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Gedanken zur sozialen Frage

Einleitung

Berlin, 14. März 1997: 300 Bauarbeiter setzen sich von einer Großdemonstration gegen Arbeitslosigkeit am Bau ab und stürmen die nahegelegene Baustelle des Reichstages. Die dort arbeitenden Kollegen werden verdächtigt, »Illegale« zu sein. Und die Szenen, die sich nun abspielen, dürfen keineswegs als proletarische Kampfaktion gegen Streikbrecher missverstanden werden. Der Baustellensturm, unter wehenden und blutroten Fahnen der IG BAU, erinnert an die Pogromwelle Anfang der 1990er Jahre. Der Auftakt kommender Auseinandersetzungen? Der thematische Schwerpunkt dieses Heftes ist der derzeit alles beherrschenden »sozialen Frage« gewidmet.

Klassenkampf
(Foto: Chris; CC BY-NC-SA 2.0, flickr.com)

Hohe Löhne, soziale Sicherungssysteme, Mindeststandards in Arbeitsverträgen, Ausdehnung von Freizeit, eigene Erwerbstätigkeit von Frauen, Mutterschutz etc. sind weder historische Zufälle noch freundliche Geschenke der Herrschenden. Es sind Rechte, die in harten Kämpfen durchgesetzt wurden. Wenn sie heute so ohne weiteres abbaubar sind, so kommt darin die Schwäche der politischen Linken, der Frauenbewegung, internationaler Solidarität - vor allem aber der internationalen Arbeiterbewegung zum Ausdruck.

Die Gewerkschaften sind heute insbesondere aus drei Gründen so schwach. Erstens verlieren sie ihre Mitglieder. Zweitens sind sie kaum in der Lage, bestimmte Beschäftigte wirksam zu vertreten. Gegenwärtig werden neue Beschäftigungsverhältnisse von den Unternehmen durchgesetzt: Teilzeitarbeit, Heimarbeit, Arbeit in kleinen Gruppen etc. Angebliche »Selbständigkeit« in Form von Verträgen als »Subunternehmer« verlagert Risiken nach unten, hin zu denjenigen, die auf Lohnarbeit angewiesen sind, während die möglichen Profite nach wie vor den Unternehmern zugute kommen. Solche Formen der Beschäftigung lassen sich durch die derzeit bestehenden Gewerkschaften nicht organisieren. Schließlich können sie drittens nicht wirksam gegen die Politik der Unternehmer vorgehen, da die Form gewerkschaftlicher Organisierung nach wie vor national ist. Die herrschende Klasse ist dagegen multinational organisiert.

Diese multinationale Organisation des Kapitals erlaubt es den Unternehmen, die Beschäftigten und ihre Betriebsräte unter enormen Druck zu setzen. Fertigungsverlagerungen ins Ausland und damit Abbau von Arbeitsplätzen werden angedroht, um eine profitträchtigere Praxis hierzulande durchzusetzen. Angst vor Arbeitslosigkeit läßt Beschäftigte und Gewerkschaften stets aufs Neue faule Kompromisse eingehen. 

Arbeitslosigkeit hat sich zum zentralen Problem Deutschlands entwickelt. Die Politik der konservativ-liberalen, in ihren wirtschaftlichen Vorstellungen der Ideologie des Neoliberalismus anhängenden Regierung verstärkt die Arbeitslosigkeit aktiv. In den 80er Jahren konnten Gewerkschaften noch Maßnahmen einfordern, die gleichzeitig neue Arbeitsplätze schaffen und die Lebensqualität abhängig Beschäftigter steigern könnten: Verkürzung der Arbeitszeit bei vollem Lohnausgleich, kürzere Lebensarbeitszeiten usw. Solche Forderungen sind heute kaum mehr formulierbar. 

Die CDU-Kohl-Regierung arbeitet vielmehr in die entgegengesetzte Richtung - durch die Streichung von Feiertagen und die Verlängerung der Lebensarbeitszeit wird die Arbeitslosigkeit noch verschärft.

Da ihre ausschließlich auf Unternehmensprofite orientierte Politik unmittelbar für die Misere verantwortlich ist, greift die Regierung zu einer altbekannten Waffe: zur rassistischen Demagogie. Die schiefe Gegenüberstellung von »Ausländern« und arbeitslosen Deutschen wird Folgen haben. Schon jetzt sind Anzeichen für eine neue Tendenz in rassistischen Gewalttaten zu erkennen. Angriffsziele werden zunehmend jene sein, die von Deutschen als Konkurrenten auf dem Arbeitsmarkt empfunden werden. Die Angriffe auf ausländische Bauarbeiter und andere erwerbstätige Ausländer in Brandenburg weisen in diese Richtung. Flüchtlinge, Obdachlose, Behinderte, Punks (als »Gammler«) geraten damit nicht aus dem Schußfeld. Auch hier sind die Übergriffe begleitet von staatlichen Kampagnen gegen die Belastung des Sozialsystems durch »Schmarotzer«.

Dabei gehören die Täter - deren Gruppen als weiße Männerbünde strukturiert sind - nicht zur Kategorie der am stärksten von Arbeitslosigkeit und Sozialabbau Betroffenen. Dies sind nämlich ausländische und weibliche Beschäftigte. 

Entsolidarisierung heißt, sich im schärferen Konkurrenzkampf die Regeln von oben diktieren zu lassen. Die einzige Macht, die sich von unten entwickeln läßt - die Solidarität - wird aufgegeben. Stattdessen wird fleißig auf die eingetreten, die noch weiter unten stehen.

In eine ähnliche Richtung der Entsolidarisierung entlang nationaler Grenzen läuft die Debatte um den »Standort Deutschland«. Es sind die Unternehmen, die in bestimmten Branchen aktiv eine Politik der Verlagerung in »Billiglohnländer« betreiben. Damit nutzen sie das Elend der Menschen dort, die gezwungen sind, auf bestimmte Mindeststandards zu verzichten.

Ideologisch wird diese Politik als Notwendigkeit verkauft, zum allgemeinen Entwicklungstrend hochstilisiert - obwohl die Statistik einen solchen Trend gar nicht belegt - und als eine Art Naturgesetz dargestellt. Von den Unternehmen hat noch kein deutscher Politiker in der Praxis »Einschränkungen«, »solidarisches Verhalten« usw. verlangt. Als ob nicht der Kampf um Arbeit, um die Verteidigung und Ausweitung von Mindeststandards seitens der Lohnabhängigen ebenso als »Naturgesetz« aufgefaßt werden kann.

Die behauptete »Globalisierungstendenz« geht in der Produktion freilich nicht so weit, wie allgemein angenommen wird. Selbstverständlich wird das Kapital den Standort Deutschland mit seiner hochqualifizierten Bevölkerung, seiner Infrastruktur usw. nicht aufgeben. Doch dient dieses Gespenst dazu, die Standards hierzulande zu drücken. Wo immer wir uns auf dieses Spiel einlassen, verraten wir zugleich die Interessen derjenigen, die um eine Verbesserung ihrer Bedingungen kämpfen. Dies betrifft vor allem die »Dritte Welt«. Der Kampf der südkoreanischen Gewerkschaften ist unmittelbar mit den Arbeitskämpfen hier verbunden.

Was wir derzeit erleben, ist schlichtweg eine heiße Phase des Klassenkampfes. Daß die Terminologie altbacken wirkt, und daß die Linke den Klassengegensatz nicht mehr als Hauptwiderspruch begreift, kann an dieser Analyse nichts ändern. Aber der Klassenkampf ist derzeit erstens ein Klassenkampf von oben. Seine Merkmale sind: Ausgrenzung aus dem Erwerbsbereich - z.B. von Frauen, neuerdings vermehrt auch von Menschen, die krank und damit »zu oft« oder dauerhaft nicht verwertbar sind - , Sozialabbau, Lohnkürzungen, Arbeitszeitverlängerung, Tarifbruch und Durchsetzung neuer, schlechter organisierbarer und für die Konzerne profitablerer Beschäftigungsverhältnisse. Das ist kein anonymer Entwicklungstrend, sondern Ausdruck aktiver Politik der Herrschenden - und der Tatsache, daß ihr derzeit keine starke Gegenmacht gegenübersteht.

Zweitens findet der Klassenkampf insgesamt nicht auf nationaler Ebene statt. Es ist eine internationale Auseinandersetzung, die von den Unternehmen international geführt wird, auf die die Lohnabhängigen aber nur national reagieren. Teilweise wird das Problem in den Gewerkschaften sogar erkannt, doch fehlen wirksame Strategien, es zu bewältigen.

Es handelt sich aber auch um Defizite im Bewusstsein. Die Bereitschaft von Basis und Funktionärsebene der Gewerkschaften, die Standortdebatte »konstruktiv«, in Zusammenarbeit mit den »Arbeitgebern« und im Sinne einer »deutschen« Lösung mitzuführen, bringt zum Ausdruck, wieweit der Gedanke der internationalen Solidarität verlorengegangen ist. Die westdeutsche Arbeiterbewegung hat sich einige Jahrzehnte lang auf ein nationales Bündnis mit den Herrschenden eingelassen, z.T. gegen die Interessen ausländischer Kolleginnen in-
und außerhalb Deutschlands. Während die Unternehmer und ihre Regierung die »Sozialpartnerschaft« - d.h. den nationalen Pakt deutscher Kapitalisten und deutscher Facharbeiter - längst aufgekündigt haben, bleibt die Führung der Gewerkschaften in der kriecherischen Hoffnung befangen, in Form eines »Bündnisses für Arbeit« die alte Gemütlichkeit wiederherzustellen.

Viele Menschen in Deutschland teilen eine Sichtweise, die Konkurrenz zum Lebensgesetz der Menschheit erklärt. Der Schritt zur Entsolidarisierung ist die logische Folge. Solche Einstellungen sind eine Basis des Faschismus. Daß sie gerade auch in den arbeitenden Schichten verbreitet sind, wird bewirken, dass die (Neo)Faschisten ihre soziale Basis zunehmend in diese Gruppen ausdehnen. Die Debatten im rechtsextremen Lager um die »soziale Frage« werden wir daher weiter aufmerksam verfolgen. 

Wir meinen, daß es mit der Verbindung von sozialer Frage und Rassismus für die (Neo)Faschisten möglich werden wird, Einfluss auf soziale Bewegungen zu nehmen. Ein erschreckendes Beispiel ist die französische »Front National«, die über Suppenküchen und Sozialarbeit ihre Basis ausweitet.

Allzu offensichtlich gibt es konkrete Verantwortlichkeiten für die Misere. Traditionell hat die deutsche Rechte darauf reagiert, indem sie einem »internationalen jüdischen Finanzkapital« die Verantwortung zugeschoben hat. Wir vermuten daher eine Zunahme antisemitischer Äußerungen und Übergriffe.

Linke "Polit-Sekten" sind schnell bei der Hand, als »Lösung« plakativ die internationale Solidarität zu fordern. In der praktischen Politik bleiben einfache Formeln und Losungen dagegen wirkungslos. Altkluge Rezepte, gar von außen verkündet, um die Probleme der Gewerkschaftsbewegung zu lösen, können wir nicht anbieten. 

Auch wir, auch die antifaschistische Bewegung schlägt sich ja nur mit den Auswirkungen des Problems herum, auch wenn die Erfolge auf diesem Teilgebiet nach wie vor recht groß sind. Gerade deshalb laufen wir Gefahr, die sozusagen »militärische« Seite der Auseinandersetzung überzubetonen, weil sie hier und dort unerwartete Erfolge erzielt. Bedenklich ist auch die Tendenz, sich auf die eigene Klientel zu beschränken, die pauschal als rassistisch empfundene Gesellschaft mit Verachtung zu bedenken und sich zunehmend zu isolieren. 

Antifaschismus muss dagegen politisch sein, er muss gesellschaftliche Kräfte gegen Rassisus und (neo)faschistische Organisierung mobilisieren. Hier beginnt die Gratwanderung, bei der wir vermeiden müssen, uns aus fundamentalistischer Grundhaltung heraus gesellschaftlich zu isolieren. Das AIB hat bislang stets eine Strategie vertreten, die auf gesellschaftliche Öffnung und Bündnispolitik zielt. Dabei geht es um die Polarisierung der Bündnispartner genau an der Frage, wie sie sich zu Rassismus und Nationalismus (und - leider zumeist nur in der Theorie - Sexismus) in ihrer konkreten Politik verhalten.

An diesem Punkt besteht erstmals in unserer politischen Praxis kein entsprechender Konsens mehr. Angesichts der Gefahr, eigene Grundsätze aufzugeben, einem vermeintlich »revolutionären Subjekt« nachzulaufen und falsche Bündnisse einzugehen, ist die Diskussion in der Redaktion aufgebrochen, wie weit der Spielraum für Bündnispolitik gehen darf. 

Dies zeigt, dass die antifaschistische Bewegung dringend die Diskussion darüber braucht, welche ihrer Positionen essentiell sind und keinen Kompromiss zulassen. Die Meinungsverschiedenheit im Redaktionskollektiv zeigen, dass in diesem Punkt in der antifaschistischen Bewegung noch bei weitem kein Konsens erreicht ist, der aber die Bedingung für bündnispolitische Handlungsfähigkeit ist.