Recht(s) und Ordnung – Rechtsbeugung in Europa
Nora NeumannNach den Pogromen von Hoyerswerda und den Anschlägen von Mölln Anfang der 1990er Jahre beschlossen SPD, CDU und CSU eine Verschärfung des Asylrechts mittels einer Grundgesetzänderung, dem sogenannten „Asylkompromiss“.

Giorgia Meloni und Ursula von der Leyen (links) bei einem Besuch im September 2023 auf Lampedusa, um sich ein Bild der "Flüchtlingskrise" zu machen.
Seither gilt das Konzept der „sicheren Herkunftsstaaten“ wonach kein Mensch Anspruch auf Asyl hat, wenn er aus einem oder über einen sicheren Drittstaat einreist. Es folgten etliche Asylrechtsverschärfungen: Das Asylbewerberleistungsgesetz aus dem
gleichen Jahr, welches Transferleistungen für Geflüchtete unter Sozialhilfeniveau festschrieb; 1997 trat das Dublin-Abkommen in Kraft, welches jenes Land als zuständig für Asylverfahren erklärt, in welches Geflüchtete zuerst in die EU eingereist sind; 2014 und 2015 kamen neue Länder in die Liste der „sicheren“ Herkunftsstaaten; mit dem Asylpaket II dürfen seit 2016 auch schwerstkranke Menschen abgeschoben werden; das „zweite Gesetz zur besseren Durchsetzung der Ausreisepflicht“ von 2019 soll sicherstellen, dass Geflüchtete bis zum Abschluss ihres Asylverfahrens in Erstaufnahmeeinrichtungen verbleiben. Die massivste Asylrechtsverschärfung seit 1993 ist die Reform des „Gemeinsamen Europäischen Asylsystems” (GEAS), welche ab dem Sommer 2026 gilt. Bis dahin müssen die Mitgliedstaaten ihre Asylsysteme entsprechend angepasst haben.
Elf Jahre nach der sogenannten „Asylkrise“, ausgelöst durch den syrischen Bürgerkrieg, läutet die GEAS-Reform laut Nancy Faeser (SPD) eine „neue, solidarische Migrationspolitik“ ein. Konkret bedeutet die neue europäische Solidarität, dass alle Geflüchteten, die unerlaubt in die EU einreisen, künftig in Haftlagern „gescreent” werden, ihre Daten werden gespeichert und es wird geprüft, ob sie besonders schutzbedürftig sind, also etwa Folter ausgesetzt waren. Innerhalb von sieben Tagen muss das Screening abgeschlossen sein, während dieser Zeit gelten die Überprüften als „nicht eingereist” (Fiktion der Nichteinreise). Asylanträge von Menschen aus Ländern mit einer EU-weiten Anerkennungsquote von unter 20 Prozent kommen in das Asylgrenzverfahren, welches bis zu zwölf Wochen dauern kann. Optional können Mitgliedstaaten dieses Grenzverfahren auch auf Geflüchtete ausweiten, welche aus „sicheren Herkunftsstaaten“ kommen oder über einen „sicheren Drittstaat“ eingereist sind. Nach dem Grenzverfahren kann ein bis zu dreimonatiges Rückführungsgrenzverfahren angewendet werden. Die EU sieht also etwas über sechs Monate Lagerhaft für Geflüchtete vor, bis über den Asylantrag entschieden wird und sie einreisen dürfen oder abgeschoben werden.
Zusätzlich werden die Anforderungen, wann ein Drittstaat als „sicher“ gilt, erheblich abgeschwächt. So müssen Drittstaaten die Genfer Flüchtlingskonvention nicht mehr ratifiziert haben, Rechtsstandards zum Schutz Geflüchteter sind nun hinreichend. „Sichere“ Teilgebiete in Staaten, die ansonsten als unsicher gelten, reichen für die Einstufung als „sicherer Drittstaat“ aus. Jedes Land darf eigenständig einordnen, welche Länder als sichere Drittstaaten gelten. Es gibt keine EU-weiten Vorgaben.
Im Falle von Krisen, höherer Gewalt oder „Instrumentalisierung“ kann die EU-Kommission auf Antrag eines Mitgliedstaates Ausnahmen von den gültigen Regeln des GEAS gestatten und somit weitere Einschränkungen der Rechte Geflüchteter ermöglichen. Der Weg ist also frei für rechtlich abgesicherte Willkür, daran ändert auch ein geplanter Monitoring-Mechanismus nichts, der die Einhaltung von Grund- und Menschenrechten sicherstellen soll. Jedes EU-Land ist für die Einrichtung einer solchen Stelle selbst verantwortlich – wie gut das funktioniert, sieht man in Griechenland und bei Frontex, wo Menschenrechtsverletzungen systematisch verschleiert und geleugnet werden.
Alter Wein in neuen Schläuchen
ANKER-Zentren, Transitzentren, Asylzentren. Mit den stetig wechselnden Namen für Europas Internierungs- und Isolationslager versuchen Bürokrat*innen und Politiker*innen seit Jahren menschenverachtende Maßnahmen als innovativ zu verkaufen. Auf Lampedusa und Sizilien in Italien werden Geflüchtete in hochmilitarisierten, abgelegenen Lagern – genannt „Hotspots“ – interniert, registriert und gescreent, bevor sie möglichst abgeschoben werden. Der Zugang von Hilfsorganisationen, Presse
und Anwält*innen zu diesen Lagern ist stark eingeschränkt, die Lager sind überbelegt, schwere Gesundheits- und Hygieneprobleme sowie Nahrungsmangel und Rechtsverstöße sind an der Tagesordnung.
Besonders Sizilien ist ein Testgebiet für die neue Realität der GEAS-Reform. Hier testet die post-faschistische Regierung die beschleunigten Grenzverfahren für Menschen aus den „sicheren“ Drittstaaten Tunesien, Algerien oder Ägypten. Giorgia Melonis Inszenierung von Tatendrang scheitert bisher jedoch an der italienischen Justiz, welche fast alle Haftanordnungen wegen Fehlens der Einzelfallprüfung als rechtswidrig ablehnt. Auch die Inhaftierung Geflüchteter in Melonis neuen Vorzeigelagern in Shengjin und Gjader in Albanien scheiterte bisher an italienischen Gerichten. Die Geflüchteten mussten zurück nach Italien gebracht werden. Die mehr als 650 Millionen Euro teuren Lager stehen seit Fertigstellung nahezu leer. Um Melonis „Albanien-Modell“ und die Haftanordnungen für Geflüchtete in den Lagern auf Lampedusa und Sizilien zu retten, versucht die italienische Regierung jetzt die Gewaltenteilung und Unabhängigkeit der Justiz auszuhöhlen, indem sie Richter*innen öffentlich und persönlich angreift und diffamiert.
Der Streit über die schnelle Abschiebung Geflüchteter beschäftigt auch den Europäischen Gerichtshof (EuGH). Das Verfahren um Melonis „Albanien-Modell“ wird von vielen europäischen Regierungen aufmerksam beobachtet. Der EuGH muss klären ob und unter welchen Voraussetzungen über Asylanträge in Lagern außerhalb der EU entschieden werden darf. Im Mai oder Juni 2025 wird das Urteil erwartet. Ob sich Mitgliedsstaaten und EU-Kommission an ein ablehnendes Urteil halten werden, erscheint fraglich.
Schmutzige Hände
Bereits jetzt beginnt europäische Abschottungspolitik weit vor den Grenzen Europas. Mit Milliarden finanziert die EU libysche, algerische und tunesische Sicherheitskräfte, bildet und rüstet aus. Auch in Mauretanien, Mali, Niger, dem Tschad und Sudan versucht die EU ein vorgelagertes Bollwerk gegen Flüchtende aufzubauen. In libyschen Folterlagern werden Geflüchtete interniert, gequält und ermordet. Die Verbindungen von Folterlagerbetreibern, Schleppern und libyscher „Küstenwache“ sind ein offenes Geheimnis genau wie die Praxis tunesischer und algerischer Sicherheitskräfte, Geflüchtete ohne Wasser in der Wüste auszusetzen und ihrem Schicksal zu überlassen.
Laut UNHCR starben 2024 im gesamten Mittelmeer über 2.300 Menschen. Die Dunkelziffer dürfte weitaus höher sein. Über die Zahl der Toten in libyschen Folterlagern oder auf der Trans-Sahara-Route gibt es keine Zahlen – sie würden auch nichts ändern.
Noch bevor die GEAS-Reform in Kraft tritt, beraten die EU-Innenminister*innen über einen Vorschlag Polens, die Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) auszuhebeln. Sie sei nach dem Zweiten Weltkrieg aufgrund einer gänzlich anderen geopolitischen Situation als heute verabschiedet worden und sei deshalb nicht mehr zeitgemäß. Das fundamentale Prinzip der GFK ist der Grundsatz der Nichtzurückweisung (non-refoulement), der die Rückführung Geflüchteter in Länder, wo ihnen Verfolgung droht, verbietet. Auch die CDU möchte die GFK abschaffen. In ihrem Grundsatzprogramm vom 7. Mai 2024 schreibt sie: „Jeder, der in Europa Asyl beantragt, soll in einen sicheren Drittstaat überführt werden und dort ein Verfahren durchlaufen. Im Falle eines positiven Ausgangs wird der sichere Drittstaat dem Antragsteller vor Ort Schutz gewähren”. Das britische Ruanda-Modell dient der CDU als Vorbild – wobei es kaum ein Schlechteres geben kann. Der Oberste Gerichtshof Großbritanniens stoppte die Abschiebepläne nach Ruanda im November 2023, da es kein „sicheres Land“ sei. Als Reaktion darauf verabschiedete die konservative Regierung um Rishi Sunak kurzerhand ein „Gesetz über die Sicherheit Ruandas“ und postulierte, dass die Europäische Menschenrechtskonvention für Asylsuchende, die vom Ruanda-Deal betroffen sind, nicht gelte. Auch seien einstweilige Anordnungen des "Europäischen Menschenrechtsgerichtshofs" (EGMR), mit denen 2022 Abschiebungen nach Ruanda gestoppt wurden, nicht mehr bindend für die britische Regierung.
Wenn sich Spahn und Merz dieses Modell als Vorbild nehmen, ist der Konflikt mit deutscher und europäischer Justiz vorprogrammiert. Ob die „Recht und Ordnung
Partei“ zu postfaschistischen Methoden wie von Meloni oder Trump greift, um Richtter*innen zu delegitimieren, bleibt abzuwarten.
Angesichts der Bereitschaft, mit der AfD Politik zu machen, bleibt nur zu hoffen, dass nie eine Zweidrittel-Mehrheit von Rechtsaußen zustande kommt.