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»Das eigene Leid begreift man nicht.« (1)

Erin McGlothlin
Einleitung

Fred Wanders »Der siebente Brunnen und die Geschichte des Selbst.«

Der nachstehende Text der amerikanischen Germanistin Erin McGloth in beschäftigt sich mit Fred Wanders im Jahr 2005 neu aufgelegten Buch »Der siebente Brunnen« und führt in die Thematik der literarischen Verarbeitung von Auschwitz Erfahrung kontextuell ein. Der Text erscheint in zwei Teilen in AIB Nr. 79 und Nr. 80. Wir danken dem Weidle Verlag Bonn und der Autorin für die freundliche Abdruck-Genehmigung.

Bild: attenzione-photo.com

Die kritische Rezeption von Fred Wanders Erzählung »Der siebente Brunnen« rückt die Holocaust-Erfahrung des Autors als wesentliche Komponente für Lektüre und Verständnis des Textes in den Vordergrund. Obwohl der Erzähler der Geschichten namenlos bleibt und damit nie explizit mit dem Autor des Textes in Verbindung gebracht wird, deutet die Überlappung der Erfahrungen des Erzählers im »l’univers concentrationnaire« und Wanders eigener Geschichte in Auschwitz, Buchenwald und anderen Lagern auf eine referentielle Beziehung, die der Leser beim Lesen berücksichtigen muß.

In Rezensionen und literaturkritischen Analysen zu Wanders »Der siebente Brunnen« wird immer wieder auf die autobiographischen Züge des Textes verwiesen. Tatsächlich ist der Zusammenhang zwischen einem sogenannten Holocaust-Text und den darin enthaltenen Bezügen zu realen Erfahrungen während des Holocaust ein entscheidender Faktor in der Rezeption nicht nur von Wanders Büchern, sondern allgemein auch von den literarischen Werken, die unter dem Begriff ›Holocaust-Literatur‹ zusammengefaßt werden.

Die Zeugenberichte und Erzählungen von Holocaust-Überlebenden, ob nun autobiographisch, fiktional-autobiographisch oder rein fiktional, sind auf gewisse Weise immer in den tatsächlichen Erfahrungen der Autoren verankert und durch sie authentifiziert, unabhängig davon, ob diese Erfahrungen direkt und wahrheitsgetreu in den Text eingehen. Das Erkennen der Wahrheit beschriebener Ereignisse ist beim Leser daher (wenn auch nur sehr schwach) verbunden mit dem Erkennen der ontologischen Autorität der eigenen Erfahrungen des Autors; einer Autorität, die laut James Young die Authentizität und – im weiteren Sinne – die Tatsächlichkeit der Aufzeichnung zu verifizieren scheint.1 So nehmen Holocaust-Narrative wie Wanders Buch, aber auch andere Narrative über Unterdrückung und Trauma, einen privilegierten Status in der gegenwärtigen Literaturkritik ein, da die Diktate des New Criticism und des Poststrukturalismus, welche eine strikte Trennung zwischen den Lebenserfahrungen des Autors und seinen fiktionalen Texten fordern, bereitwillig aufgegeben werden.

Der Holocaust ist eines der wenigen unzweifelhaften historischen Ereignisse, welches die postmoderne Behauptung in Frage stellt, daß sich ein Text immer nur auf sich selbst bezieht und keinerlei Referenz zur ›realen‹ Welt außerhalb des Texts besteht. Zu behaupten, daß ein Holocaust-Text keinerlei Bezug zur realen Welt psychischen Traumas und physischen Schmerzes habe, bedeutet nicht nur, die Wichtigkeit des Ereignisses, über das der Autor Zeugnis ablegt, herunterzuspielen, sondern auch, ihm die Autorität über seine eigene Erfahrung abzusprechen. Sicher ist dies auch einer der Gründe, warum es für die Leser entscheidend ist zu wissen, daß der Text von einem Überlebenden des Holocaust geschrieben wurde, da der Status des Autors als Überlebender auf die eigene reale Erfahrung des Holocaust verweist und damit die Authentizität der Holocaust-Erfahrung im Text zu garantieren scheint. Philippe Lejeune bezeichnet diese Beziehung zwischen der Lebenserfahrung eines Autors und der Authentizität seiner Autobiographie als »autobiographischen Pakt«, als einen Vertrag zwischen Autor und Leser, der durch den Unterzeichner des Textes gültig wird. 2

Der autobiographische Pakt hat in den literarischen Texten über den Holocaust, seien sie nun offensichtlich autobiographisch oder nicht, an Bedeutung gewonnen, da uns der Name des Autors eine Garantie gibt, daß die im Text beschriebenen unfaßbar brutalen Ereignisse tatsächlich möglich waren, daß das Undenkbare tatsächlich passiert ist und daß der Text kein Ausdruck purer Phantasie ist, wie es die Leugner des Holocaust gern behaupten.3 In den letzen Jahren haben Schriftsteller und Kritiker versucht, die problematische Verbindung zwischen persönlicher Holocaust-Erfahrung und einer privilegierten textlichen Authentizität in Frage zu stellen, aber die Reaktionen von einflußreichen Holocaustkritikern wie zum Beispiel Elie Wiesel zeigen, daß diese Problematik noch weit von einer Lösung entfernt ist.4

Das zeigt sich auch bei den Kritikern von Fred Wander, die den Versuch unternehmen, den Siebenten Brunnen als Autobiographie zu lesen und sich dabei unbehaglich fühlen. Das trifft auch auf jene Kritiker zu, die über den Text geschrieben haben, bevor Wander seine selbst so bezeichnete – und damit offenbar autorisierte – Autobiographie »Das gute Leben« veröffentlicht hat. Obwohl die Ereignisse, die in »Das gute Leben« und »Der siebente Brunnen« dargestellt werden, nicht wesentlich voneinander abweichen, herrscht unter den Kritikern die einhellige Meinung, daß »Das gute Leben« eine größere biographische Authentizität besitzt, während sich »Der siebente Brunnen« eher von der autobiographischen Transparenz entfernt und sich auf das unscharfe Territorium der Fiktion zubewegt.5

Es gibt einige Gründe, warum man Wanders »Der siebente Brunnen« nur zögerlich als unzweifelhafte Autobiographie bezeichnet. Zum einen, wie Birgit Kröhle in ihrer Studie über die literarische Verarbeitung von Auschwitz-Erlebnissen6   aufzeigt, verortet Wander seine Erzählung in einer Reihe von Lagern, aber schließt Auschwitz – den Ort, der in der literarischen Vorstellung der Nachkriegsliteratur zum locus classicus des absoluten Bösen wurde –, und somit seine eigene Erfahrung in Auschwitz, aus seinem Buch aus.7

Das Fehlen von Auschwitz in Wanders Texten ist erstaunlich, wenn man bedenkt, daß die Werke vieler angesehener Schriftsteller, die den Holocaust überlebt haben, sich ganz speziell auf die Auschwitzerfahrung konzentrieren (u.a. Primo Levi, Elie Wiesel, Ruth Klüger, Liana Millu, Tadeusz Borowski, Cordelia Edvardson, Charlotte Delbo, Jean Améry). Obwohl Wander, wie Kröhle feststellt, in der Lage ist, seine Auschwitzerfahrung zu kommunizieren, indem er sie in der Figur des Tadeusz Moll verarbeitet, der, nahezu unfaßbar, das Auschwitzer Sonderkommando überlebt hat, so bleibt doch die Auschwitzgeschichte des Ich-Erzählers im Text unberührt. Sie bleibt verborgen in der Vorgeschichte des Textes, auch wenn man sie in anderen Figuren im Text aufspüren möchte. Bei jedem Leser, der mit Wanders Biographie vertraut ist, löst das Fehlen dieses autobiographischen Bezugs auf eine so wesentliche Erfahrung wie Auschwitz eine gewisse Unbehaglichkeit aus (und die biographischen Angaben im Klappentext erlauben es dem Leser zudem noch, sich mit den wesentlichen Ereignissen in Wanders Leben vertraut zu machen). Kröhle behauptet: »Das Leugnen des eigenen Erlebens wird angesichts der Kenntnis von Wanders Biographie – er selbst war ja auch in Auschwitz – zum Kunstgriff und kann so als literarische Schizophrenie gewertet werden [...].«8

Kröhles Kommentar deutet im besten Fall darauf hin, daß das Fehlen der Auschwitzerfahrung auf ein pathologisches Problem in der autobiographischen Stimme verweisen könnte, bei dem das ›Ich‹ nicht in der Lage ist, sich mit Momenten der eigenen Erfahrung zu identifizieren; im schlimmsten Fall scheint es den autobiographischen Anspruch der Erzählung außer Kraft zu setzen bzw. zu relativieren und damit die Unantastbarkeit des autobiographischen Paktes mit dem Leser zunichte zu machen.

Ein zweiter Grund, warum Kritiker zögern, den »Siebenten Brunnen« als rein autobiographisch zu klassifizieren, betrifft den Stil des Textes. Während »Das gute Leben« eher dem klassischen Genre einer Autobiographie entspricht, in der das ›Ich‹ meist im Zentrum der Ich-Erzählung steht, die die Entwicklung des Subjekts in chronologischer Abfolge beschreibt, weist »Der siebente Brunnen« ein anderes Muster auf. Wie Kritiker behaupten, trägt Wanders Erzählung ›poetischere‹ Züge, als man dies von einer Autobiographie erwarten würde (Birgit Kröhle spricht von einer »Poetisierung der Sprache«, die der Erzählung »eine gewisse Künstlichkeit« verleiht)9 und entfernt sich somit weiter von der strikten Dichotomie zwischen Autobiographie und Fiktion. So betrachtet kommt die Präsentation einer Erfahrung in bildlicher Sprache fast einer Fiktionalisierung gleich. Da sich Wander seinem Gegenstand aus poetischer Perspektive nähert, anstatt ihn in konventioneller autobiographischer Form zu präsentieren, ästhetisiert der Text die Erfahrung, die erzählt werden soll und scheint dadurch die geschichtlichen Ereignisse des Holocaust, die erzählt werden, zu schmälern.

Der Text untermauert somit den Eindruck, daß Poesie in gewisser Weise Geschichte verzerrt.10 Für die Kritiker, die eine nüchterne und schmucklose Perspektive des historischen Augenzeugen erwarten, kann die poetische Qualität in Der siebente Brunnen den autobiographischen Wert nur beeinträchtigen. Dieses Unbehagen hinsichtlich der ästhetischen und literarischen Qualität von Wanders Buch ist gewiß kein neues Phänomen in der Literatur über den Holocaust, und es ist auch längst noch keine Lösung für diese Problematik in Sicht. Im Kanon der Holocaust-Literatur findet man Texte von Autoren wie Elie Wiesel, der sich gegen die Trivialisierung der Shoah durch ästhetisch attraktive (und somit verzerrende) Hüllen ausspricht11 , neben fiktionalen Werken von Autoren der zweiten Generation, die keinen direkten Zugang zur Holocausterfahrung haben und ihre Darstellung daher notgedrungen ›fiktionalisieren‹ müssen.12

Ein dritter Grund, warum viele Kritiker zögern, den »Siebenten Brunnen« eindeutig als Wanders Autobiographie zu bezeichnen, ist das Fehlen eines starken autobiographischen ›Ich‹, das über die eigenen Erfahrungen erzählt. Im Gegensatz zu solch typischen Autobiographen wie Rousseau und Goethe, in der Holocaust-Literatur Primo Levi oder Elie Wiesel, die mit ihren charakteristischen Merkmalen das Genre definieren, zieht es der Erzähler in Wanders Text vor, sich in den narrativen Hintergrund zurückzuziehen und dem Leser keine Geschichte über die Entwicklung des eigenen Selbst zu erzählen, sondern Geschichten über die anderen Figuren.

Tatsächlich scheint die Idee der autobiographischen Entwicklung in Wanders Text unterlaufen zu werden, da das ›Ich‹ des Texts – zumindest zu Beginn des Buches – fast nichts über die eigene Geschichte preisgibt und auch keine Anhaltspunkte bietet, inwiefern das Leben und die Erfahrungen im Lager ihn verändert haben. Es ist also ganz anders als bei Primo Levi, der uns an seinem unermüdlichen Kampf, sich eine humanistische Lebensauffassung zu bewahren, teilhaben läßt. Das ›Ich‹ in Wanders Text besitzt keine Vergangenheit – seine Geschichte beginnt und endet im Lager. Lieber enthüllt er die Vergangenheit der anderen Protagonisten, wie zum Beispiel von de Groot, Tschukran und Meir Bernstein, indem er nicht nur Geschichten über sie erzählt, sondern auch ihre Stimmen annimmt, um stellvertretend für ihre Autobiographien zu stehen. Auf diese Weise wird der Leser mit den Leben und Geschichten der anderen Figuren vertraut gemacht, während das ›Ich‹, das diese Geschichten erzählt, verschwommen und undurchsichtig bleibt. Darauf hat Christa Wolf hingewiesen: »Auch die zufälligen Eigenschaften und Eigenheiten des wirklichen Autors, den man zu kennen, mit dem man befreundet zu sein glaubt, sind zurückgetreten (wie übrigens, bis auf wenige, allerdings wichtige und bezeichnende Episoden, er selbst als Figur). Er kann ›ich‹ sagen, ohne nur sich selbst zu meinen.«13

Für Christa Wolf stellt die fast gänzliche Abwesenheit eines starken Ich-Erzählers in »Der siebente Brunnen« kein Problem dar, da sie weniger daran interessiert ist, das Buch in herkömmliche Definitionen von Autobiographie zu pressen, sondern eher an der Art und Weise, wie die Mission der Zeugenschaft vorgetragen wird. Für andere Kritiker bedeutet dieses Fehlen eines selbstdefinierten autobiographischen Subjekts jedoch, daß sie das Buch nur mit Unbehagen und Zurückhaltung als autobiographisch betrachten können.14

Laut Jörg Thunecke gibt es noch einen weiteren entscheidenden Grund, warum sich Wanders Text der Einordnung als Autobiographie entzieht. In einem Interview, das Thunecke 1998 mit Wander führte, sagte Wander, daß er es nicht vermag, direkt über seine Erfahrungen in Auschwitz und anderen Lagern zu schreiben, was auch erklärt, warum diese Erfahrungen in »Das gute Leben« größtenteils ausgespart bleiben.15 Um überhaupt über sie schreiben zu können, wählte Wander für seine Geschichten aus den Lagern einen distanzierten Erzählerstandpunkt. Dies schien die einzige Möglichkeit, Zugang zu den Erinnerungen aus dem Holocaust zu finden, ohne von ihnen überwältigt zu werden.

Die Wahl dieses Erzählerstandpunkts ist mehr als nur eine ästhetische Entscheidung aus einem breiten Spektrum an Darstellungsmöglichkeiten. Es ist ein Weg, in der Nachkriegswelt zu überleben, in einer Welt, in der die Präsenz traumatischer Erinnerungen den Überlebenden zu überschwemmen droht. In gewisser Weise spiegelt Wanders Erzählstrategie sein Verhalten in den Konzentrationslagern wider, was ihm auch zu überleben half: das Prinzip einer beobachtenden Distanz, wie Wander 1994 in seiner Selbstbefragung »Nicht jeder braucht eine Heimat« feststellt: »Im KZ hieß die erste Regel, die ich lernte: Nicht auffallen, bleib’ immer im Hintergrund! Verschwinde beizeiten, löse dich auf! Was dem Wesen des Schlemihls – einer Volksfigur der jüdischen Literatur – sehr nahe kommt.«16 Wanders distanzierter Erzählstil strebt daher nicht nur danach, das Überleben sicherzustellen, sondern integriert ihn – wie auch in den Lagern – in eine literarische Tradition jüdischer Außenseiter und deren Strategien des Durchhaltens. Während sein Text einerseits versucht, die jüdische künstlerische Tradition zurückzugewinnen und wiederzubeleben, so kennzeichnet es andererseits das Trauma der eigenen intendierten Zerstörung.

Thunecke bezeichnet den »Siebenten Brunnen« abwechselnd als ein Werk, das fiktional, fiktionalisiert, autobiographisch und halb-autobiographisch ist.17 Das Unvermögen Thuneckes und vieler anderer Kritiker, Wanders Buch einer bestimmten Gattung zuzuordnen18 , hat eine Reihe von Konsequenzen.

Zum einen verweist es auf die narrative Komplexität von Wanders Buch; eine Komplexität, die es dem Leser erschwert, einen leichten Zugang zur Welt der Lager zu finden und sich mit der Erzählperspektive zu identifizieren oder diese auch nur zu akzeptieren. Zum anderen erhellt es die allgemeine Problematik der Einordnung von literarischen Texten in Gattungen. Denn die Konzepte Fiktion und Autobiographie sind weniger an den gegensätzlichen Polen eines Spektrums zu finden, sondern stehen ganz im Gegenteil in enger Beziehung zueinander. Einerseits bietet laut George Gusdorf das eigene Leben das Material, aus dem Fiktion entsteht: »Erfahrung ist die Grundlage aller Schöpfung, die Elemente aus der gelebten Wirklichkeit borgt und diese ausbaut. Man muß bei der Phantasie von sich selbst ausgehen, von seinen eigenen Bestrebungen bzw. Wünschen.«19 Daher ist für Gusdorf »jeder Roman eine Autobiographie durch seine Rolle als Übermittler.«20

Andererseits muß der Autobiograph Zugang zu den fiktionalen Werkzeugen der Phantasie haben, um aus unzusammenhängenden Fakten und noch nicht interpretierten Ereignissen seines Lebens eine Lebensgeschichte zu konstruieren. Nach Louis A. Renza ist die Schaffung eines autobiographischen Narrativs dem Schreiben fiktionaler Geschichten sehr ähnlich: »Bei der Auswahl, Anordnung und Integration der Lebenserfahrungen eines Schriftstellers entsprechend seiner teleologischen Ansprüche ist die Autobiographie bestimmten Erfordernissen des imaginativen Diskurses verpflichtet. Kurz gesagt, die Autobiographie verwandelt empirische Fakten in Artefakte: sie ist definierbar als eine Form der ›Prosaliteratur‹.«21 Damit aber erweist sich die Konstruktion der Autobiographie in Opposition zu Fiktion als problematisch, da sich beide im Prozeß des Schreibens gegenseitig evozieren und bedingen. Dichtung ist Wahrheit, und Wahrheit ist Dichtung.

Überdies zeigt das Problem, der Erzählung »Der siebente Brunnen« einen festen Platz auf dem Fiktion-Autobiographie-Spektrum zuzuweisen, Spannungen innerhalb des Genres Autobiographie auf. Autobiographie wird eher zum Schauplatz einer dialektischen Beziehung zwischen zwei Polen, als daß sie sich im Bestreben nach Aufrichtigkeit der Kraft der Phantasie verschließt. Auf diese Weise sind die Spannungen zwischen Fiktion und Autobiographie in den autobiographischen Prozeß eingeschrieben. In autobiographischen Erzählungen nähert sich die Fiktion der autobiographischen Erfahrung häufig durch die Verwendung bestimmter ästhetischer Strategien. Dazu kommt, daß die Probleme, die inhärent mit dem Annehmen einer autobiographischen Stimme verbunden sind, nämlich die Konstruktion einer Identität, die über die reine Anhäufung von Lebensfakten hinausgeht, durch die narrative Darstellung dieser Stimme vermittelt werden.

Der Prozeß, durch den die Geschichte des Selbst erzählt wird, ist daher teilweise ein fiktionales Unterfangen, da er eher auf die Schaffung dieses Selbst Einfluß nimmt, als eine Form von A-Priori-Identität zu enthüllen. Gusdorf stellt fest: »Autobiographie ist nicht nur ein einfaches Rekapitulieren der Vergangenheit; sie ist auch der Versuch und das Drama eines Menschen, der damit kämpft, sich selbst in seiner Gestalt und in einem bestimmten historischen Moment wieder zu sammeln«.22 Das Projekt der Autobiographie ist auf gewisse Weise ein Zu-sich-selbst-Kommen; ein Versuch, das Selbst kennenzulernen durch das Einschreiben von Identität in Sprache durch Erzählen von Geschichten über das eigene Selbst und das von anderen.

Die Schwierigkeit, das Selbst im autobiographischen Prozeß zu erkennen und zu erschaffen, ist ein Problem, mit dem sich nahezu jede Autobiographie auf die eine oder andere Weise konfrontiert sieht, und es sind die Spannungen zwischen Fiktion und Autobiographie, die ihre Spuren im Text hinterlassen. Auf diese Weise dokumentiert der Text, wie er die Fragen über Dichtung und Wahrheit verhandelt, oder in Gusdorfs Worten: »eine Parabel des Bewußtseins auf der Suche nach der eigenen Wahrheit.«

Des weiteren ist die Problematik von Identität und die der Konstruktion des autobiographischen Subjekts besonders für autobiographische Texte über den Holocaust relevant, da die Schaffung und Kontinuität des Selbst, auf der sich Autobiographie begründet, in diesem Fall nicht nur durch die textliche Suche nach einem Selbst herausgefordert wird, sondern auch durch die radikale Verneinung der Identität, wie sie während des Holocaust erfahren wurde. Wie Sara Horowitz behauptet, müssen die herkömmlichen Ansichten über Autobiographie erweitert werden, um den spezifischen Problemen eines Holocaust-Texts Rechnung zu tragen: »Was macht Autobiographie aus unter Bedingungen, die den Besitz des eigenen ›Namens‹ ausschließen, Bedingungen, die eine Übereinstimmung zwischen dem gelebten und dem erzählten Leben verbieten, Bedingungen, unter denen die ›Welt draußen‹ das konjugierte ›Ich‹ vernichten würde, würde man beide zusammenbringen? Die Ereignisse, die vom autobiographischen Subjekt, welches den Holocaust überlebt hat, erinnert und erzählt werden, hinterfragen die starren Konventionen des Genres. Fiktionale Autobiographie und autobiographisch inspirierte Fiktion bieten eine Möglichkeit, sowohl das Wesen dieser Herausforderung als auch die Ereignisse und die Auswirkungen, die dafür verantwortlich sind, zu erkunden.«23

Wenn Horowitz’ Aussage wahr ist, nämlich, daß das Ringen, ein autobiographisches ›Ich‹ zu erlangen, für Überlebende des Holocaust wesentlich spannungsgeladener ist als für den herkömmlichen Autobiographen, dann folgt daraus logischerweise, daß der Text eine stärkere Spur dieser Bemühung zeigt. Denn im Falle eines Holocaust-Texts wird das ›Bewußtsein auf der Suche nach der eigenen Wahrheit‹ gleichzeitig zu einer Suche nach der Wahrheit des eigenen Überlebens.

  • 1Vgl. James Young: Writing and Rewriting the Holocaust. Narrative and the Consequences of Interpretation. Bloomington: Indiana University Press 1988, S. 21.
  • 2Philippe Lejeune: On Autobiography. Übers. von Katherine Leary. Minneapolis: University of Minnesota Press 1989, hier S. 19, 29. Alle Übersetzungen aus der englischsprachigen Sekundärliteratur sind von der Vf.
  • 3Vgl. Sara R. Horowitz: Voicing the Void. Muteness and Memory in Holocaust Fiction. Albany: State University of New York Press 1997, S. 8: »For survivor writing, a literature of testimony develops that encompasses not only autobiography but fictional autobiography and imaginative literature, as well as poetry. The actual experiences of the writer, whether represented or transfigured in the work itself, anchor and validate the writing. The closer the writer to what Primo Levi refers to as ›the bottom‹ – those murdered by Nazi genocidal practices – the more the work could be construed as itself being a part, a trace, a fragment of the atrocity or at any rate of the survivor’s memory or psyche.«
  • 4Vgl. Elie Wiesel: Trivializing Memory. In: Ders.: From the Kingdom of Memory: Reminiscences. New York: Summit Books 1990, S. 165-172, hier S. 166: »Just as no one could imagine Auschwitz before Auschwitz, no once can now retell Auschwitz after Auschwitz. The truth of Auschwitz remains hidden in its ashes. Only those who lived it in their flesh and in their minds can possibly transform their experience into knowledge. Others, despite their best intentions, can never do so.«
  • 5Birgit Kröhle: Geschichte und Geschichten: Die literarische Verarbeitungen von Auschwitz-Erlebnissen. Bad Honnef: Bock + Herchen 1989, S. 99, 101, 113; Jörg Thunecke: Fred Wander’s semi-autobiographical narrative, The Seventh Well – »Such stories I never heard again.« In: The Fiction of the I: Contemporary Austrian Writers and Autobiography. Hg. von Nicholas J. Meyerhofer. Riverside: Ariadne Press 1999, S. 242258, hier S. 242, 247, 251; Jörg Rainer: »Ich will weg, ich weiß nicht wohin.« Flucht und Heimatlosigkeit als Stilelemente im Werk Fred Wanders. In: Le texte et l’idée 7 (1992/1993), S. 123-153, hier S. 124, 126, 148.
  • 6Vgl. Kröhle, Geschichte und Geschichten, a.a.O., S. 95, 108.
  • 7Eine ausgezeichnete Analyse von Auschwitz als dem ›schwarzen Loch‹ der Holocaust-Repräsentation, als »the metaphor to beat all metaphors«, findet sich bei Sidra DeKoven Ezrahi: Representing Auschwitz. In: History and Memory Jg. 7, 2 (1996), S. 121-154, hier S. 121f.
  • 8Kröhle, Gesichichte und Geschichten, a.a.O., S. 107.
  • 9Ebd., S. 104.
  • 10Sara Horowitz findet besonders im kritischen Schreiben über den Holocaust »a high degree of discomfort with the idea of an aesthetic project built upon actual atrocity, as well as a proprietary sense of what belongs properly to the domain of the historian.« Horowitz, Voicing the Void, a.a.O., S. 8.
  • 11Vgl. Wiesel, Trivializing Memory, a.a.O., S. 171.
  • 12Vgl. Efraim Sicher: The Burden of Memory: The Writing of the Post-Holocaust Generation. In: Breaking Crystal. Writing and Memory after Auschwitz. Hg. von Efraim Sicher. Urbana: University of Illinois Press 1998, S. 19-88.
  • 13Christa Wolf: Gedächtnis und Gedenken. Fred Wander: Der siebente Brunnen. In: Dies.: Lesen und Schreiben. Aufsätze und Prosastücke. Darmstadt: Luchterhand 1972, S. 135146, hier S. 139. Vgl. auch in diesem Band S. 3.
  • 14Andrea Reiter schreibt: »Wander’s Der siebente Brunnen (1970) and Améry’s Jenseits von Schuld und Sühne (1966), share with the other reports their classification as autobiography. The situation of a firstperson narrator who presents his own experience using the expected personal pronoun ›I‹ is, however, modified in both texts. Wander limits himself, in the main, to writing about the fate of some of his fellow inmates, almost all of whom perished in the camps. The subtitle ›Erzählung‹ underlines his choice of narrative perspective.« Andrea Reiter: »Was mich entmenschlicht hat, ist Ware geworden, die ich feilhalte«: Concentration Camp Experience of Jean Améry and Fred Wander. In: The Journal of Holocaust Education Jg. 5, 1 (1996), S. 1-13, hier S. 2.
  • 15Thunecke, Fred Wander’s semi-autobiographical narrative, a.a.O., S. 242258, hier S. 243.
  • 16Fred Wander: Nicht jeder braucht eine Heimat: Selbstbefragung 1994. In: Literatur und Kritik 293/294 (1995), S. 40-43, hier S. 41f.
  • 17Thunecke, Fred Wander’s semi-autobiographical narrative, a.a.O., S. 242, 247, 251.
  • 18Birgit Kröhle und Jörg Rainer kategorisieren den Siebenten Brunnen sowohl autobiographisch als auch fiktiv. »Experience is the prime matter of all creation, which is an elaboration of elements borrowed from lived reality. One can exercise imagination only by starting from what one is, from what one has tried either in fact or wish.« Georges Gusdorf: Conditions and Limits of Autobiography. In: Autobiography: Essays Theoretical and Critical. Hg. von James Olney. Princeton: Princeton University Press 1980, S. 28-48, hier S. 45.
  • 19»Every novel is an autobiography by intermediary.« Ebd., S. 46.
  • 20»In selecting, ordering, and integrating the writer’s lived experiences according to its own teleological demands, the autobiographical narrative is beholden to certain imperatives of imaginative discourse. Autobiography, in short, transforms empirical facts into artifacts: it is definable as a form of ›prose fiction‹.« Louis A. Renza: The Veto of the Imagination: A Theory of Autobiography. In: Autobiography: Essays Theoretical and Critical, a.a.O., S. 268-295, hier S. 269.
  • 21»Autobiography is not a simple recapitulation of the past; it is also the attempt and the drama of a man struggling to reassemble himself in his own likeness at a certain moment of history.« Gusdorf, Conditions and Limits of Autobiography, a.a.O., S. 43.
  • 22»A parable of a consciousness in quest of its own truth.« Ebd., S. 44.
  • 23Horowitz, Voicing the Void, a.a.O., S. 12