Stiften gehen – NS Zwangsarbeit und Entschädigungsdebatte
Mit der Verabschiedung des Gesetzes über die Stiftung »Erinnerung, Verantwortung, Zukunft« ist das Thema Zwangsarbeit für die Bundesregierung, die Industrie und Teile der Öffentlichkeit scheinbar erledigt. Doch bisher ist keine Mark an ehemalige Zwangsarbeiter ausgezahlt worden, und die Industrie sieht sich nicht in der Lage, ihren Anteil am Stiftungskapital zusammen zu bringen. Indes sterben Monat für Monat die Überlebenden. Ein Sammelband sucht die Fakten über Zwangsarbeit zusammen zu tragen und die Entschädigungsdebatte zu bilanzieren.
In dem thematisch zweiteiligen Buch werden zunächst detailliert die Fakten über Organisation und politisch-ökonomische Funktion von Zwangsarbeit im NS dargestellt. Der zweite Teil beleuchtet Aspekte der Entschädigungsdebatte. Den Band eröffnet Dietrich Eichholz, renommierter Autor einer Vielzahl von Studien zur deutschen Kriegswirtschaft, mit einem Aufsatz über »Die Zwangsarbeit in der deutschen Kriegswirtschaft«. Zunächst sucht er eine annähernd realistische Zahl der Zwangsarbeiter in Deutschland zu ermitteln. Gestützt auf die Unterlagen des NS- Rüstungsministeriums, der NS-Reichsindustriekammer und auf die Aussagen des NS-Generalbevollmächtigten für den Arbeitseinsatz Sauckel in Nürnberg, geht Eichholz analog der Schätzungen des Wirtschaftswissenschaftlers Thomas Kuczynski von einer Gesamtzahl von 14 Millionen Zwangsarbeitern in Deutschland aus.
Davon seien ca. 8 Millionen zeitgleich in der Kriegswirtschaft beschäftigt gewesen. Eichholz zeichnet nach, dass das Zusammenspiel zwischen nationalsozialistischer Ideologie und ökonomischer Interessen der deutschen Industrie nicht ohne Widersprüche funktionierte. So kritisierten Vertreter der Industrie mehrfach die politisch motivierte Vorschrift, Zwangsarbeiter isoliert von anderen Beschäftigten in geschlossenen Kommandos einzusetzen. Dies widersprach dem ökonomisch-organisatorischen Effizienzprinzip der Wirtschaft. Und nur auf Grund eben dieses ökonomischen Interesses forderten sie eine bessere Ernährung der Zwangsarbeiter. Seit dem Jahr 1942 wurden Millionen sowjetischer Kriegsgefangener nach Deutschland verschleppt, um den Arbeitskräftemangel in der Krisenphase der Kriegswirtschaft zu bewältigen.
Dies führte zu einer Ausweitung der Zwangsarbeit in immer weitere Bereiche der Wirtschaft. Eindeutig zeigt Eichholz auf, dass die deutsche Industrie aus eigenem Antrieb Zwangsarbeiter aus den okkupierten Gebieten und den KZ rekrutierte, um sie als Arbeiter u.a. in der Rüstungsindustrie und der Landwirtschaft zu beschäftigen. So besuchten Abgesandte von Industriezweigen KZ, um qualifizierte Fachkräfte und Hilfsarbeiter zu bekommen, die zuvor von der SS ausgesucht wurden. Faktenreich wird so der Mythos widerlegt, das SS-Wirtschaftsverwaltungshauptamt habe der Industrie die Zwangsarbeiter aufgedrängt. Abzüglich der sich für den Leser nicht immer erschließenden Zahlen und Statistiken kann der Beitrag von Eichholz als gute Einführung in die Zusammenhänge von Zwangsarbeit und Kriegswirtschaft gelesen werden.
Der Beitrag von Jan Erik Schulte über das SS-Wirtschaftsverwaltungshauptamt verdeutlicht die Verknüpfung von politischen und ökonomischen Interessen im NS Staat. Dem WVHA oblag die Organisation und Aufsicht der Zwangsarbeit von KZ-Häftlingen. So bildete die SS durch wirtschaftliche Aktivitäten, unter Ausnutzung der Arbeitskraft von KZ-Häftlingen, Konzernstrukturen heraus. Das dies nicht nur auf den weithin bekannten Komplex IG Farben/IG Auschwitz zutraf, wird am Beispiel der KZ Mauthausen und Oranienburg gezeigt. Dort orientierte sich die Standortauswahl des KZ an dem Vorhandensein von Steinbrüchen und Gewerken der Bauindustrie. Zudem zeichnet der Autor den Weg des SS-Gruppenführers Pohl nach, der nicht nur als williger Befehlsempfänger Himmler galt, sondern umfangreiche Eigeninitiativen ergriff, um die Effektivität des Arbeitseinsatzes von KZ Häftlingen zu erhöhen.
Eine entscheidende Rolle spielte sein Amt bei der Untertageverlagerung großer Teile der Rüstungsindustrie ab 1943/44. DieProduktion konnte nur aufrecht erhalten werden, weil Wirtschaft und SS auf das Prinzip »Vernichtung durch Arbeit« setzten, das tausendende Zwangsarbeiter das Leben kostete. Der zweite Teil des Bandes beschäftigt sich mit unterschiedlichen Aspekten der Entschädigungsdebatte. Einleitend stellt Thomas Kuczynski Teile seiner Untersuchungen vor, die ergaben, dass sich allein die von der deutschen Wirtschaft einbehaltenen Zwangsarbeiterlöhne auf ca. 180 Milliarden Mark belaufen. Eine Zahl, die der Sonderbeauftragte der Bundesregierung für die Entschädigungsverhandlungen, Lambsdorf als »unseriös« bezeichnete.
Kuczynski setzt diese Zahl jedoch ins Verhältnis mit der Zahl der Zwangsarbeiter und der Tatsache, das die Wirtschaft die Zwangsarbeiter steuergünstig und entgeltfrei ausbeutete. Heruntergebrochen auf die individuellen Ansprüche ist Kuczynski damit bei ca. 10.000 DM pro Person. Nicht viel, bedenkt man KZ-Haft, Arbeitsleistung und die jetzige, oft katastrophale Lebenssituation der ehemaligen Zwangsarbeiter aus Osteuropa. Im weiteren bilanziert Rolf Surmann die Entschädigungsdebatten der BRD der letzten 55 Jahre als »Entschädigungsverweigerung«. Am Beispiel der Verhandlungen mit Israel in den 50er Jahren, des Bundesentschädigungsgesetzes in den 60er Jahren und der neueren Entschädigungsdebatte weist Surmann daraufhin, dass es allen Bundesregierungen und der Wirtschaft immer darum ging, den Kreis der Entschädigungsberechtigten klein zu halten bzw. gar nicht zu zahlen.
Nur beständiger internationaler Druck und außenpolitische Interessen der BRD führten, so Surmann, zu Teilerfolgen und Zahlungen. Dass dieser Zustand auch bei den Konsultationen über das Stiftungsgesetz im Bundestag anhielt, zeigen Ulla Jelpke und Rüdiger Lötzer in ihrem Beitrag auf. Wie bei so manch anderem Sammelband wäre ein Stichwortregister und ein kommentiertes Verzeichnis weiterführender Literatur wünschenswert gewesen. Insgesamt jedoch bietet der Band einen gut lesbaren Überblick zum Thema.
Winkler, Ulrike (Hrsg.)
Stiften gehen - NS Zwangsarbeit und Entschädigungsdebatte
Papy Rossa Verlag
Köln, 2000
272 Seiten, 29,80 DM