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Der Fall Gino: Frei, aber nicht frei

John Malamatinas
Free Gino

Jedes Mal, wenn Gino ans Telefon geht, ertönt eine sympathische Stimme auf Engisch. Die Gespräche fallen manchmal länger aus, aber die Zeit vergeht schnell, denn es ist interessant, ihm zuzuhören. Es geht viel um die aktuelle Lage der Welt, den Aufstieg von rechts, die Rolle des Antifaschismus und – selbstverständlich – um Repression. Es hat alles miteinander zu tun.

Rexhino „Gino“ A. ist erst seit Ende März 2025 wieder auf freiem Fuß. Im November 2024 wurde er in Paris verhaftet und befand sich seitdem in französischer Gefangenschaft. Aufgrund eines europäischen Haftbefehls drohte ihm die Auslieferung nach Ungarn. Auch ihm werden Beteiligung an Auseinandersetzungen mit Neonazis im Rahmen des „Tags der Ehre“ in Budapest im Februar 2023 sowie die Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung vorgeworfen. Im Falle einer Verurteilung drohen ihm bis zu 24 Jahre Haft. 

Vor seiner Verhaftung in Paris war er bereits in Finnland festgenommen worden, wurde aber wenig später mit elektronischer Fußfessel wieder freigelassen. Er beschloss die Fußfessel zu durchtrennen und das Land zu verlassen. Zwei Wochen nach seiner vorübergehenden Freilassung unter Auflagen in Paris entschied sich das französische Berufungsgericht gegen seine Auslieferung. Am eindrücklichsten beschreibt Gino selbst diesen Moment: „Du wartest einfach auf die Entscheidung, auf die Worte, die aus dem Mund des Richters kommen. Mein Herz hat so stark geschlagen – ich kann da gar nicht lügen. Und als der Richter dann das Urteil verkündet hat – da kam so eine Welle der Erleichterung über mich. Ich habe mich sofort zu meinen Anwälten umgedreht und dann zu den Menschen, die da waren – meiner Familie und meinen Freunden.“ Es gibt ein Video, das Gino zeigt, wie er aus der Tür des Gerichts geht und mit einem breiten Lächeln erscheint. „Bevor ich rausging, noch bevor ich aufgestanden bin, konnte ich draußen schon Leute jubeln hören.“

Es gibt nicht viele Momente im Rahmen des „Budapest-Komplexes“, die zum Jubeln animieren. Der Fall von Gino reiht sich ein in eine Welle von Verhaftungen, Gerichtsprozessen und Gefängnisaufenthalten. 

Ähnlich groß war der Jubel, als Ilaria Salis, eine weitere Beschuldigte, im Juni 2024 ins Europaparlament gewählt wurde und aus dem ungarischen Gefängnis aufgrund ihrer neu erlangten Immunität entlassen werden musste. Beide Fälle zeigen: Der „Budapest-Komplex“ ist von Anfang an eine Repressionswelle gegen Antifaschist*innen von europaweiter Dimension.

Gino macht kein Geheimnis aus seiner politischen Vergangenheit. Er kommt aus einer albanischen Arbeiterklassefamilie, die sich in Italien niedergelassen hat. Einer seiner Großväter hat gegen die Nazis in Albanien gekämpft und unterstützte Titos Partisanen. „In der Schule in Italien wird die edeutung des Antifaschismus betont. Wie kann also jemand Faschist werden?“ Gleichzeitig kennt er ein paar Fälle, in denen sich Jugendliche als Faschisten oder Neonazis bezeichnet haben – was letztlich dasselbe ist – obwohl sie aus Arbeiterfamilien oder sogar liberal-linken Haushalten kamen. „Ich denke, der wichtigste Faktor ist wirklich die Lebenserfahrung, Bildung, die Fähigkeit uur Analyse – und wie stark man von Propaganda beeinflusst wird. Und jeder ist Propaganda ausgesetzt. Die Frage ist nur, wie man sie verarbeitet.“

Unmittelbar nach seiner Verhaftung entfaltete sich eine breite Solidaritätskampagne. Schon Anfang Dezember 2024 unterzeichneten etwa 300 Intellektuelle eine Erklärung – darunter auch die Literaturnobelpreisträgerin Annie Ernaux. In dieser betonen sie, dass „die ungarische Justiz, die von der Europäischen Kommission wegen ihrer Anfälligkeit für politischen Druck im Zusammenhang mit systematischen Verstößen gegen die Rechtsstaatlichkeit in Ungarn ständig kritisiert wird, ihre Unfähigkeit, die Angellagten unparteiisch zu beurteilen, hinreichend unter Beweis gestellt hat.“ 

Dies alles bekam Gino vom Gefängnis in Fresnes aus mit, wo er 22 Stunden pro Tag in seiner Zelle eingesperrt war und Zugang zu nur wenigen Aktivitäten hatte. Diese Solidaritätsarbeit beeindruckte ihn und gab ihm Kraft, nicht aufzugeben.

Wirksame Argumente gegen Auslieferung

Bei der Entscheidung des Berufungsgerichts gegen seine Auslieferung spielte die Vorarbeit, die durch die Solidaritätskampagne um Ilaria Salis geleistet wurde, eine große Rolle. Die Kritik an den Haftverhältnissen in Ungarn und die mangelnde Unabhängigkeit der ungarischen Justiz überzeugten die Richter in Frankreich. Zuvor wurde bereits im Fall von Gabriele M., ein Mailänder, der ebenfalls mit europäischem Haftbefehl gesucht wird und in Italien festgenommen wurde, gegen eine Auslieferung entschieden – auf Basis derselben Argumente. 

Im Vordergrund steht die Verhältnismäßigkeit der angedrohten Strafe im Vergleich mit dem zu erwartenden Strafmaß bei ähnlichen Fällen in Italien bzw. Frankreich. Die gleiche Argumentation könnte auch nach einer Verurteilung Ginos in Abwesenheit in einem zukünftigen Prozess in Budapest dafür sorgen, dass er nicht ausgeliefert wird – und im besten Fall nicht die Haft in Frankreich antreten muss. Gino erwartet einen Prozess im nächsten Jahr, aber es ist schwer zu sagen wann genau. Unklar ist auch, wie sehr die politische Situation eine Rolle spielt: „Interessant ist, dass das französische Gericht anerkannt hat, dass mir in Ungarn psychische und physische Gefährdung droht – wegen meiner politischen Identität. Das ist wichtig, denn ich habe meine politische Haltung öffentlich gemacht. Und deshalb besteht die Gefahr, dass ich dort misshandelt werde. Das wurde vom Gericht anerkannt. Frankreich will keine Menschen ausliefern, die aus politischen Gründen bestraft werden sollen.“

In Ungarn sei es genau umgekehrt: Personen mit gegensätzlicher politischer Gesinnung blieben unbehelligt – selbst wenn gegen sie schwerwiegende Vorwürfe im Raum stünden. Als Beispiel nennt er einen rechtsextremen Terroristen, György Budahazy, der verurteilt und dann begnadigt wurde. Beim zweiten Prozesstag von Maja, einer von Deutschland ausgelieferten Antifaschist*in, in Budapest, saß er sogar im Publikum. 

Auch internationale Fälle würden politisch instrumentalisiert: „Ein polnischer Minister, Marcin Romanowski, der wegen Korruption gesucht wurde, ist nach Ungarn geflüchtet und wurde dort öffentlich verteidigt. Man erklärte ihn sogar zum „politischen Flüchtling“, weil die polnische Linke angeblich zu weit gegangen sei.“ Für Gino zeigt sich daran ein doppelter Standard in der ungarischen Justiz: „Es entscheidet die politische Ausrichtung darüber, ob jemand verfolgt oder geschützt wird.“

Im Moment ist nur eines sicher: Gino kann aufgrund des Haftbefehls Frankreich nicht verlassen. Aus dem Fall von Gabriele M. und seiner erwarteten Verurteilung in Abwesenheit werden für Gino und allen anderen Betroffenen wichtige Lehren zu ziehen sein.

Die Wichtigkeit des internationalen Austausches

Insgesamt ist der „Budapest-Komplex“ geprägt vom Austausch von Anwält*innen und der Vernetzung über die Grenzen eines Landes hinaus. Dies verdeutlicht sich an Beispielen, wie etwa der Veranstaltung „Free all antifas“ im SO36 in Kreuzberg in Berlin im Mai 2025. Im Fokus stand der Fall von Zaid aus Nürnberg, der sich Anfang 2025 zusammen mit sechs anderen gesuchten Antifaschist*innen gestellt hat. Wie Gino hat Zaid keine EU-Staatsbürgerschaft – eine potentielle Auslieferung ist also viel realer. 

Die Veranstaltung begann jedoch mit einer guten Nachricht: Seine Anwält*innen Anna Busl und Rasmus Kahlen verkündeten seine Freilassung unter Meldeauflagen. Und sie konnten sich im Laufe des Abends mit ihren Kollegen, Ginos Anwälten, Laurent Pasquet-Marinacce und Youri Krassoulia austauschen. Letztere wurden nicht müde zu erwähnen, „dass der Erfolg von Gino auch Zaid was bringen kann“ und dies eine klare Form der internationalen Solidarität sei. Zentrale Punkte sind dabei nicht nur juristische Unterschiede, sondern auch das unterschiedliche politische Klima. In Deutschland gab es – außer der Freilassung unter Auflagen von Zaid – nur sehr begrenzte Erfolge. Viele progressive Kräfte gehen auf die Straße, wenn es um die fallende Brandmauer gegenüber der AfD geht – tun sich aber schwer, militanten Antifaschismus einzuordnen und sich mit den Betroffenen der aktuellen orbánesken Repression zu solidarisieren. In Ländern wie Frankreich oder Italien scheint dies, vor allem in progressiven Kreisen, eine Selbstverständlichkeit zu sein.

Gino bezeichnet die Situation in Deutschland als „hart“, vor allem weil die Behörden so viel Ressourcen in die Verfolgung von Antifaschist*innen stecken – in einem Land, in dem die rechtsextreme AfD zweitstärkste Partei ist. „Wir haben alle gesehen, wie die deutschen Behörden mit Ungarn kollaborieren – und sogar eine Person, Maja, unrechtmäßig ausgeliefert haben.“ Er ist nicht sehr optimistisch und glaubt nicht, dass die Betroffenen der Repression in Deutschland in den nächsten Monaten so leicht freigelassen werden. „Der Kampf ist längst noch nicht vorbei, und wir sollten nicht aufgeben. Wir sollten das nicht auf die leichte Schulter nehmen.“