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Lothar König – ein Nachruf

Katharina König-Preuss (Gastbeitrag)
Einleitung

Beim Schreiben wurde mir bewusst: Ein Nachruf auf Lothar kann nur lückenhaft sein. Auf einen Menschen, dessen ganzes Leben gefüllt von Protest gegen Unrecht, Glauben und für eine bessere Welt war. Und voller Musik. Ohne die er, wie er selber immer sagte, nicht durchgehalten hätte. Der sich über Vogelzwitschern und Sonnenstrahlen freute, um nur Sekunden später voll Überzeugungskraft andere mit- und rauszureißen, aus Erschöpfung, Hoffnungslosigkeit, manchmal auch Mutlosigkeit.

Lothar König
(Bild: Familie König-Preuss)

Bereits als kleines Mädchen, mit ihm durch die Stadt laufend, registrierte ich die abwertenden Blicke. Lange Haare und Bart, er eckte an. Ich verstand es nicht. Für mich war er der Vater. Lothar, bei dem ich abends mit im Arbeitszimmer saß, in einer Runde von Frauen und Männern. Ich verstand nicht, weswegen sie saßen, Köpfe zusammensteckten, manchmal erhitzt oder sehr besorgt sprachen, immer Papiere dabei. 

Ich wusste, dass er manchmal fort war, weil Treffen in Berlin anstanden. Mit der „Kirche von unten“. In meinem Kopf trafen sie sich dort in dunklen Räumen, redeten und rauchten konzentriert. Manchmal, wenn er nicht zum verabredeten Zeitpunkt nach Hause kam, stand ich im Dunkeln am Fenster meines Zimmers und hoffte hinaus, wenn ein Auto zu hören war. Er kam immer zurück, meist Unmengen lila-blau bedruckte Papiere im Wartburg dabei. Jugendliche, Leute aus den Bunawerken und Kirche sortierten, andere verteilten. Wichtige Papiere. Wichtige Gespräche. Wie wichtig wusste ich damals nicht. Aber ich war stolz auf ihn.

Umso unverständlicher waren mir die abwertenden und abstößigen Blicke. Ich fragte ihn, ob die Menschen aufhören könnten, ihn so böse anzuschauen. Er antwortete, ich solle zurückschauen, mitten in ihre Augen, nicht blinzeln, das würden sie nicht aushalten, sie würden unsicher. Also schaute ich diese Menschen an. Alle. Mitten in ihre Augen. Und fühlte, als ob ich ihn beschützte. Er hatte recht, sie senkten ihre Blicke. Andere begannen zu lächeln, das Abwertende verschwand. Nicht die abwertenden Blicke prägten mich, sondern seine Antwort darauf: Zurückschauen. Die Blicke durchbrechen, standhaft bleiben.

„Ich weiß ja nicht, was ihr macht, aber ich nehme jetzt meine Kerze und gehe damit auf die Straße. Wer will, kann mir ja folgen“, soll er am 23. Oktober 1989 im Dom in Merseburg gesagt haben. Hunderte folgten. Unsere Mutter lief mit uns Kindern im hinteren Teil der Demonstration, an der Stasizentrale vorbei. Angespannte Stille und mittendrin mein kleines schnell klopfendes Herz, dass allen zurufen wollte, dass der, dem sie da folgten, mein Vater ist. Der, der so oft so abwertend angeschaut wurde, war der, der den Mut hatte, trotz auch eigener Unsicherheit voranzugehen. 

Voran ging er auch in der von ihm sogenannten Neuzeit. Als weder Stadtgesellschaft noch Verantwortungstragende zuhören und glauben wollten, die Berichte über rechte Gewalt als übertrieben, standortschädigend, polarisierend abtaten und diejenigen als Problem ausmachten, die nicht schwiegen. Lothar glaubte Antifaschist*innen. Medien berichteten, dass er begann, die Übergriffe ernst zu nehmen, nachdem ich das erste Mal von Neonazis zusammengeschlagen wurde. Es stimmt nicht. Er brauchte weder die verletzte Tochter noch die Söhne dafür, die spielten, als ein Backstein durchs Fenster flog. Der blutende Punk, durch Neonazis halb totgeprügelt, glühende Zigaretten, ausgedrückt im Halsbereich, die Berichte, jeden Dienstag in der Inforunde der „Jungen Gemeinde“ (JG) Stadtmitte gesammelt, waren erschreckend überzeugend genug. Er nahm sie ernst. Ebenso wie die Berichte über Polizisten, die Antifas zusammenschlugen. Er glaubte uns. Die Narben blieben zwar, aber mit und in der JG konnte die Gewalt verarbeitet, aus der Ohnmacht entwichen werden. Mal mit Aktionen, mal mit Demos, immer aber weil es möglich war und Raum geschaffen wurde, um darüber zu sprechen, Angst und Wut zu teilen, zu spüren, nicht allein zu sein und gemeinsam dagegen vorzugehen.

Stunden saß ich vor einem leeren Blatt. Was soll ich, was kann ich über einen Menschen schreiben, dessen Leben nicht nur auf mich, sondern auf zahlreiche Menschen, vielleicht sogar in Teile der Gesellschaft wirkte. Wie anstrengend er sein konnte. Wie wütend ich manchmal war, wie oft wir aneinandergerieten, auch weil er immer wieder zum Widerspruch, zu Diskussion und zu Kritik aufforderte. Wie er teils das Patriarchat verkörperte und parallel junge Frauen ermutigte. Uns unterstützte, „kickern“, die Männerdomäne der frühen 90er Jahre aufzubrechen. Räume für unsere Frauen-Antifa zur Verfügung stellte, nachdem uns die „große“ Antifa mitteilte, dass wir zu „klein“ seien. Wir, vierzehn und wenige Jahre älter. Wie er, 1994, früh gegen zwei Uhr nachschaute, ob ich wach sei, weil unsere antifaschistische Frauenaktion starten sollte. Und wach blieb, bis ich zurück war, um zu fragen, ob es mir gut gehe.

Wie oft ich Angst hatte um ihn, weil er nicht aufhören konnte, etwas ihn nicht aufhören ließ. Nicht, wenn es gefährlich wurde. Nicht, wenn erneut eine Anklage kam, die nächste Hausdurchsuchung. Nicht, wenn sie ihn zusammenschlugen – mehrere Male musste ich, teils festgehalten von Neonazis, zusehen, wie sie auf ihn einschlugen. Aber ich war auch dabei, wenn er immer und immer wieder aufstand. Wie er Wut, Empörung, Angst und Trauer – auch eigene – in Gemeinschaft, Lebensfreude, Aktion und Widerstand wandelte. Wie er Mut machte, durchzuhalten, Freude versprühte, zum Weitermachen antrieb, nie Kritik an herrschenden Zuständen ließ, Solidarität übte, Hoffnung und Sicherheit gab, Raum schaffte, um Empörung über Unrecht Ausdruck zu verleihen, Menschen verband. In und außerhalb der JG, auf Podien, bei zahlreichen Demonstrationen. Oft genug, wenn der Lauti kam, man bereits aus der Ferne diesen unverwechselbaren Mix von Rolling Stones bis Egotronic hörte und dazu seine Stimme „Ey Leute…“ erklang, zog Erleichterung in angespannte Situationen ein. „Lothar ist da“ und manchmal schwang ein unausgesprochenes hoffnungsvolles „Alles wird gut“ mit. Ebenso wie die Hoffnung, nun doch noch einen Schritt weiterzukommen, doch noch eine Blockade zu schaffen, doch noch aufzuhalten, doch nicht hilflos dem Polizeieinsatz ausgeliefert zu sein. Immer wieder gelang es.

Dass er die einzelnen Menschen an- und ernstnahm. Alles stehen- und liegenblieb, Absprachen nichts mehr galten, wenn auch nur ein Mensch in Not war. Er mitten in der Nacht zu einer Unterkunft für Geflüchtete fuhr, mit laufendem Motor auf eine kurdische Familie wartend, sie ins Kirchenasyl holend, um der Abschiebung am nächsten Tag zu entgehen.

Für all dieses Engagement bezahlte er und bezahlten - manchmal ungewollt - andere, ihm nahestehende Menschen. Politisch blieb er bis zuletzt. Zur Wut auf AfD gesellte sich - in anderem Maß - Wut auf „Wagenknecht und Konsorten“. Zu schaffen machte ihm die Erschöpfung der linken Szene, auch manch überholte, aus seiner Sicht zu einfache, zu absolute Positionen, die keine Fehler und Abweichungen mehr zulassen. Dazu kam der Drang, Leute zusammenzuholen, um sich ein weiteres Mal auszutauschen, zu überlegen, was sich machen aber vor allem wie sich durchhalten lässt in Zeiten einer fast übermächtig wirkenden rechten Gesellschaft.

Als Antifaschist*innen in Jena im August 2024 Höckes Auftritt durch Blockaden verhinderten, lag er im Krankenhaus. Kopf und Herz bei den Protesten dabei. So dabei, dass er am folgenden Tag die Gelegenheit nutzte, um einen Bekannten zu überzeugen, ihn mit in die Stadt zu nehmen, er hätte einen Termin in der JG. Lothars Überzeugungskraft ließ schon immer Unsicherheiten verschwinden, an diesem Tag auch den großen Aufdruck am Rollstuhl „Universitätsklinikum Jena“, ohne den er sich zuletzt kaum noch bewegen konnte. Angekommen in der JG scharte er Anwesende um sich, um mit ihnen den Protest nachzubesprechen.

Unverständlich war und wütend machte ihn, wie oft unwidersprochen antisemitische Positionen immer mehr Raum nahmen, wie wenig Protest es dagegen gab. Bei seinem letzten Protest in Jena auf der Johannisstraße – gegen eine sich als pro-palästinensisch deklarietende Demonstration - forderte ihn die Polizei mehrfach auf, sich wegzubewegen, da wir für diese Demonstration eine Provokation seien. Seine kaputte Hüfte vorschiebend, jeden Meter eine Pause machend, gelang es ihm, dass die Demonstration kurzzeitig gestoppt werden musste. Den Schalk und das Blitzen in seinen Augen, es mal wieder für einen Moment geschafft zu haben, ist eine der vielen Sachen, die nicht nur ich vermissen werde.