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Aufarbeitung des patriarchalen Ist-Zustands

Ein Diskussionsbeitrag der Antifa Friedrichshain
Einleitung

Der Fall Johannes Domhöver, der jahrelang sexuell übergriffig und in Beziehungen gewaltvoll unterdrückend gehandelt hat, stellt die antifaschistische Bewegung seit Bekanntwerden im Oktober 20211 vor mehrere Herausforderungen. Einerseits, weil er einer der Beschuldigten und nunmehr Hauptbelastungszeuge im sog. Antifa-Ost-Verfahren ist, andererseits weil solche Missbrauchstaten immer auch sozial – in dem Fall in Antifa-Zusammenhänge – eingebettet sind. Mit dem zweiten Teil beschäftigen wir uns hier.

Kein Patriarchat
(Foto: Jörg Kantel; CC BY-NC-ND 2.0)

Der soziale und politische Kontext in dem Domhöver agiert hat, ist jene Strömung innerhalb der antifaschistischen Bewegung, die sich als „autonom“ begreift. Da wir diese Art der Organisierung und die damit einhergehende militante Praxis weiterhin als notwendig erachten, liegt die Verantwortung zur Aufarbeitung der Umstände, die dazu führen, dass sich übergriffige Männer in unseren Strukturen aufhalten, wohlfühlen, geduldet und vor Kritik geschützt werden, auch bei uns. Auch wenn die Aktionskontexte, die mit Domhöver unterwegs waren, bei der Aufarbeitung besonders gefragt sind, ist er eben nur ein Beispiel für Probleme, die wir kollektiv bearbeiten müssen.

Weil das nicht oft genug gesagt werden kann: Der Grund, weshalb wir überhaupt ausdauernd politisch aktiv sind, ist der Wille gesellschaftliche Unterdrückungsverhältnisse zu überwinden. Als Antifas prangern wir faschistische Tendenzen an, greifen konkret ein und fordern zu persönlichen Konsequenzen und strukturellen Veränderungen auf. Es wäre absurd die eigenen Zusammenhänge in der Kritik gesellschaftlicher Probleme zu verschonen. Dabei steht nicht nur die eigene Glaubwürdigkeit auf dem Spiel, sondern die politische Idee des Antifaschismus, der sich gegen Autoritarismus, Ungleichheit und gegen die Verachtung des Lebens richtet.

Ein zentraler Bestandteil dieses Kampfes war und ist die Bekämpfung der Unterdrückung von Flinta* durch Männer. Offensiv feministisch zu agieren, heißt gleichzeitig antifaschistisch zu handeln. Deshab ist die Beteiligung von Flinta* daran eine notwendige Bedingung. Um allerdings gemeinsam kämpfen zu können ist es notwendig, dass alle Vertrauen zueinander haben. Das ist keine Selbstverständlichkeit, da wir alle gesellschaftlichen (Unterdrückungs-)Mechanismen unterworfen sind und unterschiedlich stark von der ungerecht eingerichteten Welt profitieren.

Um solidarische Verhältnisse zueinander aufzubauen, die diese Widersprüche in Anspruch und Wirklichkeit reflektieren, und trotzdem gemeinsam handlungsfähig sind, braucht es stetige Verständigung über die Forderungen, die wir aneinander haben. Einer der Ansprüche ist beispielsweise in den eigenen Reihen nicht von sexistischer Diskriminierung und sexualisierter Gewalt betroffen zu sein. Dabei ist Sexismus nur einer von vielen möglichen Herrschafts- und Diskriminierungsformen. In der überwiegend weißen deutschen Antifa kommt es daneben auch zu rassistischer Diskriminierung, wovon wiederum auch die von Sexismus betroffenen Flinta* nicht frei sind.

Angesichts des konkreten Anlasses fokussieren wir hier die patriarchalen Probleme. Doch die Dynamik des Vertrauens bzw. des Vertrauensverlustes, ist ein ähnliches. Schwindet das Vertrauen darin, dass mensch im Fall eines Übergriffs auf offene Ohren und schnellstmögliche Unterstützung stößt - und jeder neue Fall ist geeignet dieses Vertrauen zu erschüttern - gibt es bald keinen gemeinsamen Kampf, keine Bewegung und keine Solidarität mehr. Deshalb halten wir eine ernsthafte Diskussion darüber für essentiell und erachten jede verschleppte Aufarbeitung und Abwehr von Prävention als Sabotage an der Bewegung und letztlich der antifaschistischen Idee. Das Ziel bei der Aufarbeitung solcher Fälle, wie dem von Domhöver, ist also ein doppeltes: Verhinderung von patriarchaler Gewalt in unseren Strukturen und ein aktiver Umgang damit, wenn es doch passiert ist.

Aber wie organisieren wir eigentlich innerhalb dieser schon lange nicht mehr durch feste (Groß-)Gruppen greifbaren antifaschistischen Bewegung verbindliche Diskussionen über die zugrundeliegenden Werte gemeinsamer Kämpfe, zum Wandel der Ansprüche aneinander oder gar zu strukturellen Konsequenzen für die (Bezugs-)Gruppen und losen Zusammenhänge?

Ein Beispiel sind die sog. Männlichkeitstreffen unter dem Motto „Aufarbeitung des patriarchalen Ist-Zustands“, die seit November 2021 mit größerer Beteiligung in Berlin stattfinden. Wichtigster Schlüssel zur Teilnahme war die klare Forderung an cis-Männer aus dem Bekanntschaftskreis von Domhöver, ihre eigene Rolle in dem Fall zu reflektieren. Hinzu kam die ‚Prominenz‘ des Falls aufgrund der Kopplung an das Antifa-Ost-Verfahren. Viele hat der Fall und das Ausmaß an Täterschutz in dem Kontext fassungslos gemacht hat, obwohl sie eigentlich „bedingungslos solidarisch“ sein wollten. Einige, die weder mit Domhöver, Sachsen oder Antifa was am Hut haben, sich aber als radikale Linke verstehen, sahen hier die Möglichkeit, sich mal wieder grundlegender auszutauschen.

Inhaltlich konnte dabei auf ohnehin laufende feministische Diskurse (Antisexismusbündnis, Diskussionen zu anderen Fällen, Erfahrungsberichte zu mehr oder weniger geglückter Betroffenen- und Täterarbeit, feministische Events) und entsprechende (Selbst-)Bildungskapazitäten zurückgegriffen werden. In der Vorbereitung standen ein paar Setzungen: Die Treffen sollten Antifa-Männerbünde nicht stabilisieren, sondern erschüttern. Also nicht zur Abwehr von Kritik/Veränderung genutzt werden können. Eine externe Moderation mit klaren Zielvorgaben ist ratsam, um durch die eigene Verwobenheit nicht in Rechtfertigung und falsche Loyalitäten zu verfallen. Die Treffen sollten für nicht Anwesende nachvollziehbar sein (z.B. durch öffentliches Protokoll), nicht entgegen der Bedürfnisse von Betroffenen stattfinden (Info an Flinta*-Vollversammlung, Kontakt zu Unterstützungsgruppen) und keine Alternativen zu anderen Treffen und Initiativen darstellen.

Es gab inhaltliche Schwerpunkte in der Vorbereitung. Einer war, dass es einen Zusammenhang zwischen der Reduzierung der politischen Praxis auf körperliche Gewalt gegen Neonazis und der gewaltvollen Durchsetzung eigener persönlicher Bedürfnisse in Beziehungen, gibt. Oder, dass es Formen von Militanz gibt, die nicht-patriarchal sind, aber auch welche, die als explizit patriarchal gelten. Hinzu kamen Gewissheiten, über die nicht mehr verhandelt werden sollte. Beispielsweise: Alle haben Bedürfnisse und Ängste, die unser Verhalten beeinflussen. Sexismus gibt es überall – auch unter Linksradikalen. Den Impuls sexualisierte Gewalt zu relativieren gibt es, aus unterschiedlichen Motiven, auch bei uns. Unrealistische Männlichkeitsbilder schaden auch cis Männern. Es gibt Konkurrenz und normative Bewertungen von gelungener Männlichkeit sowie auch von politischer Praxis. Gewalt mag überwiegend strategisch zur Anwendung kommen, kann aber auch einen Akt von Überforderung angesichts gescheiteret Methoden darstellen. Und das Wichtigste: Patriarchat hat was mit Faschismus zu tun.

Das erste Treffen war im November 20211 und widmete sich vor allem der Bestandsaufnahme. Problemfelder sind demnach: Fehlende Verbindlichkeit von Aufarbeitungsprozessen nach Übergriffen in der Bewegung, zu schnelle Verantwortungsübertragung an andere (z.B. Professionelle, Unterstützungsgruppen, Psycholog*innen) bei gleichzeitig vorschnellen Konsequenzen (Ausschluss des Täters, Vermeidung von struturellen Veränderungen), Nicht-Positionierung bei Übergriffen, Nicht-Erkennen von Warnzeichen, Angst als cis Mann selbst an den Ansprüchen gemessen zu werden, Männer-Solidarität und Täterschutz orientieren sich an Hierarchien innerhalb der Kontexte, fehlende Awareness für Betroffene und daraus resultierende Untätigkeit z.B. in der Unterstützungsarbeit. Gemeinsam wurde eine Liste von  Maßnahmen, die in persönlichen Beziehungen, in Gruppen und in der weiter gefassten Bewegung angewendet werden können, gesammelt.

Weil es einfacher fällt, nicht an  konkreten Auseinandersetzungen in denen mensch selbst beteiligt ist zu diskutieren, gab es oft den Wunsch nach Leitfäden zur besseren Vorbereitung auf Fälle und Unterstützungsarbeit. Die "Interventionistische Linke" hat ihren allgemeinen Umgang innerhalb der Gruppe mal veröffentlicht2 , aber es gibt auch sehr viel konkretere aus anderen Zusammenhängen3 , die auch die Prävention von sexualisierter Gewalt beantworten. Außerdem wurden andere Schwerpunkte in der politischen Arbeit vorgeschlagen: Flinta*-Vernetzungen stärken; kritische Männlichkeit zum Standard politischer Bildung machen; militantes Auftreten und Demokultur hinterfragen. Auf der persönlichen Ebene wurde appeliert emotionale, reproduktive- und Carearbeit wertzuschätzen und selbst zu übernehmen; Liebesbeziehungen und Konfliktlagen auch in politischen Kontexten offenzulegen usw. Aber mehr als Hinweise auf weitere Ansatzpunkt und Erfahrungsaustausch kann in solchen Treffen nicht zustandekommen.

Drei Monate später schloss ein weiteres Treffen an4 , bei dem es mit einem Workshop vor allem um das Konzept „Kritische Männlichkeit“ für die Reflexion patriarchalen Verhaltens ging. Dieser wurde auch als Plattform zur Darstellung des eigenen Reflexionsprozesses genutzt. Das konkrete Angebot eines Workshops war mobilisierend. Es ging erstmal um die Basics: Was hat Männlichkeit mit Herrschaft zu tun? Was bearbeiten Männergruppen? Wie tun sie das und auf welchen Ebenen? Welche Kritik gibt es an Männergruppen und welche Fallstricke? Mehrere Gruppen hatten mit dem Fall Domhöver zu tun und berichteten, wie wichtig regelmäßige Koordination dazu ist. Der so selbst erzeugte Druck hat die Verbindlichkeit gestärkt, aber auch zu Spaltungen geführt. Die fehlende Transparenz der (persönlichen) Prozesse für Außenstehende ist ein Problem. In dem Zusammenhang wurde auch von versuchter Täter- und Kontrollarbeit und den Fehlern die bei Domhöver gemacht wurden, berichtet. Der Wunsch zum Verbleib von Tätern in den Zusammenhängen, um mit ihnen an Verhaltensänderungen zu arbeiten, ist oft so groß, dass die eindeutigen Hinweise nicht wahrgenommen werden, dass ein Ablegen gewaltvoller sexistischer und übergriffiger Praxis beim Täter überhaupt nicht gewünscht ist. Aus den Antifagruppen kamen Hinweise, die sich auf die Art und Weise des Umgangs in der Gruppe (z.B. Kritik &Selbstkritik, Wissenshierarchien analysieren, auch emotionale Arbeit) bezogen.

Interessante Fragen waren: Woher kommt der Männerüberhang in manchen Gruppen? Was hindert Flinta* daran, sich in der Gruppe zu engagieren? Oder warum sind sie schnell wieder raus? Um auch Antworten auf diese Fragen zu finden, braucht es ein stetiges Reden darüber, das verpflichtend ist. Diese Reflexionsfähigkeit in der Organisierung muss bei sich ständig ändernden Bezugsgruppen und spontanen, z.B. auf Events orientierten, Zusammenhängen über andere Formate als dem wöchentlichen Plenum, hergestellt werden. Trotz guter Impulse wiederholten sich viele der Problembeschreibungen (z.B. Unverbindlichkeit, Unorganisiertheit, konsequenzenloses Weitermachen üblicher Muster). Die vorgeschlagenen Maßnahmen aus dem ersten Treffen wurden kaum angegangen.

Es wurden auch völlig neue Probleme aufgemacht, die weg führen von der Fragestellung wie wir Übergriffe verhindern können - z.B. dass sich cis Männer mit dem Thema profilieren könnten. Dabei wird der zweite Schritt vor dem ersten gemacht. Statt eine veränderte Prioritätensetzung und jede - auch plumpe, nicht weit genug gehende - Auseinandersetzung wertzuschätzen, wird sich gegenseitig belauert, welche Fehler dabei gemacht werden. Eine Folge sind beleidigte und in ihren Ansprüchen an sich selbst tief verletzte cis-Männer, die sich ausklinken. Wir kennen das auch aus anderen Konfliktlagen innerhalb progressiver Bewegungen: Es mangelt an der Fähigkeit sich gegenseitig Kritik zu geben und anzunehmen und es mangelt an der Fähigkeit unterschiedlich Perspektiven auf Unterdrückungsmechanismen einzunehmen und die eigene
Rolle dabei zu reflektieren. Zudem gibt es wenig Übung darin, was als „Persönlichkeitsarbeit“ verstanden wird. Statt dessen wird mit klassischen Abwehr- und Ablenkungsmechanismen reagiert. Dazu kollektive Werkzeuge zu entwickeln, wäre wichtig, um nicht permanent Leute für die politische Arbeit zu verlieren, die „in Prozessen stecken“.

Wir stellen fest: Die im Domhöver-Fall involvierten Kontexte zerlegen sich zunehmend selbst5 . Aber auch andere (Aufarbeitungs-)Prozesse werden überwiegend individualisiert und ins Private verlagert, gerade um sich nicht der mehr oder weniger konstruktiv vorgetragenen Kritik zu stellen. Über das was eigentlich ansteht, nämlich die Etablierung neuer Standards dafür, wie militante Politik weniger patriarchal stattfinden kann und wie eine in lose Netzwerke verzweigte Bewegung resilienter wird gegen übergriffiges Verhalten und Täterschutz, scheint noch kein Raum zu sein.

Das Format von intern mobilisierten Vollversammlungen finden wir weiterhin eine gute Idee, neben öffentlichen Formaten wie der auf Beteiligung ausgelegten Arbeit von Gruppen wie ProFem0306 . Deshalb wurde beim letzten Treffen im Juni 2022 7 entschieden viermal jährlich einen Erfahrungsaustausch in Kombination mit einem Workshop (nächster zu Betroffenenperspektive und Unterstützungsarbeit) anzubieten.