Skip to main content

Abschiebungen, Lager und Covid-19

Einleitung

Während sich Corona-Leugner*innen über die „Einschränkung ihrer Grundrechte“ beschweren, vegetieren hunderttausende Menschen in Lagern und Sammelunterkünften, ohne das Privileg eines eigenen zu Hause, in ständiger Angst, gewaltvoll abgeschoben zu werden – oder sich mit Covid-19 zu infizieren.

Foto: Christian Ditsch

Abschiebungen, Lager und Covid-19

August 2020. Nachts um drei kommen die PolizistInnen und nehmen den Vater sowie die sieben Kinder mit. Sie werden nach Serbien abgeschoben. Die Mutter liegt wegen einer Risikoschwangerschaft im Krankenhaus und weigert sich, mit der Familie gemeinsam abgeschoben zu werden. Am nächsten Tag verlässt sie gegen den Rat der Ärzt*innen das Krankenhaus und reist „freiwillig“ nach Serbien ab. Seit dem 15. Juni 2020 gilt Serbien als Corona-­Risikogebiet.

Im ersten Halbjahr 2020 wurden 4.616 Menschen aus Deutschland abgeschoben, weniger als die Hälfte des Vorjahreszeitraums (11.496). Allerdings wurden im gleichen Zeitraum 12.188 Menschen an der Einreise gehindert, also „zurückgewiesen“ und 1.051 wurden nach „illegaler“ Einreise „zurückgeschoben“. Im 1. Halbjahr 2019 wurden 6.707 Menschen zurückgewiesen und 1.525 zurückgeschoben. Die rückläufigen Abschiebezahlen werden also durch die gestiegenen Zurückweisungen und -schiebungen nahezu ausgeglichen.

Ein Trend, der BAMF (Bundesamt für Migration und Flüchtlinge) und Heimat­ministerium freuen dürfte, denn billiger als Abschiebung ist nur, wenn niemand ins Land kommt. So hatte der Unternehmensberater McKinsey bereits 2016, im Auftrag des BAMF, ausgerechnet, dass die Kosten einer Abschiebung in etwa den Kosten von 65 Tagen Aufenthalt eines „Ausreisepflichtigen“ in Deutschland entsprechen. Sobald also der Aufenthalt eines Asylsuchenden um 65 Tage verkürzt werden kann, rechnet sich eine Abschiebung. McKinsey empfahl daher, in die „Rückführung und insbesondere die freiwillige Rückkehr von Ausreisepflichtigen zu investieren, um die Dauer des Aufenthalts in Deutschland zu verkürzen.“ Durch „restriktivere Duldungsanwendung“, „konsequentere Rückführung“ und „Förderung der freiwilligen Rückkehr“ lasse sich die Anzahl der Rückkehrer „deutlich erhöhen“.

Auch könnten durch „zentrale Unterbringung von Ausreisepflichtigen auf Landes­ebene Verantwortlichkeiten örtlich gebündelt und die Effektivität der Organisation und Durchführung von Rückführungen erhöht werden. Eine solche Unter­bringung könnte ggf. mit den Ankunftszentren verknüpft werden.“ Schon 2016 zeichnete McKinsey also die Blaupause für Seehofers AnkER-Zentren (Ankunft, Entscheidung und Rückführung) in denen Menschen „willkommen“ geheißen werden, während zwei 6-Bett-Zimmer weiter Menschen mit Polizeigewalt abgeschoben werden.

Juli 2020. Nachts um drei werden bis zu 200 Menschen, darunter viele Familien mit Kleinkindern, aus dem Bett geholt und per Sammelcharter in die Republik Moldau abgeschoben. Eine der abgeschobenen Frauen befand sich in einer noch nicht abgeschlossenen Chemotherapie, hat einen künstlichen Darmausgang. Seit dem 15. Juni 2020 gilt die Republik Moldau als Corona-­Risikogebiet.

2018 wurde zwar die Zusammenarbeit von BAMF und McKinsey eingestellt, viele „Optimierungen“ haben es dennoch ins Gesetz geschafft. Unter den zahlreichen Asylrechtsverschärfungen der letzten Jahre sind besonders das „Asylpaket II“ (März 2016) und die beiden „Hau-Ab-Gesetze“ erwähnenswert. Das Asylpaket II beschleunigt und „vereinfacht“ Abschiebungen auch schwer kranker Menschen. Nur noch bei lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankungen ist eine Aussetzung der Abschiebung möglich, vorausgesetzt es existiert keine „inländische Gesundheitsalternative“ im Zielstaat. Bis auf wenige Länder der Welt trifft das wohl nirgendwo zu. Auch gelten Posttraumatische Belastungsstörungen seither nicht mehr als schwerwiegende Erkrankung und stellen somit kein Abschiebungshindernis mehr dar.

Das „Hau-Ab-Gesetz I“ (Gesetz zur besseren Durchsetzung der Ausreisepflicht, Juli 2017) ermöglicht den Bundesländern, alle Asylsuchende, einschließlich Kinder, für die Dauer ihres Asylverfahrens in Erstaufnahmeeinrichtungen unterzubringen. Bereits länger in Deutschland „geduldete“ Personen dürfen seither ohne vorherige Ankündigung abgeschoben werden.

Die bis heute umfänglichste Gesetzesverschärfung wurde mit dem „Hau-Ab-Gesetz II“ (Geordnete-Rückkehr-Gesetz, August 2019) beschlossen. Die Verpflichtung zur Wohnsitznahme in Erstaufnahmeeinrichtungen wurde von sechs auf 18 Monate ausgeweitet, weniger Geflüchtete werden auf die Kommunen verteilt. Mit der „Duldung light“ werden Geflüchtete weitgehend entrechtet. Eine neue „Mitwirkungshaft“ von bis zu 14 Tagen kann verhängt werden, wenn Asylsuchende angeordnete Termine nicht wahrnehmen. Die europarechtswidrige Unterbringung von Abschiebegefangenen in normalen Gefängnissen wird in nationales Gesetz gemeißelt und Polizist*innen dürfen jetzt ohne richterlichen Beschluss die „Wohnung“ von Geflüchteten betreten.

Juni 2020. Nachts um drei kommen die Polizist*innen und legen den Eltern Handschellen an, die Familie wird nach Georgien abgeschoben. Die drei ältesten Kinder wurden in Deutschland eingeschult, die jüngeren sind hier geboren. Der einjährige Sohn ist schwerkrank, braucht Medikamente. Die Eltern werden einzeln, getrennt von den acht Kindern, zum Flughafen gebracht.

Mit dem „Hau-Ab-Gesetz-II“ steigen die Bewohnerzahlen in den Lagern. In der hessischen Erstaufnahmeeinrichtung stieg die Zahl der Internierten innerhalb von drei Monaten um 1 000 Menschen. 2018 lebten bereits über 200 000 Menschen in Lagern (44 207) oder Sammelunterkünften (170 492).

Mit Covid-19 kamen Kontaktverbot, überfüllte Notaufnahmen, die Debatte über das Triage-Verfahren. Menschen wurden angehalten, Abstand zu halten und auf Hygiene zu achten – Privilegien, die in vollen Lagern mit Gemeinschaftsduschen und Mehrbettzimmern nicht umsetzbar sind. Zum Ausnahmezustand des Lagerdaseins kommt der Ausnahme­zustand wegen Covid-19. Laut einer Studie der Uni Bielefeld liegt die Ansteckungsrate in 42 untersuchten Sammelunterkünften bei durchschnittlich 17 Prozent, was in etwa der Ansteckungsgefahr auf einem Kreuzfahrtschiff in Quarantäne entspricht. In 30 von 42 Sammelunterkünften wurde nach Corona-­Ausbrüchen Kollektivquarantäne, auch für gesunde, verhängt. Dies führt oft zu einer Ketten-­Quarantäne. Fälle von ein bis zwei Monaten Ketten­quarantäne sind keine Seltenheit. Nicht ohne Grund warnt das Robert-­Koch-Institut (RKI) vor sogenannten „Vollquarantänen“ und ruft zu Einzelunterbringung und Trennung von Infizierten und Gesunden auf.

März 2020. Ein Afghane wird in einem bundesweiten Sammelcharter nach Afghanistan abgeschoben. 2017 wird er auf einem Berliner S-Bahnhof rassistisch beleidigt und zusammengeschlagen. Der Hauptverdächtige ist Polizeibeamter der inzwischen aufgelösten Sonderkommission „Rex“, die gegen rechte Gewalt in Neukölln „ermittelte“. Das Verfahren gegen die rechten Schläger findet nun ohne den Nebenkläger statt.

Als Maßgabe für eine gelungene Asylpolitik gilt spätestens seit dem McKinsey­-Bericht die Zahl der Abschiebungen. Mit immer härteren Mitteln werden Abschiebungen in Bürgerkriegsländer und Corona­-Risikogebiete durchgesetzt. Die Zahl der Abschiebehäftlinge steigt, oft sitzen sie zu Unrecht in Haft. Mit immer mehr Beamt*innen und drastischeren Mitteln wie Fesselungen werden Abschiebungen auch gegen Widerstand durchgesetzt. Schwerkranke bleiben in Kliniken zurück, während ihre Familien nachts abgeschoben werden.

Während sich „Corona“-Leugner*innen über die „Einschränkung ihrer Grundrechte“ beschweren können, vegetieren hunderttausende Menschen in Lagern und Sammelunterkünften, ohne das Privileg eines eigenen zu Hause, in ständiger Angst, nachts um drei gewaltvoll abgeschoben zu werden – oder sich mit Covid-19 zu infizieren. Gesellschaftliches Triage-Verfahren, kann man das vielleicht nennen.