Le Pens „Front National“ von Innen
Die französische Journalistin Anne Tristan hat ein halbes Jahr verdeckt als Mitglied der „Front National“ (FN) gearbeitet. Fünf Monate lang arbeitete sie als Sekretärin des FN-Verbandes im Norden von Marseille. Mit einem Stimmenanteil von circa 30 Prozent ist Marseille eine der Hochburgen von Jean-Marie Le Pen. Über ihre Erfahrungen unter Neonazis und AnhängerInnen Le Pens hat sie ein Buch veröffentlicht: „Von Innen“ („Au Front“). Das Interview stellte uns die englische antifaschistische Zeitung „Searchlight“ zur Verfügung. Aufgenommen wurde es kurz vor den französischen Präsidentschaftswahlen im April 1988.
„Searchlight“: Wie ist die soziale Zusammensetzung und was für Leute nehmen an der FN teil?
Tristan: Fürchterlich, jede soziale Gruppe ist vertreten. Die Proportion von Arbeitslosen ist nicht höher, als in der Stadt; der Anteil von Kleinwarenhändlern das Gleiche; für jede andere Gruppe ist es genauso. Es ist ein Spiegelbild unserer Gesellschaft.
„Searchlight“: Glaubst Du, daß das die FN gefährlicher macht?
Tristan: Sicher, das hat sehr einfache Gründe. Es ist für Intellektuelle möglich, Arbeiter zu schulen. Es ist für Arbeiter möglich, Intellektuellen beim Sicherheitsdienst auf Veranstaltungen zu helfen. Es ist eine Mischung und die macht die Gruppe stärker.
„Searchlight“: Die französische Antirassismusbewegung scheint Probleme zu haben, die FN zu analysieren, zu sagen wie die FN zu charakterisieren ist. Wie siehst Du das? Denkst Du es ist eine neofaschiststische Organisation?
Tristan: Ja sicher, aufgrund des Prozesses, der innerhalb der französischen Gesellschaft läuft. Es ist eine neofaschistische Entwicklung. Le Pen ist in der Lage, natürliche Revolten in Aggressivität untereinander umzuwandeln und zu lenken. Während des Nationalsozialismus in Deutschland z.B. haben die, Intellektuellen sich bemüht, Widersprüche innerhalb der faschistischen Ideologie aufzuzeigen. Natürlich ist es wichtig zu zeigen, daß faschistisches Gedankengut voller Widersprüche ist, aber es ist sinnlos, so dagegen zu kämpfen. Während die Intellektuellen analysierten, hat Hitler angekündigt er werde mit den Deutschen Truppen in jede Richtung marschieren. Das ist das Wichtigste für sie, eine gewalttätige Gruppe aufzubauen, für die die Richtung nicht wichtig ist, nur das „Befreiende“ und die Stärke der Aggressionen.
„Searchlight“: Sagst Du damit, daß die Bewegung zwei unterschiedliche Gesichter hat?
Tristan: Ja, ein Beispiel: Ich kenne eine Arbeiterin, sie war noch nicht in der FN. Zuerst hat sie nur gesagt, ich will kämpfen um mein Leben zu ändern. Sie hat dann Militante der FN getroffen, die ihr gesagt haben: "Komm mit uns, wir kämpfen, wir ändern das Leben“. Sie haben aus ihr eine aggressive Frau gemacht. Drei Monate später fuhr sie im Auto und hat Araber angegriffen. Du siehst den Prozess. Und wenn die Leute in Frankreich so durcheinander sind, weil Le Pen vieles gelingt, dann gewinnt er, weil seine Taktik aufgeht, die er den anderen vorsetzt. Jeder ältere Militante der FN sagt den Anhängern, du mußt außerhalb der Partei nicht alles sagen, was wir denken. Bevor du alles sagst, mußt du ändern, was uns aufhält. Wenn die FN nur 0,5 Prozent der Stimmen hat, kannst du nicht sagen, du willst einen Araber erschießen, wenn die FN 10 oder 12 Prozent hat, wirst du sehen, daß es nicht nur möglich ist, es zu sagen, wir könnten ihn erschießen. Und die französische Justiz bestraft rassistische Mörder und Kriminelle nur sehr gering. Und wenn die FN 30 Prozent hat, werden sie in der Lage sein, alles zu sagen, was sie wollen: Putsch, Antiparlamentarismus und Bombenwerfen gegen Araber, Juden usw.
„Searchlight“: Ist die FN gewalttätig antisemitisch?
Tristan: Ja sicher, ich sollte sagen, daß für Le Pen z.B. Antisemitismus wichtiger ist, als gegen die Araber aufzutreten. Er ist gegen die Araber, weil es ein gutes Instrument ist, weil es leicht ist, den Franzosen zu erzählen, daß die Araber Schuld an der Arbeitslosigkeit seien. Was Le Pen, was seine Militanten wollen: ein weißes, christliches, starkes Europa. Europa oder Nation. „Wir brauchen ein Europa oder eine Nation mit einem starken Führer und dahinter das ganze Volk. Und um ein starkes Europa zu bekommen, müssen wir Islam, Judaismus usw. bekämpfen, die unsere Zivilisation untergraben".
„Searchlight“: Wir denken, daß viele Leute in Europa die ernste Entwicklung in Frankreich nicht sehen. Le Pen steht auf der zentralen politischen Bühne und die große Frage in Frankreich ist, wer wird mit ihm verhandeln? Deckt sich das mit Deinen Erfahrungen?
Tristan: Natürlich auf der zentralen politischen Bühne, aber auch in den Vorstädten. Weil z.B. sozialistische Militante nicht gegen die Militanten der FN kämpfen. Sie sagen: Es sind 25 FN'ler im Stadtteil, das sind zu viele, mit denen müssen wir verhandeln oder diskutieren. Sie kämpfen nicht gegen die faschistischen Ideen, sie haben in der Stadtverwaltung (in Marseille) 1986 einen Deal mit der FN gemacht und die Kommissionen verteilt.
„Searchlight“: Am ersten Mai will Le Pen seine Anhänger in Paris demonstrieren lassen, was ist die Reaktion der Linken?
Tristan: Was mich beunruhigt, daß die Linken keine passende einheitliche Antwort hat. Ich weiß, daß eine antirassistische Organisation sich überlegt, am 31. April zu demonstrieren und auch eine Gewerkschaft. Ich glaube, dieser erste Mai wird der Arbeiterbewegung Schaden zufügen. Wenn die Linke nicht in der Lage ist, am 1. Mai gegen Le Pen aufzutreten, ist es das Resultat eines langen Prozesses. Letztes Jahr in Marseille wußte ich noch nicht, daß Militante der FN versuchen, in Fabriken zu agitieren. Diesen Winter hörte ich von Freunden aus der Fabrik, daß dort die FN loslegt, und das ist neu. Der 1. Mai ist das Resultat einer langen Entwicklung. Es ist sehr wichtig, daß die Leute in Frankreich die soziale Frage verstehen, die Notwendigkeit, nicht nur an der Universität und in den Medien zu diskutieren, sondern in den Fabriken und Vorstädten aufzutreten. Viele denken, daß die FN dort stark ist, wo es viele Fremde gibt. Das ist absolut falsch. Da ist keine Verbindung. Es gibt andere Verbindungen. Im Norden und im Süden sind die ökonomischen Probleme sehr groß, Wohnungsnot, politische Enttäuschung über die Linken und da, wo die Rechten nicht sehr konservativ und stark sind, wo diese Faktoren zusammen kommen, gewinnt die FN an Boden.