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Antiziganismus in den Debatten um Flucht aus Staaten des ehemaligen Jugoslawiens

Markus End
Einleitung

Die derzeitige Debatte um Flucht und Asyl wimmelt nur so von Ressentiments aller Art. Unterschiedliche Rassismen werden be­dient, Chauvinismus und Klassismus ge­schürt, alter und neuer Nationalismus zeigt sich in deutscher Schuldabwehr, in der Verharmlosung von Rassismus, in der Verdrängung des Mordens im Mittelmeer sowie in einem daraus resultierenden deutschen Willkommenspatriotismus. Im Folgenden möchte ich schildern, inwiefern diese ge­gen­wärtigen Debatten auch von Antiziganismus geprägt sind und welche Kontexte es hierbei zu beachten gilt. Meine Perspektive ist dabei die eines nicht persönlich von Antiziganismus oder Abschiebedrohung Betroffenen mit deutschem Pass, der folglich — im Gegensatz zu den Betroffenen — über das Privileg verfügt, sich entscheiden zu können, ob er sich mit diesem Themenfeld beschäftigen möchte oder nicht.

Geschichte der Bleiberechtskämpfe

Zunächst muss festgehalten werden, dass die Debatten um Flucht und Asyl von Rom_nja aus Jugoslawien, bzw. den Ländern des ehemaligen Jugoslawiens bereits sehr viel älter sind, als in den Medien, aber auch in innerlinken Debatten zumeist bedacht wird. Bleiberechtsproteste jugoslawischer Rom_nja reichen bis mindestens zum Ende der 1980er Jahre zurück. Die nationalistischen Spannungen in Jugoslawien, aber auch in Polen, Rumänien und Bulgarien nahmen zu, Rom_nja gehörten zu den ersten, die von den verschiedenen sich ethnisierenden Konfliktparteien attackiert wurden. Viele Rom_nja aus diesen Ländern flohen in die Bundesrepublik Deutschland und waren nach kurzer Frist von Abschiebung bedroht, weil die Behörden annahmen, „sie seien in ihren Herkunftsländern Jugoslawien und Polen politisch nicht verfolgt worden“ (Spiegel Nr 46/1989). Aus Protest gegen die Abschiebungen formierte sich in der Bun­desrepublik Ende der 1980er Jahre eine gut vernetzte und entschlossene Protestbewegung von Rom_nja aus unterschiedlichen Ländern, die sich gegen die Abschiebungen einsetzte und mit Verweis auf die nationalsozialistische Verfolgung der Rom_nja und Sinti_ze durch die volksvergemeinschafteten ‚Deutschen‘ ein Aufenthaltsrecht in der BRD forderte. So traten im Februar 1989 zwanzig von Abschiebung bedrohte jugoslawische Roma in Hamburg im Dokumentenhaus der KZ-Gedenkstätte Neuengamme in einen unbefristeten Hungerstreik, der zwei Wochen anhielt. Im August des gleichen Jahres errich­te­ten Rom_nja aus Jugoslawien und Polen zusammen mit Unterstützer_innen ein Protestcamp auf dem Gelände des ehemaligen KZ.

Durch ihre Aktionen und den damit einhergehenden öffentlichen Druck konnten sie letztendlich erreichen, dass ca. 1500 Rom_nja aus verschiedenen Ländern ein dauerhaftes Aufenthaltsrecht in Hamburg erhielten.

Dies kann nur als kleines Schlaglicht verstanden werden, auf eine häufig unbe­achtete Geschichte, die das Potential hat, die Perspektive auf gegenwärtige Blei­be­rechtsproteste zu erweitern. Denn in vielerlei Hinsicht gleicht sich die Situation. Die bundesweite Initiative „alle bleiben“ kämpft seit Jahren gegen Abschiebungen von Rom_nja in die Staaten des ehemaligen Jugoslawiens. Seit September 2015 unterstützt sie bspw. die Besetzung des Hamburger Michels durch Rom_nja aus verschiedenen Staaten des ehemaligen Jugoslawiens, die damit gegen ihre drohenden Abschiebungen protestieren und ein Bleiberecht einfordern.

Die Debatte in der Mehrheitsgesellschaft

Doch auch die Argumente der Regie­rungspolitik, mit denen ein Bleiberecht verwehrt wird, gleichen sich: Es gäbe keine politische Verfolgung, sondern ‚nur‘ Diskriminierung, einer historischen Verantwortung werde Deutschland seit Jahren gerecht, man könne nicht alle aufnehmen und brauche die knappen Mittel für die ‚wirklich‘ Verfolgten, alles altbekannt.

Immer wieder sind diese Argumente durch antiziganistische Logiken geprägt. Insbesondere die Vorannahme, Rom_nja verließen ihre Heimatorte nur, weil es in Deutschland finanzielle Rückkehrhilfen (2010) oder durch ein Verfassungsgerichtsurteil angehobene Leistungen für Menschen im Asylverfahren (2012) gebe, wird erst vor dem Hintergrund des antiziganistischen Stereotyps der ‚Zigeuner‘, die schon immer danach strebten, auf Kosten der ‚Deutschen‘ zu leben, wirklich plausibel. Auch die häufig geäußerte Angst, wenn es ein generelles Bleiberecht gäbe, dann würden ‚Alle zu uns‘ kommen, wird bestärkt durch das Stereotyp einer bei ‚Roma‘ verbreiteten Bereitschaft zu Migration und Wanderschaft. So wird mittels antiziganistischer Argumentationsmuster die Debatte ethnisiert und auf Basis dieser Ethnisierung eine Unterteilung in die guten — weil ‚wirklich verfolgten‘ — ‚Flüchtlinge aus Syrien‘ und die abzulehnenden ‚Wirtschaftsflüchtlinge‘ aus den ‚Westbalkanstaaten‘ vorgenommen.

Besonders perfide ist die weit verbreitete Argumentation, dass das Verständnis und die Aufnahmebereitschaft ‚der Deutschen‘ für Geflüchtete nicht überstrapaziert werden dürfe. So äußerte sich im Rahmen der Debatte um die Verschärfung der Asylgesetze 2014 eine Politikerin der Regierungsfraktion im Bundestag: „Liebe Kolleginnen und Kollegen, für die Akzeptanz des Asylrechts in der Bevölkerung ist es wichtig, dass Asyl den tatsächlich Schutzbedürftigen vorbehalten bleibt.“ Eine solche Argumentation macht die Geflüchteten für den Rassismus verantwortlich und legitimiert so die Verschärfung des Asylrechts. Entstehungsbedingung und Wirkung von Rassismus werden vertauscht, dass Teile der Bundes­regierung in dieser Frage selbst seit Jahren „ein Stück weit Hetze“ (Romani Rose) betreiben, fällt unter den Tisch.

Ausblendungen

Überhaupt ist es derzeit aufschlussreicher zu rekonstruieren, worüber nicht ge­spro­chen wird, obwohl es nahe läge. So wird selbst von jenen, die sich gegen die Einführung ‚sicherer Herkunftsstaaten‘ aus­sprechen, häufig lediglich auf ‚schlechte Lebensbedingungen in den Herkunftsländern‘ hingewiesen, während rassistische Polizeigewalt oder staatlich angeordnete Zwangsräumungen bspw. in Serbien häufig kaum thematisiert werden. Dass viele nach Deutschland geflohene serbische Rom_nja Opfer der wochenlangen Pogrome waren, die 1999 unter den Augen der KFOR-Soldaten und unter Beteiligung von UÇK-Einheiten stattfanden, bleibt ebenfalls meist unthematisiert. Diese systematischen Ver­treibungen, die mit Brandschatzungen, Ver­gewaltigungen und Morden einhergingen, wurden bis heute nicht aufgearbeitet, die Täter_innen sind heute im Kosovo teils in Amt und Würden.

Auch die als Reaktion unter anderem auf deutschen Druck in Serbien und Mazedonien erfolgte Einführung eines Straftatbestand des ‚Asylmissbrauchs‘ wird in der politischen und medialen Debatte so gut wie nicht kritisiert. Dabei hat sogar das Verwaltungsgericht Stuttgart 2014 festgestellt: „Das Gericht ist auch davon überzeugt, dass die neuen serbischen Ausreise- und Grenzkontrollbestimmungen ausdrücklich dazu bestimmt sind und auch dazu eingesetzt werden, Angehörige [sic] von Minderheiten — insbesondere die [sic] Angehörigen der Roma — die Ausreise aus Serbien zu erschweren oder diese unmöglich zu machen.“ Es sieht dies als „schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte“ an.

Auch die in der Berliner Republik und auch in der gegenwärtigen Debatte immer wieder beschworene ‚historische Verantwortung‘ Deutschlands bleibt ein Lippenbekenntnis. Zumeist wird es so abstrakt formuliert, dass es auf die konkrete Situation keinerlei Auswirkungen hat. Demgegenüber wäre zu realisieren, dass die überwiegende Zahl der Rom_nja aus Staaten des ehemaligen Jugoslawiens Überlebende oder Nachfahren von Überlebenden des von den Deutschen und ihren kroatischen Verbündeten der Ustascha auch auf dem Balkan durchgeführten Genozids an den Rom_nja sind; die von deutschen Polizist_innen in ‚Balkanzentren‘ eingesperrt oder nach Belgrad oder Skopje abgeschoben werden sollen. Doch diese Perspektive wird von der Berliner Republik verdrängt oder aggressiv zurückgewiesen.

Fazit

Die Debatten um Flucht und Asyl sind seit Jahrzehnten immer wieder antiziganistisch aufgeladen. Auch die gegenwärtige Debatte, die im Kern bereits seit 2010 geführt wird, macht dabei keine Ausnahme. Eine ‚weiße‘ kritische Perspektive muss einerseits die antiziganistischen Gehalte dieser Debatte kriti­sieren und sollte andererseits die vielen ausgeblendeten aber umso relevanteren Kontexte beleuchten und rekonstruieren. Praktisch muss es darum gehen, die Selbstorganisation und die Proteste der Betroffenen anzuerkennen, ihre Positionen ernstzunehmen und ihre Kämpfe für Blei­be­recht und gegen Abschiebung wo gewünscht zu unterstützen.