Hartz IV Proteste im Sommerloch
Die politische Ambivalenz der Proteste war unübersehbar. Sie erbrachten kaum inhaltliche oder aktionistische Impulse für einen Selbstorganisierungs- und Politisierungsprozess. Inzwischen ist die Dynamik der Demonstrationen wie ein Strohfeuer verbrannt. Eine Mehrheit der Teilnehmer konsumierte ohnehin die Proteste als vorübergehenden Event. Umso leichter fiel es neonazistischen Gruppen, sich bei den Demonstrationen als Akteure, gar als Sprachrohr des Volkes in Szene zu setzen. Unterstützt wurde dies durch die politische Diffusität der Proteste, die, regional in unterschiedlichem Maße, die inhaltliche Interpretationshoheit fast kampflos den Neonazis überließ. Nach gut zwei Monaten des Protests ist deutlich, dass es linken Organisationen nicht gelungen ist, die Proteste zu stabilisieren und inhaltlich auszuweiten.
Neonazistische Mobilisierungen
Während die seit Jahresbeginn laufende Kampagne der Freien Kameradschaften »keine-agenda-2010« angesichts geringer Teilnehmerzahlen als Beweis gelten kann, dass die »Soziale Frage« das Spektrum neonazistischer Kameradschaften und Parteien, anders als die klassischen NS-Themen, nicht mobilisiert, hat die extreme Rechte in Regionen wie Ost-Vorpommern seit Jahren freie Hand. Hier gelingt es den militanten Kameradschaften inzwischen, Themen im öffentlichen Diskurs mitzubestimmen und sich als »radikale Lösung« zu präsentieren. Ungehindert konnten die Neonazis unter dem Label des »Nationalen und Sozialen Aktionsbündnis Mitteldeutschland« ihre Plakate gegen Hartz IV in den Gemeindeschaukästen aushängen – und waren so an vielen Orten Ostdeutschlands diejenigen, die das Thema lokal öffentlich als erste besetzten. So ist es wenig verwunderlich, dass in der 30.000-Einwohnerstadt Ueckermünde an der nordöstlichen Grenze Mecklenburg-Vorpommerns zu Polen am 5. September rund 300 Neonazis gegen Hartz IV und das »Asylantenheim« demonstrierten.
Ursprünglich wollte die rechtsextreme Bürgerinitiative »Schöner und sicherer wohnen in Ueckermünde« ausschließlich gegen ein geplantes Flüchtlingsheim demonstrieren, gegen welches sie bereits rund 2.000 Unterschriften gesammelt hatten. Weil die Stadtverwaltung jedoch zwei Tage vor der Demonstration die Heimpläne für gescheitert erklärte, nutzen die Neonazis der »Pommerschen Aktionsfront« den Aufmarsch zur »Feier eines Teilsiegs«. In den Reden überwog rassistische Hetze gegen MigrantInnen und Flüchtlinge, während sich Transparente und Flugblätter ausschließlich auf »volksnahe« Protestparolen gegen Hartz IV beschränkten. Die drei Ueckermünder Kameradschaften »Aryan Warriors« – in schwarzen T-Shirts mit Keltenkreuz-Ärmeln, Vollbärten und schwarzen Sonnenbrillen -, »Nationalgermanischer Bund« (NGB) – mit Seitenscheiteln und sauberen T-Shirts – und die Pommersche Aktionsfront – mit weißen Hemden, Fahnenträgern und Trommlern – marschierten dabei gemeinsam mit dem NPD-Kreisverband Stralsund, dem Märkischen Heimatschutz und dem NPD-Kreistagsabgeordneten Michael Andrejewski.
Die extreme Rechte ruft auf und alle marschieren mit
In der seit Jahren als rechte Hochburg bekannten Kleinstadt Köthen (Sachsen-Anhalt) wurden die Proteste gegen Hartz IV gleich zu Beginn vom örtlichen Kreisverband der Republikaner (REP) organisiert. Als Anmelder fungierte der 43jährige REP-Sympathisant Gunnar P., als Drahtzieher der REP-Stadtrat Mirko Theodor. Dieser legte zwar Wert darauf, die Proteste als Privatperson zu organisieren, doch die Inhalte ließen an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig. Bei der ersten Demonstration Ende Juli trugen Republikaner und Mitglieder der Kameradschaft Köthen das Leittransparent mit dem abgewandelten Kaiser-Wilhelm-Motto »Ich kenne keine Parteien mehr, ich kenne nur noch Deutsche – gegen Hartz IV«. Diesem Leittransparent folgten immerhin mehr als 500 Menschen.
Danach gründeten Republikaner und politisch unorganisierte Köthener das »Bürgerkomitee gegen Abzocke« und riefen zur zweiten Demonstration auf. Es sollte noch einen weiteren Montag dauern, bis DGB, PDS und Kirchen das »Netzwerk für Demokratie und Toleranz« gründeten und vorschlugen, man solle doch gemeinsam demonstrieren. Parteipolitische und »extremistische« Insignien sollten einfach beiseite gelassen werden. »Die Interessen der Betroffenen sollen im Mittelpunkt stehen«, so die SPD-Fraktionschefin im Köthener Stadtrat.
Andernorts war es vor allem das Desinteresse der Organisatoren der Proteste, offensiv gegen die extreme Rechte Stellung zu beziehen, die den Neonazis bei den Demonstrationen gegen Hartz IV eine Plattform bot: In Magdeburg gelang es der Kameradschaft »Festungsstadt« bei der zweiten Montagsdemonstration, sich ungehindert an die Spitze des Demonstrationszugs zu setzen. Bei den darauffolgenden Demonstrationen konnten die AktivistInnen der Kameradschaft gemeinsam mit rechten Hooligans als integraler Teil der Demonstration auftreten und ihre Propaganda weitgehend ungestört unter die Leute bringen. Die Mehrheit der Teilnehmer reagierte mit Gleichgültigkeit auf die Anwesenheit von Neonazis. Versuche von AntifaschistInnen, die Neonazis mit Transparent-Blockaden an der Teilnahme zu hindern, beantwortete die Polizei nach Absprache mit den Veranstaltern, indem sie die Neonazis in den vorderen Teil der Demonstration integrierte.
Im sachsen-anhaltischen Schönebeck war es gar der örtliche DGB-Anmelder, der AntifaschistInnen mit der Bemerkung, man sei »offen für alle«, daran hinderte, Aktivisten der Kameradschaft Schönebeck von der Demonstration auszuschließen. Andernorts in Sachsen-Anhalt, wie beispielsweise in Weißenfels, konnte der NPD-Landesvorsitzende Andreas Karl, der hier auch im Kreistag sitzt, umgeben von Neonaziskin-Bodyguards unmittelbar nach dem ver.di-Bezirksvorsitzenden reden. Karl verzichtete darauf, sich als NPD-Kader vorzustellen, sondern trat als »selbstständiger Dachdeckermeister« auf und erhielt laut Zeitungsberichten neben dem ver.di-Vertreter »den meisten Beifall«.
Dass es durchaus auch anders geht, zeigen Beispiele aus Dessau, Halle und Dresden, wo AntifaschistInnen durch couragiertes Auftreten Neonazis und extreme Rechte von den Protesten ausschlossen. Auch DGB, attac und Sozialforen machten in Flugblättern deutlich, dass Neonazis und rassistische, nationalistische und antisemitische Parolen unerwünscht seien. Die Beispiele zeigen, dass es dringenden Handlungsbedarf gegenüber solchen Tendenzen in der gegenwärtig zugespitzten sozialen Situation gibt. Politische Interventionen werden aber nur dann Aussicht auf Erfolg haben, wenn nationalistische, rassistische und rechtsextreme Positionen eine entschlossene, inhaltlich begründete Ausgrenzung erfahren; egal ob sie von explizit rechten Gruppen oder einer Strömung innerhalb der Protestbewegung vertreten werden.
Standortnationalismus
Als Motivation für ihre Teilnahme am Protest geben viele Menschen in Ostdeutschland ihre Forderung nach Angleichung der Lebensverhältnisse mit Westdeutschland an, um im gleichen Atemzug die Befürchtung zu äußern, diese Angleichung werde mit Polen vollzogen. Hier werden soziale Ängste als standortnationalistische und rassistische Ressentiments artikuliert. Wer, wie vielerorts auch von Gewerkschaften geschehen, die nationale Solidarität des Kapitals einfordert, für wen die Zielgruppe von Protesten und möglichen Veränderungen ausschließlich der weiße, deutsche, männliche Facharbeiter ist, welcher gegen Migranten, Frauen und Jugendliche in Stellung zu bringen sei, vertritt, gewollt oder nicht, eben jene nationalistisch überformte Standortlogik, derer sich auch die Herrschenden bedienen.
Deutsche Arbeit
Der Ruf nach Arbeit erscholl auf den Demonstrationen besonders laut. Damit unterwerfen sich die Betroffenen eben jener kapitalistischen Verwertungslogik, die sie andererseits so vehement zu kritisieren glauben. Hier artikuliert sich das Bedürfnis, die eigene Arbeitskraft um fast jeden Preis zu verkaufen, obwohl überdeutlich ist, dass diese eben nicht mehr gebraucht wird und im Sinne des Kapitals verwertet werden kann. Dahinter steht die besonders in Ostdeutschland breit verankerte Überzeugung, der Wert eines Menschen definiere sich über die (Lohn)arbeit.
Diese Wertsetzung impliziert einen sozialdarwinistischen Ausschluss all jener, die unter diesem Normativ nicht arbeiten können oder wollen: Alleinerziehende Mütter ebenso wie Behinderte oder sozial diskriminierte Menschen. Wer eine soziale Anthropologie nur über Arbeit konstituiert sieht, folgt letztlich einer Ausgrenzungsideologie nach dem Motto: Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen. Wenn NPD und Kameradschaften »Arbeitsplätze statt Kriegseinsätze« oder »Arbeit zuerst für Deutsche« fordern, können sie an diese fetischisierte Auffassung von Arbeit anknüpfen. Aus unserer Sicht kommt es darauf an, den Begriff der Lohnarbeit und seine Implikationen in Bezug auf soziale Aneignungsprozesse radikal in Frage zu stellen. Eine soziale Bewegung, die die Sehnsucht nach lohnarbeiterischer Entfremdung reproduziert, führt sich selbst ad absurdum. Wir halten gemeinsam mit der Arbeitslosenbewegung und Sozialhilfegruppen die Forderung nach einem existenzsichernden, voraussetzungslosen Grundeinkommen für einen wichtigen Ausgangspunkt im Katalog realpolitischer Forderungen für eine Gesellschaft, in der alle gleiche Rechte haben.
Der Staat als Retter ?
Ebenso laut wie der Ruf nach Arbeit ist der nach dem Staat. An ihn wird, statt die Sachzwanglogik der Agenda 2010 in Frage zu stellen, appelliert, doch für Verteilungsgerechtigkeit zu sorgen. Dies lässt den Fakt außer Acht, dass es, selbst im Falle weiterer marginaler Korrekturen an der Umsetzung von Hartz IV, keine Rückkehr zum Sozialstaat des fordistischen Zeitalters mehr geben wird. Hingegen ist der Aufbau des präventiven Sicherheitsstaates unter Umgehung bürgerlicher Freiheitsrechte sehr weit fortgeschritten. Der Ruf nach dem Staat als Retter vor den Zumutungen des Kapitals bedient einen autoritären Impuls, der sich radikalisiert in den Konzepten neonazistischer Gruppen für einen »deutschen Sozialismus« wiederfindet.
Ostdeutsche Identitätsdiskurse und ihre autoritäre Verfasstheit
Die im Sommer zu beobachtende Dynamik der Ereignisse speist sich in Ostdeutschland aus einer realen Abstiegsangst, jahrelang angesammelten Frustrationen und einer medial multiplizierten temporären Sensibilisierung. Die Ursachen hierfür sind seit langem sattsam bekannt. Die 90er Jahre brachten für viele Ostdeutsche eine soziale, kulturelle und mentale Entwertung ihrer Biographien und Lebenswelt. Form und Massivität der Proteste sowie die Reaktionen mancher BundespolitikerInnen lassen erkennen, dass die Einführung westdeutscher Konflikt- und Konsensregulationsmechanismen und der ihnen zugeordneten Institutionen, wie Gewerkschaften, in Ostdeutschland als gescheitert betrachtet werden können.
In 14 Jahren seit der Wiedervereinigung ist es offenbar nicht gelungen, ein System sozialer Integration zu schaffen, das analog zu den westdeutschen Mechanismen soziale Konflikte kanalisiert und integriert. Dies zeigt sich an der Unfähigkeit der westdeutsch dominierten Institutionen, den Betroffenen entsprechende Angebote zu machen. Als Gegenbewegung hierzu konstituierte sich ein ostdeutscher Identitätsdiskurs, der momentan eine Aktualisierung erfährt. Diese wird aus zwei Gründen erst möglich. Einerseits verfügt der Osten über kein öffentliches Forum der Selbstverständigung. Andererseits provozierten Bundespolitiker mit ihren medialen Interventionsritualen geradezu den Protest, wie das Beispiel des Wirtschaftsministers Wolfgang Clement tragikomisch vor Augen führt. In diesem ostdeutschen Identitätsdiskurs finden sich kaum noch Spurenelemente eines emanzipatorischen Aufbruchs. Denn die von fast ausnahmslos allen ostdeutschen Milieus geteilte Homogenitäts- und Anpassungserwartung gegenüber normabweichendem Verhalten und/oder mentalen und lebenskulturellen Einstellungen, hat einen repressiven und autoritären Charakter.
Wer ist das Volk?
Bei den meisten – ost- und westdeutschen AntifaschistInnen – weckt das massenhafte Auftauchen der Parole »Wir sind das Volk« die Erinnerungen an die nationalistische Mobilisierung in der Endphase der Leipziger Montagdemos im November 1989, die eine Welle rassistischer Pogrome der frühen 90er Jahre einläutete. Für weite Teile der damaligen DemonstrationsteilnehmerInnen scheint diese Parole dagegen noch immer mit dem Aufbegehren gegen einen autoritären Realsozialismus gleichgesetzt zu sein und wird offenbar vor allem als Ausdruck von Opposition gegen alles, was außerhalb der eigenen Veränderungsmöglichkeiten zu sein scheint, verstanden.
Dass diese Parole nach Rechts weit offen ist, MigrantInnen und alle, die nicht ins rechte Weltbild passen, ausschließt, wird dabei von manchen ProtestorganisatorInnen unreflektiert in Kauf genommen oder bewusst gewollt. Hier zeigt sich die Schwäche der radikalen Linken, die dem Rechtsruck im gesellschaftlichen Diskurs seit 1989 nicht mehr wirkungsvoll entgegen treten konnte. Aus dem bitteren Fazit, dass sich die Gesellschaft im wiedervereinigten Deutschland als ausgrenzend konstituiert und immer mehr Menschen, die hier leben, gleiche Rechte und gleichen Zugang zu Ressourcen verwehrt, stellt sich die Frage nach den Perspektiven antifaschistischen Handelns angesichts des zu erwartenden periodischen Wideraufflammens sozialer Proteste und zunehmender Akzeptanz von Rechten als legitime Protestakteure.
Die Abwesenheit der Zivilgesellschaft
Nicht nur anhand der oben genannten Beispiele zeigen sich deutliche Unterschiede im Umgang mit der extremen Rechten: Dort, wo Sozialforen, attac und Gewerkschaften – manchmal auch die PDS – über eigene Strukturen und ein gewachsenes Selbstbewusstsein verfügen, ist es für AntifaschistInnen bislang relativ leicht gewesen, in Bündnissen oder Einzelgesprächen die Notwendigkeit klarer Stellungnahmen gegen Rechts deutlich zu machen – und auch während der Demonstrationen einzufordern.
Doch vielerorts ist der gewerkschaftliche Organisierungsgrad minimal und andere zivilgesellschaftliche Strukturen setzen auf »Integration« um jeden Preis. Hier werden AntifaschistInnen, MigrantInnen und unabhängige Linke als Nestbeschmutzer und Störenfriede angesehen, die mit Verweis auf einen »Nebenwiderspruch« die »Bewegung« spalten wollten. Die Angst etablierter Strukturen vor dem eigenen Bedeutungs- und Einflussverlust zeigte sich in ihrer wochenlangen Handlungsunfähigkeit gegenüber den Demonstrationen. Zudem haben Teile der Gewerkschaften und der PDS kein Interesse an einer radikalen, unabhängigen sozialen Bewegung. Ebenso wenig, wie sie ein Interesse haben, sich gegen den offensichtlichen oder auch nur scheinbaren Mainstream der Proteste zu stellen und durch klare Positionierung gegen Rechts »anzuecken«.
Perspektiven: Zurück zu den frühen 90ern?
Die anhaltenden Wahlerfolge der NPD sind lediglich der sichtbarste Ausdruck davon, dass die rassistische Botschaft der extremen Rechten bewusst gewählt wird – obwohl sich VertreterInnen fast aller Parteien darum bemühen, ihre Politik nach Rechts offen und anschlussfähig zu halten. Hier zeigt sich, dass das Original offenbar anziehender ist als beispielsweise die rassistische Kampagne von CDU/CSU gegen die doppelte Staatsbürgerschaft oder das Zuwanderungsgesetz.
Zudem wird deutlich, dass AntifaschistInnen zunehmend mit regionalen Unterschieden konfrontiert sind: In größeren Städten West- und Ostdeutschlands gelingt es eher, die vorhandenen Strukturen von Gewerkschaften oder PDS und Kirchen zu klaren Positionierungen gegen Rassismus und gegen Neonazis zu bewegen. Dort allerdings, wo die extreme Rechte ohnehin schon seit Jahren massiv präsent ist, wird sie ihre Hegemonie weiter ausbauen können. Hier scheint für AntifaschistInnen die Aufgabe der »NestbeschmutzerInnen« und »ProvokateurInnen«, die durch Skandalisierung und mit Hilfe überregionaler Medien zumindest Öffentlichkeit herstellen, am erfolgversprechendsten.