahren zuständig ist, wurde am 09.01.2024 durch die Generalstaatsanwaltschaft Berlin beim Kammergericht als erster Schritt ein Antrag auf Anordnung der Auslieferungshaft für Maja T. gestellt. Grundlage des Auslieferungsverfahrens ist hierbei ein von den ungarischen Behörden erlassener Europäischer Haftbefehl, der die in Ungarn erhobenen Vorwürfe sowie das angedrohte Strafmaß noch einmal detailliert auflistet. Das Kammergericht Berlin gab den Rechtsanwälten von Maja T. Gelegenheit, binnen einer Woche zum Antrag der Generalstaatsanwaltschaft Stellung zu nehmen. Mit Schriftsatz vom 16.01.2024 geschah ebendies. In diesem wurde ausführlich dargestellt, dass weder die Voraussetzungen für die Anordnung einer Auslieferungshaft vorliegen noch die Auslieferung selbst zulässig ist. Abgestellt wurde dabei im Wesentlichen auf die Haftbedingungen in Ungarn, die gegen die Europäische Menschenrechtskonvention verstoßen, fehlende bzw. nicht belastbare diesbezügliche Zusicherungen Ungarns, die Gefahr eines rechtsstaatswidrigen Verfahrens sowie weitere Umstände, aus denen zu schließen ist, dass das Strafverfahren in Deutschland zu führen ist. Eine Entscheidung oder eine irgendwie geartete Positionierung durch das Kammergericht Berlin steht derzeit noch aus.
Die Bilder der bereits in Ungarn inhaftierten - wie sie an Ketten wie schwierige Hunde in den Gerichtssaal geführt werden - zeugen deutlich, dass in Ungarn kein Strafverfahren zu erwarten sein wird, in dem AntifaschistInnen eine menschenwürdige Behandlung erfahren. Die rechtspopulistische ungarische Regierung hat die Justiz bereits soweit auf Linie gebracht, dass gegen Antifaschistinnen mit übermäßiger Härte vorgegangen wird. Unabhängig von den Tatvorwürfen, würde ein ernsthaftes „Nie wieder“ auch bedeuten,
die Auslieferung von Menschen in protofaschistische Systeme zu verhindern.
Nachtrag der Redaktion (Juni 2024)
Ungarns Justiz hat die italienische Antifaschistin Ilaria S. nach ihrer Wahl zur Abgeordneten des EU-Parlaments aus dem Hausarrest in Budapest entlassen. 489 Tage nach ihrer Verhaftung wurden Mitte Juni 2024 nach einem richterlichen Beschluss ihre Fußfessel entfernt und sie konnte nach Italien zurückkehren.
Das Berliner Kammergericht hat am 27. Juni 2024, entschieden, dass Maja nach Ungarn ausgeliefert werden soll. Ohne dass der Anwalt oder Majas Familie darüber informiert wurden, wurde Maja binnen kürzester Zeit nach dieser Entscheidung am 28. Juni gegen 04:00 Uhr in einer Nacht- und Nebelaktion aus der Zelle geholt und nach Österreich gebracht, wo eine Übergabe an die österreichischen Behörden zum Zwecke des Weitertransports nach Ungarn erfolgte. Damit wurde durch die Generalstaatsanwaltschaft Berlin, das LKA Sachsen und insbesondere die Soko LinX ganz bewusst das Ziel verfolgt, Majas Recht auf eine Verfassungsbeschwerde und damit die Chance auf eine Verhinderung der Auslieferung zu umgehen. Auch schnelle solidarische Reaktionen sollten dadurch torpediert werden.
Am Vormittag des 28. Juni 2024 um 10:50 Uhr hat dann das Bundesverfassungsgericht auf einen Eilantrag von Majas Anwälten hin eine einstweilige Anordnung erlassen, dass die Auslieferung gestoppt werden müsse, bis die von Majas Anwälten einzureichende Verfassungsbeschwerde geprüft worden ist. Maja wurde wohl aber schon um 10:00 Uhr den ungarischen Behörden übergeben. Die Anordnung kam also etwa eine Stunde zu spät und die Soko LinX hatte ihr Ziel erreicht: Den Beschluss des Bundesverfassungsgerichts zu umgehen und durch die Entführung Majas Tatsachen zu schaffen.
Sämtliche Behörden (JVA Dresden, LKA Sachsen, Berliner Generalstaatsanwaltschaft) verweigerten der Familie jegliche Infos bezüglich des aktuellen Aufenthaltsortes von Maja. Stattdessen mussten sie in der Presse davon lesen, dass Maja bereits vor mehreren Stunden Richtung österreichisch-ungarische Grenze gebracht wurde.
(https://www.basc.news/auslieferung-von-maja-nach-ungarn-statement-basc/)