Skip to main content

Brennpunkt Tostedt

Einleitung

»Die Samtgemeinde Tostedt bietet Lebensqualität!«. So wirbt der Bürgermeister des 13.000-Seelen-Dorfes am Rande der Lüneburger Heide auf der Website der Stadt. Doch die Realität sieht anders aus. Vor allem links eingestellte Jugendliche leben in einem permanenten Angstzustand. Sie sehen sich auf der einen Seite mit einer extrem gewaltbereiten und mitgliederstarken Neonaziszene konfrontiert, deren Anhänger in nahezu jeder subkulturellen Strömung vertreten sind. Auf der anderen Seite steht eine Zivilgesellschaft, in der Neonazis akzeptiert und integriert werden sowie staatliche Repressionsorgane, die unter dem Deckmantel der »Extremismusbekämpfung« antifaschistischen Protest kriminalisieren und das offensichtliche Neonaziproblem verschweigen.1

  • 1So behauptete der Polizeipräsident Uwe Lehne, bis der öffentliche Druck zu groß wurde, in Tostedt gebe es kein Neonaziproblem, denn »Tostedt ist bunt und braun ist auch eine Farbe«.

Der Block des »NW Tostedt« und der »Kameradschaft Buchholz« mit Stefan Silar (1. v. r.) auf einer Neonazidemonstration in Bad Nenndorf im August 2009.

Vor allem körperliche Übergriffe auf Antifaschist_innen und deren Umfeld sind an der Tagesordnung. Der alltägliche psychische Druck zeigt sich für die Betroffenen durch Drohungen, Verfolgungsjagden und massiven Ausgrenzungsmechanismen. Kleinere Übergriffe wie Schläge oder Flaschenwürfe finden im Alltag oder am Rande von Dorf- und Schützenfesten statt. Wenn die Gewalt dann eskaliert, werden alternative Jugendliche bis zur Bewusstlosigkeit verprügelt oder brechen bewaffnete Neonazis in Häuser ein, zerstören Fenster und Türen, schlagen und treten auf Personen ein, wie es mehrfach im Frühjahr 2010 in dem Tostedter Ortsteil Wistedt sowie im Nachbarort Hollenstedt geschah. Neben dem Schock und Verletzungen wie Platzwunden und Gehirnerschütterungen erlitten einige Betroffene der Übergriffe auch langfristige Schäden, darunter ausgeschlagene Zähne, Gedächtnisverlust und Lähmungserscheinungen. Zusätzlich treffen unerwünschte oder unvermeidbare Ermittlungsverfahren durch die Repressionsorgane statt der AngreiferInnen eher die angegriffenen Antifaschist_innen.

Ideologisch sehen sich die Tostedter Neonazis in direkter Nachfolge des NSDAP-Ortsverbandes von 1929, der u.a. durch Waffenlager in der Lüneburger Heide1 Aufsehen erregte. Die strukturellen Wurzeln der heutigen Neonaziszene finden sich allerdings in den frühen 1990er Jahren, als die aktive Zeit der heutigen Neonazigröße Stefan Silar begann. Trauriger Höhepunkt seiner damaligen Aktivität war der Totschlag von Gustav Schneeclaus2 .

Während Silars mehrjähriger Haftstrafe festigte sich die, einige Jahre zuvor entstandene, Neonazistruktur in Tostedt. Auffallend war schon damals die enorme Bereitschaft zur Brutalität. So wurden laut Augenzeugenberichten politische Gegner_innen mit Messern und scharfen Schusswaffen verfolgt. Zeitgleich sorgten die Neonazis für nachhaltige Strukturen, in denen Stefan Silar gleich nach seiner Haftentlassung aufgefangen wurde und innerhalb derer er sich vom unorganisierten »Bonehead« zum Neonazikader mit Bedeutung für die gesamte norddeutsche Szene entwickelte. Unter anderem wurde er eine Führungsfigur der »Blood & Honour Sektion Nordmark« und war damit an der Organisation zahlreicher Rechtsrockkonzerte überregional beteiligt.

Nach dem Verbot des Netzwerkes im Jahr 2000 galt er als Mitbegründer der Nachfolgeorganisation »Saalschutz Nordmark«, eine Gruppierung, die auf »Honour & Pride«-Veranstaltungen und Konzerten von rechten Bands wie »Kategorie C« als Security auftritt. Des Weiteren eröffnete er 2005 im Ortsteil Todtglüsingen den Neonaziladen »Streetwear Tostedt«, mit dem er für Neonazistrukturen aus dem gesamten Umland einen Anlauf- und Vernetzungspunkt geschaffen hat. Durch Spendenaktionen finanziert er bundesweite Neonaziaktivitäten. So vertrieb er über seine Internetversände3 u.a. Soli-T-Shirts für die Neonazikneipe »Club 88« in Neumünster und den geplanten Aufmarsch zum 1. Mai 2009 in Hannover. Für die neonazistische Jugendarbeit in Tostedt stellt der Laden die wichtigste Plattform dar und sorgte seit der Eröffnung für viel Nachwuchs. Gezielt werden Rabattflyer verteilt und junge Menschen auf der Straße angesprochen, um sie in den Laden zu locken. Auch Fahrten zu Veranstaltungen werden teilweise zentral über »Streetwear Tostedt« organisiert.

Neben der überregionalen Vernetzung mit Kameradschaften wie den »Snevern Jungs« oder »Celle 73« haben die aktiven Neonazis der 1990er Jahre mittlerweile eine mitgliederstarke Untergrundkameradschaft »Gladiator Germania« etabliert, deren Aktionsradius sich allerdings auf die Region beschränkt. Die Gruppe fungiert als Sammelbecken für alle möglichen Neonazis, zeitweilig gab es sogar einen Ableger unter demselben Namen im sächsischen Schildau.

Des Weiteren zählt Sebastian Stöber zu den wichtigsten Köpfen der Struktur. Neben seiner NPD-Kandidatur für die Bundestagswahl 2009 erwarb er im Juli 2010 für 115.000 Euro eine Immobiliein Wöhrden (Hollern-Twielenfleth) im Alten Land bei Stade. Das ehemalige Gasthaus »Symphonie« soll der zukünftige Clubraum des Rockerchapters »Gremium MC Stade« werden, in dem Stöber eine zentrale Rolle zugeschrieben wird. Da er wiederholt als Anmelder für Rechtsrockkonzerte4 in Erscheinung trat, könnte die »Symphonie« auch als Konzertraum genutzt werden.

Doch nicht alle »Gladiatoren« sind ideologisch so gefestigt wie die Gründer. Hauptsächlich definiert sich die Gruppierung über rechten Lifestyle. Durch das breite Spektrum der Mitglieder und deren Verteilung auf nahezu alle öffentlichen Bereiche gibt es einen enorm großen Dunstkreis an SympathisantInnen. Viele der Randfiguren von »Gladiator Germania« zeigen allerdings nur sporadisch politisches Engagement. Einigen Nachwuchs-»Gladiatoren« reichte das nicht aus. Immer öfter traten sie auf überregionalen Neonazi-Veranstaltungen in Erscheinung. In Dresden und Bad Nenndorf versuchten sie mit eigenen Transparenten und in Begleitung vernetzter Gruppen wie der »Kameradschaft Buchholz« sogar einen geschlossenen Block zu formieren.

Mittlerweile tritt diese Splittergruppe unter dem Namen »Nationaler Widerstand Tostedt« in Erscheinung. Trotz ihres jungen Alters werden die Mitglieder als gewaltbereite Schläger wahrgenommen. Sie sind nicht nur für zahlreiche alltägliche Übergriffe, Drohungen und Hetzjagden verantwortlich, sondern beteiligen sich maßgeblich an der Planung und Durchführung von fast allen Aktionen. Die Mitglieder des »NW Tostedt« begreifen sich als moderne »Autonome Nationalisten«. Sie versuchen sich am Skateboarding und an Graffitis, machen Lärm mit ihrer eigenen Kellerband und betreiben Internetpropaganda über zahlreiche Blogs und »YouTube«-Accounts. Neben Veranstaltungen der »Nationalrevolutionäre« der »AG Delmenhorst« beteiligen sie sich aber nach wie vor auch an traditionellen völkischen Veranstaltungen, geschichtsrevisionistischen Großevents und Kaderschulungen5 .

Die erstaunlich große Neonaziszene ist fester Bestandteil der Tostedter Gesellschaft. Das Problem ist »hausgemacht«. Mitte der 1990er Jahre gab es das Projekt der »akzeptierenden Jugendarbeit«. Anstatt neonazistische Ideologie zu bekämpfen, wurden jungen Neonazis durch die Samtgemeindeverwaltung strukturelle Hilfe, finanzielle Mittel und Räume zur Verfügung gestellt, über die sie sich organisieren und vernetzen konnten. Gleichzeitig wurde jungen Antifaschist_innen und nicht rechten Jugendlichen ihr Treffpunkt genommen, indem das örtliche Jugendzentrum zeitweilig geschlossen wurde. Diese politische Linie zieht sich wie ein roter Faden durch die letzten Jahrzehnte und erschwert bis heute die Bekämpfung der Tostedter Zustände.

Literaturtipp:
Norddeutsche Antifagruppen (Hg.): Rosen auf den Weg gestreut ... Kritik an der »akzeptierenden Jugendarbeit mit rechten Jugendcliquen«, 5 Auflage, Hamburg 2001
Über: rat-reihe antifaschistischer texte, c/o Schwarzmarkt, Kleiner Schäferkamp 46
20357 Hamburg

Mehr Informationen unter:
http://krautdetection.blogsport.de

  • 1Buchholz – die verschwiegenen 20 Jahre, S.11
  • 21992 wegen einer Diskussion über Adolf Hitler
  • 3»Streetwear Tostedt« und »Nordic Flame«
  • 4u.a. in der Tostedter Schützenhalle 2001 nach dem Verbot von B&H (Ian Stuart Memorial)
  • 5u.a. mit Thorsten Heise als Referent 2008