Antisemitismus in der deutschen Linken
Nach der Befreiung vom Nationalsozialismus und dem deutlich werdenden Ausmaß der von den Deutschen betriebenen Massenvernichtung ließen sich antisemitische Positionen nicht mehr ohne weiteres in der bisher geläufigen Offenheit äußern. Dies bedeutete weniger eine Läuterung der deutschen Gesellschaft als vielmehr eine Anpassung des Erscheinungsbildes des immer noch weit verbreiteten Antisemitismus an die neue Situation. Was sich vorher an unterschiedlichen Bildern und Stereotypen zum »Juden« zusammenfügen und als »Gegenrasse« konstruieren ließ, mußte nun in mehr oder weniger vermischter Form aus Versatzstücken des klassischen Antisemitismus zusammengesetzt werden. So konnten in der Ablehnung vermeintlich amerikanischer Werte wie der Liberalisierung von Sexualität oder der Verurteilung einer mit den USA in Verbindung gebrachten extremen Orientierung an materiellen Reichtümern klassische antisemitische Bilder konserviert werden.
Vom »Judenknax« und »Gärten des Bösen«1
In ähnlicher Weise wirkten die aufkommenden anti-intellektuellen Haltungen. Sie zeigten sich u.a. in einer Verweigerung gegenüber Forderungen, die - als Konsequenz des Nationalsozialismus – eine selbstkritische Auseinandersetzung mit der Bedeutung des individuellen Handelns und Denkens anstrebten. Ein solcher Anti-Intellektualismus ging nicht selten einher mit vereinfachenden Deutungen der Welt, die oft genug in esoterischen Welterklärungsversuchen gipfelten. Die teilweise äußerst diffusen Verschwörungstheorien, die Machtverhältnisse mit weltweiten Konspirationen der Freimaurer, »des Kapitals« oder schlicht »der Juden der amerikanischen Ostküste« erklärten, ermöglichten es auch, antisemitische Stereotype in der Mitte der Gesellschaft am Leben zu halten.
Als zusätzliches wesentliches Element des Antisemitismus kamen schließlich all jene Argumentationsmuster hinzu, die Auschwitz selbst zum Ausgangspunkt ihrer Denunziation des »Juden« machten. Dieser Antisemitismus nicht trotz, sondern wegen Auschwitz zeigte sich insbesondere auch im Umgang mit jüdischen Überlebenden sowie in der Politik gegenüber dem Staat Israel. Eine Betrachtung linker Diskussionen in Westdeutschland seit 1968 macht deutlich, wie wenig die Neue Linke vor Antisemitismus gefeit ist. Dennoch geht es bei dem Aufzeigen tendenziell antisemitischer Vorstellungen in linken Diskursen nicht um eine Denunziation linker, emanzipatorischer Positionen an sich. Es geht vielmehr darum, linke Politik in Deutschland wieder mit jener Verantwortung zu konfrontieren, die aus dem Nationalsozialismus resultierte und zum bestimmenden Maßstab jeder Politik in Deutschland wurde.
Im Antiimperialismus und Internationalismus haben sich seit den 1970ern Jahren Positionen durchgesetzt, die von verschiedenen Seiten wegen ihrer strukturellen Nähe zur antisemitischen Logik kritisiert wurden. Die antiimperialistische Sichtweise bleibt durch ihre vereinfachende Gegenüberstellung von Gut und Böse anfällig für Darstellungen, die weniger auf ein Begreifen als auf ein Verurteilen abzielen. Gerade im Antizionismus der 1970er und 1980er Jahre führte eine solche Sichtweise zu offen antisemitischen Ausfällen.2
Als Geschöpf des imperialistischen Bösen stand Israel - noch in den 1990ern oftmals in Anführungszeichen gesetzt - dem ursprünglichen, für die Befreiung kämpfenden palästinensischen Volk gegenüber. Die Verurteilung Israels als faschistisches Regime, welches die PalästinenserInnen mit nazistischen Methoden bekämpfe - »wie die Nazis mit den Völkern Polens und der UdSSR«3 , gehörte dabei zum gängigen Repertoire gegen eine angebliche Zurückhaltung von Teilen der Linken gegenüber dem Land, welches u.a. von Überlebenden des Holocaust gegründet wurde. Eine Zurückhaltung, die vom Ex- Kommunarden Dieter Kunzelmann noch in den 1970ern Jahren als »Judenknax« denunziert werden konnte.4
Einen Höhepunkt erreichte diese Solidarisierung gegen den Staat Israel im Juni 1976, als bei einer Flugzeugentführung in Entebbe durch eine palästinensisch-deutsche Gruppe jüdische von nicht-jüdischen Passagieren getrennt und erstere gefangengehalten wurden. Diese »Selektion (...) entlang völkischer Linien«5 führte erst zu Beginn der 90er zu einer weitergehenden Auseinandersetzung um die Problematik antizionistischer Positionen. Bereits während der palästinensischen Intifada hatte ein Wandbild der Hamburger Hafenstraße, auf welchem »Boykottiert 'Israel ' ! Waren, Kibbuzim + Strände« gefordert wurde, eine umfangreiche Kritik linker Positionen bezüglich Israels ausgelöst, die sich auch nach den Äußerungen des Grünen-Vorstandssprechers Christian Ströbele während des zweiten Golfkrieges - die irakischen Raketenangriffe auf Israel seien »die logische, fast zwingende Konsequenz der Politik Israels« - weiter verstärkte.
Dennoch zeigen Diskussionsbeiträge antiimperialistischer Gruppen auch in der Zeit nach dem Golfkrieg, daß die Bereitschaft zur Infragestellung Israels weiterhin erschreckend hoch ist. Dieses andauernde irrationale Festbeißen am vermeintlichen Hauptfeind Israel scheint dabei mittlerweile in keinerlei Verhältnis zur tatsächlichen Bedeutung des Konfliktes zu stehen. Angesichts diverser ähnlicher Konflikte weltweit sowie der Vielzahl von Kritikpunkten an den Verhältnissen in Deutschland selbst, die nicht annähernd mit ähnlicher Entschiedenheit in der Linken aufgegriffen wurden, läßt sich das erklärungsbedürftige Mißverhältnis bezüglich des Engagements gegen die israelische Politik erkennen.
Ebenso weist die mangelnde Differenzierung in der Beurteilung der israelischen Politik sowie deren oft zwanghaft wirkende Gleichsetzung mit dem Nationalsozialismus auf eine besondere Rolle Israels in der linken Kritik hin. Gerade die Vehemenz, mit der sich auf den Staat Israel als vorrangiges Übel eingeschossen wurde, macht die Ähnlichkeit der antizionistischen Positionen zu antisemitischen Weltbildern deutlich. Dennoch lassen sich diese strukturellen Gemeinsamkeiten nicht nur in antiimperialistischen Positionen zum Antizionismus finden.
So zeigen sich aktuell weitere aus der antiimperialistischen Logik resultierende Fallstricke an der Mobilisierung gegen den Weltwirtschaftsgipfel in Köln.6 So führt die Konzentration auf den Gipfel als Symbol des internationalen Herrschaftssystems zu einer Personifizierung und Vereinfachung der komplexen Zusammenhänge, die diesem System zugrundeliegen. Eine Reduktion der Kritik auf »die Herren der Welt«, mit der die Bedeutung sozialer Verhältnisse vernachlässigt wird, muß zwangsläufig verkürzende Erklärungen zur Folge haben. Die Heraufbeschwörung einer »Weltherrschaft der Konzerne« begünstigt die Vorstellung von einer undurchschaubaren Verschwörung weniger Männer, die »reale Absprachen über die Verteilung von Interessenssphären«7 betreiben. Mit einer solchen verkürzten Deutung und der Personifizierung von Herrschaft läuft eine unreflektierte antiimperialistische Argumentation Gefahr, tendenziell antisemitische Vorstellungen weltweiter Verschwörungen zu bedienen.
Mit der Kritik an Ähnlichkeiten linker Weltbilder zum Antisemitismus gerieten auch Äußerungen zur Globalisierung und Finanzspekulation in den Blick.8 Aktuelle Krisenerscheinungen des Wirtschaftssystems, in dem internationale Konzerne durch den Aufkauf von Konkurrenten zu Giganten anwachsen und deren Manager mit Spekulationen das Glück der ArbeiterInnen verzocken, haben auch in Teilen der Linken eine Verschiebung der Kritik begünstigt. Diese richtet sich immer stärker auf oberflächliche Erscheinungen, in denen die Ungerechtigkeit innerhalb einer kapitalistischen Gesellschaft vermeintlich am deutlichsten zu Tage tritt. Finanzspekulationen erscheinen dabei nicht selten als die eigentlichen Übel, ohne daß die reale Ausbeutung über Lohnarbeit zur Grundlage der Kritik gemacht wird.
Eine solche Verkürzung der Kapitalismuskritik auf das Finanzverhalten einiger Banken begünstigt schließlich ein Wiederaufleben jener klassischen antisemitischen Unterscheidung zwischen »raffendem« und »schaffendem« Kapital. Der Versuch, verschiedene Kapitalformen in ihrer »Sozialverträglichkeit« gegeneinander abzuwägen, deutet sich an, wenn Finanzspekulationen zum Gegenstand der Kritik werden, während gleichzeitig Firmen, die durch Investitionen in moderne Produktionsanlagen vermeintlich Gutes leisten, als positive Beispiele hochgehalten werden. Gerade in einer Verkürzung der Kritik am vorgeblich »schlechteren« Finanzkapital lassen sich klassische Motive antisemitischer Denunziation erkennen.
In mehreren öffentlichen Auseinandersetzungen der letzten Jahre, in denen von der Linken vielfältige antisemitische Motive nachgewiesen und kritisiert wurden, zeigte sich, daß sie dabei keineswegs einhellig agierte. Die Diskussionen um die Weigerung der BewohnerInnen von Gollwitz, in ihrem Ort jüdische Emigrantinnen aus der ehemaligen Sowjetunion zu dulden, sowie die öffentlichen Reaktionen auf Daniel Goldhagens »Hitlers willige Vollstrecker« machten vielmehr deutlich, daß gerade auch in Teilen der Linken nach 1989 eben jenes Verlangen nach »Normalität« zu erkennen ist, das die deutsche Realität mittlerweile entscheidend bestimmt.
Allein die Existenz von Auschwitz hatte bisher jede Normalität und jede Suche nach nationaler Identität unmöglich gemacht, weshalb die Fixierung auf Ersatzobjekte der linken Solidarität in den 1970ern und 1980er Jahren vorzugsweise in jenen Ländern der »Dritten Welt« erfolgte, in denen den eigenen Vorstellungen entsprechende Völker gegen auswärtige Bedrohungen kämpften. Mit der Vereinigung zum größeren Deutschland scheint sich die Forderung einer Politik jenseits und unabhängig von Auschwitz auch in der Linken stärker durchzusetzen. Einige jener antisemitischen Motive, die in der Walser-Rede des letzten Jahres im bürgerlichen Spektrum der Gesellschaft deutlich wurden und auf eine Versöhnung mit der deutschen Vergangenheit abzielen, scheinen sich in ähnlicher Form auch in der Linken zu finden.
So wiesen mehrere Reaktionen auf Goldhagen Parallelen zu jener »Normalisierung« des Verhältnisses zum Holocaust auf.9 Die vom linken Politologen Reinhard Kühnl angemahnte »andere Hälfte der Wahrheit [...], daß erhebliche Teile der Bevölkerung im Jahre 33 gegen dieses System standen«10 , kann als Baustein eines solchen Versuches gesehen werden, ein 'anderes', gutes Deutschland als Gegenbeweis für die von Goldhagen formulierten Vorwürfe zu zeichnen.
Auch die Relativierung deutscher Schuld, die mit Versuchen einhergeht, eine Mitverantwortung der verfolgten Jüdinnen und Juden am Holocaust zu suggerieren, scheint innerhalb linker Diskussionen nicht unvorstellbar zu sein. So zeigten die Reaktionen der Zeitung „Junge Welt“ auf die Kritik an den Gollwitzern - »Pressegeier über Gollwitz«11 -, daß auch hier jüdische Kreise als Mitverursacher von Antisemitismus vermutet werden.
All jene anti-amerikanischen Vorstellungen, die bereits in der Friedensbewegung der 1980er Jahre anzutreffen waren und zusammen mit der teilweise sehr »nationalen« Angst vor der Hochrüstung die massenhafte Unterstützung der Friedensbewegung begünstigten, scheinen heute in weniger verdeckten Formen diskutabel zu sein. Gerade auch die Bereitschaft von Teilen der Linken, diese offensiv zu einem nationalen Bekenntnis - »wir können das auch Nachdenken über Heimat nennen«12 - zu bewegen, ist Hinweis genug auf Versuche, die deutsche Vergangenheit um jene Teile zu reinigen, die einer Selbstfindung und positiven Identifikation mit Deutschland entgegenstehen.
Schließlich läßt sich die von der Zeitung „Neues Deutschland“ (ND) aufgeworfene Frage »Wie national muß die Linke sein?« nur ohne Bewußtsein für Auschwitz ernsthaft diskutieren. Dies allein ist Grund genug, allen nationalen Ambitionen innerhalb der Linken entschieden entgegenzutreten.13 Argumentationsweisen innerhalb der Linken, deren Nähe zu antisemitischen Weltbildern nicht von der Hand zu weisen sind, scheinen trotz einer mittlerweile verstärkten Selbstkritik weiterzubestehen.
Während allerdings in Teilen der Internationalismusbewegung die Positionen bezüglich Israels deutlich verändert und frühere Fehler eingeräumt wurden, nehmen die Bekenntnisse zur nationalen Identität und damit die Verdrängungsversuche der deutschen Geschichte erschreckend zu. Gerade in der Berufung auf die deutsche Identität und den damit einhergehenden Antisemitismus bildet sich die Schnittstelle, an welcher der rege Autoren- und Gedankenaustausch zwischen der neurechten Wochenzeitung „Junge Freiheit“ und der Tageszeitung „Neues Deutschland“ ansetzen kann. Die deutliche Abgrenzung gegenüber solchen Annäherungen und nationalen Ambitionen wären Voraussetzungen für eine glaubwürdige Auseinandersetzung mit antisemitischen Stereotypen innerhalb der Linken.
- 1Die DKP-Zeitung »Unsere Zeit« führte 1975 aus: »Die Welt im Nahen Osten ist in zwei Fronten geteilt. Da sind die arabischen Völker, die vom progressiven Westen der Welt im Sinne des Fortschritts unterstützt werden, dem gegenüber stehen die zionistischen Kreise, jüdische Bourgeoisie und Monopole in und außerhalb Israels, die von der gesamten kapitalistischen Welt unterstützt werden.« Israel wurde charakterisiert als »Garten des Bösen, der ein einziges Kontinuum des Verbrechens gegen die Menschlichkeit ist.«
- 2Vgl. Diner, Dan, Linke und Antisemitismus, in: Schneider, K.H:[Hg.|, Solidarität und deutsche Geschichte, Berlin 1987 sowie Haury, Thomas, Antizionismus - Antisemitismus von links?, in: Berlowitz, Shelley u.a. |Hg.), Antisemitismus in der Linken, Zürich 1994 und Kloke, Martin W., Israel und die deutsche Linke, Frankfurt 1994 und Wehmeier, Klaus, Vom linken Antizionismus zum deutschen Antimperialismus, in: Bahamas, Heft 20/1996
- 3Rote Kommentare, 20.2.1973
- 4Zit. nach Kloke, Martin W, Zwischen Ressentiment und Heldenmythos - Das Bild der Palästinenser in der deutschen Linkspresse, in: Zentrum f ü r Antisemitismusforschung |Hg. ],Jahrbuch für Antisemitismusforschung, Frankfurt 1994
- 5Papier der Revolutionären Zellen vom Dez. 1991
- 6Siehe dazu u.a. Jungle World Dossier »O Soli Mio!«, 04.11.1998
- 7Beide Zitate aus der Stellungnahme des Linksradikalen Anti-EU/WWG-Plenum, in: Jungle World Dossier, 04.11.1998
- 8Vgl. ak kassiber. Die Wiederkehr des »ewigen Juden« - Elemente des Antisemitismus 1996, in: Bahamas, Heft 20/1996
- 9Vgl. Küntzel, Matthias/Thörner, Klaus, Goldhagen und die deutsche Linke, Berlin 1997
- 10Reinhard Kühnl in: Wessen Schuld? - Konkret- Debatte, Heft 6/1997, S. 13 sowie Haury, Thomas, »Goldhagen gegen rechts verteidigen und von links kritisieren« - Die deutsche Linke in der Goldhagen-Debatte, in: Heil/Erb [Hg.|, Geschichtswissenschaft und Öffentlichkeit - Der Streit um Daniel J. Goldhagen, Frankfurt 1998.
- 11junge Welt, 6.10.1997
- 12Marcel Braumann, Korrespondent des Neuen Deutschland in einem Leserbrief an die Junge Freiheit, zit. nach: Salzborn, Samuel, Ostdeutsche Allianzen, in: konkret, Heft 12/1997, S. 17
- 13Vgl. Jungle World Dossier "Do you remember the days of November", 6.11.1997 und »Links & Rechts - Rechts & Links«, 4.12.1997