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„Ich bin objektiv, aber nicht neutral“

Einleitung

Vor 40 Jahren starb Joseph Wulf — Widerstandskämpfer, Auschwitz-Überlebender, Historiker und Pionier der Holocaust-Forschung 

Screenshot von www.hagalil.com

Joseph Wulf am Schreibtisch in der Giesebrechtstraße in Berlin mit der Mahnung: „Erinnere Dich an die sechs Millionen“

Am 10. Oktober 1974 nahm sich Joseph Wulf das Leben. Er sprang aus dem Fenster seiner Wohnung in Berlin-Charlottenburg. Die Hintergründe des Suizids waren vermutlich vielschichtig. Im Jahr zuvor war seine Ehefrau Jenta gestorben. Von dem Schock und der Trauer über den Verlust seiner langjährigen Weggefährtin, die wie er die Shoah überlebt hatte, vermochte sich Wulf nicht mehr zu erholen. Zudem verzweifelte der Publizist, der in der Öffentlichkeit als streitbarer Charakter galt und sich nicht selten mit offenen oder unterschwelligen Anfeindungen konfrontiert sah, am Desinteresse und an der Indifferenz, die seiner Beobachtung nach den Umgang mit der nationalsozialistischen Vergangenheit im überwiegenden Teil des bundesdeutschen Gesellschaft, aber auch in den Medien, der Politik und in der Geschichtswissenschaft prägten. In einem Brief an seinen Sohn David konstatierte Wulf Anfang August 1974 desillusioniert: „Ich habe hier 18 Bücher über das Dritte Reich veröffentlicht und das alles hatte keine Wirkung. Du musst dich bei den Deutschen totdokumentieren, es kann in Bonn die demokratische Regierung sein — und die Massenmörder gehen frei herum, haben ihre Häuschen und züchten Blumen.“

„Ich bin objektiv, aber nicht neutral“ — Joseph Wulf und seine Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit

Diese Wahrnehmungen teilten freilich viele Überlebende der nationalsozialistischen Verfolgung. Hierfür war nicht nur die Feststellung ausschlaggebend, dass sich die juristische Vergangenheitsbewältigung überwiegend als „Desaster“ (Norbert Frei) erwiesen hatte und die vielfach dokumentierten bis in die NS-Zeit zurückreichenden personellen Kontinuitätslinien in Politik und Verwaltung einen fortwährenden Skandal darstellten. Als besonders kennzeichnend für die Geschichts- und Erinnerungskultur der Bundesrepublik bis zum Ende der 1970er Jahre erwies sich jedoch die weitgehende Ausblendung der Perspektiven und Erfahrungen jüdischer Shoah-Überlebender, Publizist_innen, Schriftsteller_innen und Historiker_innen, deren Stimmen kaum Beachtung fanden. Während etwa vormalige hochrangige NS-Eliten wie beispielsweise Rüstungsminister Albert Speer mit seinen im Jahr 1969 veröffentlichten „Erinnerungen“ zu Bestsellerautoren avancierten, fand Raul Hilberg, der 1941 als Kind von Wien in die USA emigriert war, für sein 1961 erstmals in den USA erschienenes Standardwerk „The Destruction of the European Jews“ über zwei Jahrzehnte lang im deutschsprachigen Raum keinen Verleger. Nicht zuletzt in der deutschen Geschichtswissenschaft, selbst bei jenen Vertreter_innen, die sich die Aufklärung über den Nationalsozialismus zur Aufgabe gemacht hatten, stießen jüdische Autor_innen, auf Skepsis und bisweilen kühle Distanz.

Diese Erfahrung musste auch Joseph Wulf machen. In zermürbenden Kontroversen sah sich der Auschwitz-Überlebende immer wieder mit dem ausgesprochenen oder unausgesprochenen Verdikt angeblicher Subjektivität und Unsachlichkeit in der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus konfrontiert. Ein Vorwurf, der Wulf schwer traf und gegen den er sich beharrlich in seinen Forschungen und in umfangreichen Korrespondenzen mit seinen Kritikern verwahrte. „Ich bin objektiv, aber nicht neutral“ beschrieb Wulf sein wissenschaftliches und publizistisches Selbstverständnis — womit er gleichwohl die Ressentiments jener Historiker kaum entkräften konnte, die sich selbst mit dem „Pathos der Nüchternheit“ (Nicolas Berg) zu inszenieren versuchten und auf diese Weise die Deutungshoheit über den historischen Nationalsozialismus gegenüber jüdischen Perspektiven für sich reklamierten. In der Fachwissenschaft blieb ihm, dem „galizischen Juden“, wie er sich selbst bezeichnete, der nie Geschichte studiert hatte und darauf verwies, dass seine „eigentliche Universität“ Auschwitz gewesen sei, bis an sein Lebensende die Anerkennung verwehrt.

Erst seit der Jahrtausendwende wurde Joseph Wulf auch im Kontext der einsetzenden kritischen Auseinandersetzung mit der Rolle der Geschichtswissenschaft in Deutsch­land vor und nach 1945 als „Pionier der Holocaustforschung“ (wieder-) entdeckt und gewürdigt. Mit seinen akribisch rechechierten Veröffentlichungen zu unterschiedlichen Aspekten der nationalsozialistischen Herrschaft, wie auch durch sein damals vergebliches Engagement für die Einrichtung eines Internationalen Dokumentationszentrums in der Villa am Wann­see, in der im Januar 1942 die berüchtigte „Wannsee-Konferenz“ stattgefunden hatte, setzte er wissenschaftliche und erinnerungskulturelle Impulse, die allerdings erst lange nach seinem Tod tatsächlich aufgegriffen werden sollten — zu einem Zeitpunkt freilich als der kämpferische Historiker bereits weitgehend in Vergessenheit geraten war.

„Erinnere dich an die sechs Millionen“ — Die Dokumentation der Shoah als Lebens­aufgabe

Joseph Wulf, im Dezember 1912 als Sohn einer Kaufmannsfamilie in Chemnitz geboren, widmete sich schon früh der Literatur. Sein erstes Buch mit in jiddisch verfassten Mini­aturen erschien im Jahr 1939 in Warschau. Nach dem deutschen Überfall auf Polen schloss er sich in Krakau, dem Sitz des von Hans Frank geführten „Generalgouvernements“, der zionistischen Widerstandsgruppe Akiba an, für die er Botendienste über­nahm. Zudem beteiligte er sich an der Produktion einer Untergrundzeitschrift. Im März 1943 wurde Wulf festgenommen und ins Konzentrationslager Auschwitz-Monowitz verschleppt, wo er unter katastrophalen Bedingungen Zwangs­arbeit beim Aufbau des Buna-Werks der IG Farben leisten musste.

Als das Lager im Januar 1945 angesichts der sich nähernden Roten Armee geräumt wurde, gelang ihm die Flucht. Er, Jenta und sein Sohn hatten somit auf unterschiedlichen Wegen die Shoah überlebt, große Teile seiner Familie — Vater, Mutter, Bruder, Schwägerin und Nichte waren hingegen ermordet worden.

Von nun an machte Joseph Wulf die Dokumentation und Erforschung der präzedenzlosen Verbrechen zu seiner Lebensaufgabe. „Erinnere dich an die sechs Millionen“ lautete sein Leitspruch, den er in hebräischer Schrift über seinem Schreibtisch angebracht hatte. Bereits im Februar 1945 beteiligte er sich an der Gründung der Zentralen Jüdischen Historischen Kommission in Polen, die sich bemühte das Geschehen in den Ghettos, Konzentrations- und Vernichtungslagern umfassend zu dokumentieren und Überlebende nach ihren Erfahrungen zu befragen. Nach Zwischenstationen in Schweden und Paris zog Wulf 1955 nach West-Berlin.

Dort begann er, teilweise in Kooperation mit Léon Poliakov, der während der NS-Zeit in der französischen Résistance aktiv gewesen war, eine rege Publikationstätigkeit. In schneller Folge erschienen umfangreiche Quellendokumentationen über „Das Dritte Reich und die Juden“ (1955), „Das Dritte Reich und seine Diener“ (1956), „Das Dritte Reich und seine Denker“ (1959) sowie über „Das Dritte Reich und seine Vollstrecker“ (1960). Die Bände versammelten äußerst heterogene Dokumente und Quellengattungen. Insofern zeichneten sie ein vielschichtiges Bild nationalsozialistischer Herr­schaft und standen somit in auffälligem Kontrast zu den während der 1950er Jahre dominierenden Deutungs- und Darstellungsmustern, die in personalisiernder, nicht selten dämonisierender Weise in erster Linie Adolf Hitler und andere führende Protagonisten des Regimes für Krieg, Terror und Massenmord verantwortlich machten. Wulf und Poliakov hingegen widmeten sich gleichermaßen dem „Hinnehmen und Mitmachen“ (Alf Lüdtke) mittlerer und untergeordneter Akteure in unterschiedlichen gesellschaftlichen und administrativen Bereichen. Ebenfalls ungewöhnlich für die Bundesrepublik zur damaligen Zeit: In den Bänden wurden vielfach die Namen von Tätern und Mitläufern genannt, was durchaus auch an prominenter Stelle für Unruhe sorgte.

In der Dokumentation „Das Dritte Reich und die Juden“ veröffentlichten Wulf und Poliakov etwa ein Quellenexzerpt, das den seit 1954 als Leiter der Ostabteilung des Auswärtigen Amtes fungierenden Otto Bräutigam als Mitwisser und Mittäter der Shoah auswies. Während des Nationalsozialismus hatte der nunmehrige Ministerialdirigent im „Reichsministerium für die besetzten Ostgebiete“ gearbeitet und in diesem Kontext an Planungsrunden teilgenommen, bei denen die Deportation und Ermordung der jüdischen Bevölkerung in seinem Zuständigkeitsbereich besprochen wur­de. Nachdem die Enthüllungen von Wulf und Poliakov politische und mediale Wellen geschlagen hatten, veröffentlichte das Auswärtige Amt ein von einem pensionierten Richter, der im „Dritten Reich“ seinerseits über 2000 Urteile in poli­tischen Strafsachen gefällt hatte, verfasstes Gutachten, das Bräutigam auf fragwürdige Weise entlastete, so dass dieser, zudem ausgezeichnet mit dem Großen Bundesverdienstkreuz, seine Karriere als Generalkonsul der Bundes­republik in Hong­kong fortsetzen konnte.

Mit der Unterstützung durch andere historische Forschungseinrichtungen konnten Wulf und Poliakov kaum rechnen. Im Gegenteil: Martin Broszat vom Münchner Institut für Zeitgeschichte, das sich schwerpunktmäßig und durchaus verdienstvoll der Erforschung des Nationalsozialismus widmete, reagierte auf die Veröffentlichungen dem Historiker Nicolas Berg zufolge „regelrecht allergisch“. Der Dokumentation „Das Dritte Reich und seine Diener“ attestierte er Polemik und Unwissenschaftlichkeit, ihr fehle die „Distanziertheit wissenschaftlich-historischer Quellenpublikationen“, die Verwendung von Fotomaterial berge zudem die „Gefahr suggestiver Überredung anstatt rationaler Überzeugung“.

Den Vorwurf emotionalisierend und somit nicht mit der gebotenen „Objektivität“ zu argumentieren, erhob Broszat gegenüber Wulf erneut in einer Kontroverse am Beginn der 1960er Jahre. Den Kern der Auseinandersetzung bildete die Erwähnung Wilhelm Hagens in der Dokumentation „Das Dritte Reich und seine Vollstrecker“, in der dessen Rolle als Leiter des Warschauer Gesundheitsamtes während der deutschen Besatzung kurz geschildert und auf die Mitverantwortung des Mediziners für die katastrophalen Zustände im Warschauer Ghetto eingegangen wurde. Hagen, der seine Karriere in der Bundesrepublik fortsetzen konnte und seit Oktober 1958 zum Präsidenten des Bundesgesundheitsamtes aufgestiegen war, verwahrte sich gegen seine Erwähnung in dem Band. Seiner Interpretation zufolge, habe er sich „um die Durchführung einer verantwortungsvollen Gesundheitspolitik“ bemüht. Im April 1963 drohte er Wulf mit einer Unterlassungsklage und verlangte ultimativ, sämtliche noch nicht verkauften Bücher einzuziehen, die entsprechenden Passagen zu korrigieren und seinen Namen in den Neuauflagen zu streichen. Hagen wandte sich zudem an Martin Broszat mit der Bitte, ihn in der Auseinandersetzung mit Wulf durch seine geschichtswissenschaftliche Expertise zu unterstützen.

Der Münchner Zeithistoriker bezog in der Angelegenheit eindeutig Position. In einem Schreiben an Hagen erklärte Broszat: „Ich darf Ihnen versichern, dass wir selbst entsetzt sind, über den Missgriff in Wulfs Buch. Unsere methodischen Einwände gegen diese Art grobflächiger und zusammenhangloser Dokumentation sind dadurch aufs neue bestärkt worden.“ An Hagens „integeren Haltung während der NS-Zeit als Amtsarzt in Warschau“ gebe es „auch nach der Dokumentation von Wulf keine Zweifel.“ Gleichzeitig richtete sich Broszat an Wulf mit der im anklagenden Tonfall gehaltenen Einschätzung, dass er „die ganze Angelegenheit im Interesse der Sauberkeit zeitgeschichtlicher Dokumentation und Publizistik für außerordentlich bedauerlich“ halte und forderte ihn auf, „Herrn Prof. Hagen Genugtuung“ zu verschaffen. Wulf wies dieses Ansinnen ebenso zurück, wie den Vorwurf „unsauber“ im wissenschaftlichen Sinne zu arbeiten.

Durch das Verdikt Broszats sah er sich zudem herausgefordert, seine Position als Überlebender der Shoah zu thematisieren und die nicht wörtlich formulierte, aber doch implizit mitschwingende Unterstellung, subjektiver Befangenheit zu widerlegen: „Sie dürfen mir glauben, ich wollte jahrelang keine Zeile über das Dritte Reich schreiben, weil ich selbst kaum annahm, dass ein ehemaliger Ghetto-Insasse und Auschwitz-Häftling, der Sohn ermordeter Eltern, objektiv sein kann. […] Immerhin hat mir aber bis jetzt noch niemand den Vorwurf ressentimentgeladenen Denkens gemacht. Andererseits sehe ich nicht ein, warum ein Jude des ehemaligen Generalgouvernements subjektiver sein sollte als jedes Behördenmitglied dieses Generalgouvernements.“

Die in einem Briefwechsel ausgetragene Kontroverse zog sich  über mehrere Jahre hin, ohne dass es dabei zu einer Annäherung zwischen den Kontrahenten kam. Broszat hielt an seinen methodischen Einwänden gegen die Dokumentation „Das Dritte Reich und seine Vollstrecker“ grundsätzlich fest und insistierte darauf, dass Hagen allenfalls in die nationalsozialistische Vernichtungspolitik „verstrickt“ gewesen sei. Daran änderte auch ein von Wulf im weiteren Verlauf der Auseinandersetzung vorgelegtes, von Hagen unterschriebenes Dokument nichts, in dem vorgeschlagen wurde, im Rahmen der „Fleckfieberbekämpfung“ im Warschauer Ghetto auf „vagabundierende Juden“ zu schießen. Broszat räumte eher widerwillig die mögliche Relevanz der neuen Quellenfunde ein und beharrte auf seinem Eindruck der „Flüchtigkeit und Vergröberung“, die Wulfs Dokumentation kennzeichnen würde.

„Makabre Kultstätte“? — Die Auseinandersetzung um ein Internationales Dokumentationszentrum

Die wenig wertschätzende, häufig unverhohlene arrogante Haltung mit denen nicht nur Broszat, sondern auch andere Vertreter der etablierten Geschichtswissenschaft dem fachlichen Außenseiter begegneten, wurde nicht selten auf anderer Ebene von offenen Anfeindungen mit bisweilen antisemitischen Untertönen flankiert. Diese zeigten sich besonders deutlich in der Auseinandersetzung um die Einrichtung eines Internationalen Dokumentationszentrums im vormaligen Haus der Wannseekonferenz. Die Initiative für das Projekt ging maßgeblich auf Joseph Wulf zurück, der zusammen mit anderen im Sommer 1966 erstmals mit der Idee an die Öffentlichkeit getreten war, in West-Berlin ein Forschungsinstitut zu errichten, das die Aufgabe haben sollte, in internationaler Perspektive Dokumente zum Nationalsozialismus zu sammeln und für die wissenschaftlich-pädagogische Arbeit verfügbar zu machen.

Die Initiative konnte auf eine Reihe prominenter Unterstützer_innen im In- und Ausland zählen, etwa den Philosophen Karl Jaspers oder den Rektor der FU Berlin Hans-Joachim Lieber. Auch Willy Brandt (SPD), zum damaligen Zeitpunkt Regierender Bürgermeister von West-Berlin, schien dem Projekt zunächst aufgeschlossen gegenüber zu stehen. Heftige Kontroversen entzündeten sich jedoch schon bald an der Frage des Standorts für das Dokumentationszentrum. Joseph Wulf, als treibende Kraft der Initiative drängte darauf die Einrichtung in den Räumen der Wannsee-Villa unterzubringen. Diese wurde jedoch bereits als Schullandheim des Bezirks Neukölln genutzt. Obgleich die Initiative um Joseph Wulf betonte, dass zunächst ein Ersatzobjekt für das Schullandheim gefunden werden müsse, bevor die Eröffnung des Dokumentationszentrums konkret in Erwägung gezogen werden könne, entbrannte in der Öffentlichkeit nun eine Debatte, in der nicht zuletzt von notorischen Gegner_innen des Projekts die Schulkinder des Bezirks Neukölln gegen die Erinnerung an die Verbrechen des Nationalsozialismus ausgespielt wurden.

Die von Gerhard Frey herausgegebene extrem rechte „Deutsche National- und Soldatenzeitung“ titelte etwa „Berlins Tribut für Judenmorde — Sollen Berliner Kinder für NS-Verbrechen büßen?“ Und die ebenfalls extrem rechte „Deutsche Wochen-Zeitung“ machte mit der Schlagzeile auf: „Rachedenkmal statt Kinderheim. Ein neues Haus des Hasses in Berlin“.  Doch auch in der „Mitte der Gesellschaft“ stieß das Projekt zunehmend auf Ressentiments und Ablehnung. Der seit September 1967 amtierende Regierende Bürgermeister Klaus Schütz (SPD) warnte etwa im Zusammenhang mit dem geplanten Dokumentationszentrum von der Errichtung einer „makabren Kultstätte“. Bundestagspräsident Eugen Gerstenmaier (CDU) sprach von einem „Denkmal deutscher Schande“. Die verbalen Angriffe richteten sich jedoch oftmals auch gegen Wulf direkt. Während ihn die extrem rechte Presse als „fanatischen Initiator“ und „politischen Bußapostel“ denunzierte bedienten sich auch andere Gegner des Projekts einer mit antisemitischen Stereotypen angereicherten Rhetorik. Der evangelische Theologe Heinrich Grüber, selbst Verfolgter des NS-Regimes und nach dem Zweiten Weltkrieg Gründungsmitglied der Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit, mokierte sich beispielsweise über die „Geschäftstüchtigkeit“ Wulfs und forderte den Regierenden Bürgermeister auf, dessen „Machenschaften […] ein Ende zu bereiten.“ Zudem kolportierte er das Klischee, das es besonders die (wie Wulf) aus Galizien stammenden Menschen durch ihr Verhalten vor 1933 dazu beigetragen hätten, das Anwachsen des Antisemitismus in Deutschland zu fördern. Die Errichtung des Dokumentationszentrums scheiterte schließlich. Im Dezember 1967 teilte Klaus Schütz der Initiative mit, dass die Wannsee-Villa als Standort für die Einrichtung nicht in Frage komme. Bemühungen das Dokumentationszentrum an einem anderen Ort in West-Berlin zu verankern verliefen im Sande.

Pionier der Holocaustforschung — eine späte Würdigung

Nicht zuletzt das Scheitern dieses von ihm mit großer Energie betriebenen Projektes verstärkte die zunehmende Desillusionierung von Joseph Wulf. Obgleich er für sein Engagement durchaus Anerkennung erfuhr — im Jahr 1970 wurde ihm etwa die Ehrendoktorwürde der FU Berlin verliehen, fühlte sich Wulf doch zunehmend isoliert. Auch von der Student_innenbewegung versprach er sich keine Impulse für eine tiefergehende Auseinandersetzung mit den nationalsozialistischen Verbrechen. „Die studentische Jugend“, resümierte Wulf, interessiere sich kaum für Probleme, „die für mich wesentlich sind.“ Tatsächlich dominierten in den Diskursen der Neuen Linken nach „1968“ oftmals ökonomistisch verkürzte Faschismustheorien, während die Beschäftigung mit den konkreten Aspekten der NS-Vernichtungspolitik allenfalls eine untergeordnete Rolle spielte.

Erst seit dem Ende der 1970er Jahre setzte ein allmählicher erinnerungskultureller Wandel ein. Alltagsgeschichtliche Zugänge sowie die Aktivitäten der an zahlreichen Orten entstehenden Geschichtswerkstätten stellten neue Fragen an die Geschichte des Nationalsozialismus. Auf lokaler und regionaler Ebene rückten nunmehr die vielfach vergessenen Opfer des Regimes in den Mittelpunkt des Interesses. Die im Jahr 1979 in der Bundesrepublik ausgestrahlte US-amerikanische Fernsehserie „Holocaust“ stieß zudem erstmals eine breite gesellschaftliche Debatte, um die Partizipation „ganz normaler“ Deutscher an der Entrechtung, Ausplünderung, Verfolgung und Ermordung der Jüdinnen und Juden in Deutschland und Europa während der NS-Zeit an. Die Perspektiven jüdischer Überlebender der Shoah, aber auch die Sichtweisen und Erfahrungen anderer durch den NS-Terror Verfolgter fanden sowohl in der Öffentlichkeit, der Geschichtswissenschaft und in der historisch-politischen Bildung stärkere Beachtung. An zahlreichen Orten entstanden, wenn auch nach wie vor vielfach in zähen Auseinandersetzungen Gedenkstätten und andere Erinnerungszeichen. Im Januar 1992 wurde schließlich in der Wannsee-Villa die „Gedenk- und Bildungsstätte Haus der Wannsee-Konferenz“ eröffnet.

Zwar waren (und sind) Schlussstrichbestrebungen, Schuldabwehr und die Versuche, die präzendenzlosen Verbrechen des Nationalsozialismus durch unangemessene historische Analogien und totalitarismustheoretische Deutungsmuster zu nivellieren auch weiterhin Kristallisationspunkte heftiger erinnerungskultureller Auseinandersetzungen, gleichzeitig entzündeten sich besonders seit den 1990er Jahren wiederholt öffentliche Debatten, etwa um die so genannten „Wehrmachtsausstellungen“ des Hamburger Instituts für Sozialforschung, die Beteiligung „ganz normaler Männer“ (Christopher Browning) an der Shoah oder an der Rolle des Auswärtigen Amtes im Nationalsozialismus. Indes: Vieles, was in diesen Kontroversen auf Grundlage scheinbar neuer Erkenntnisse verhandelt wurde war eigentlich so neu nicht, hatte doch bereits Joseph Wulf in seinen Veröffentlichungen und öffentlichen Intervention Jahrzehnte zuvor ähnliche Fragen gestellt. Seine „Revolte gegen das Schweigen“ (Raul Hilberg) endete gleichwohl tragisch, sie kann daher kaum als Beleg einer anfänglich defizitären, letztendlich aber vermeintlich erfolgreichen „Vergangenheitsbewältigung“ gelten. Die Geschichte von Joseph Wulf erzählt vielmehr von der Kälte und der Ignoranz mit der sich die deutsche Mehrheitsgesellschaft gegenüber den Perspektiven und Deutungsmustern (nicht nur) der jüdischen Opfer des Nationalsozialismus verschloss. Sie erzählt aber auch von einem Menschen, der sich damit nicht abfinden konnte und wollte.