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Der »Behemoth« von Franz Neumann

Fabian Kunow
Einleitung

Franz Neumann versucht den Nationalsozialismus in seinem strukturanalytischen Werk »Behemoth« als Unstaat und Ungeheuer für Außenstehende begreiflich zu machen. Sechster Teil der Reihe »Faschismustheorien. Erklärungen des NS«

Der Jurist und Politologe Franz Neumann veröffentlichte 1942 sein Werk »Behemoth«.

Im Jahr 1942 veröffentlichte der Jurist und Politologe Franz Leopold Neumann im amerikanischen Exil die erste Ausgabe des Behemoth. 1944 folgte die um quasi ein neues Buch erweiterte zweite Auflage des Behemoth in den USA und England. In deutscher Sprache erschien das Buch 1977 mit dem Titel »Behemoth. Struktur und Praxis des Nationalsozialismus 1933–1944.« Der Behemoth wurde aufgrund seiner analytischen Schärfe und seines Faktenreichtums zur »Bibel des OSS1 « bei der Bewertung des Feindes: Des nationalsozialistischen Deutschlands.

Namensschöpfung des Behemoth

Der Name Behemoth entspringt der jüdischen Mythologie. Behemoth ist das Ungeheuer, welches mit Leviathan bis zum Untergang kämpft. Leviathan ist das zweite Ungeheuer der jüdischen Mythologie, sein gleichnamiges Werk verhalf dem englischen Staatstheoretiker Thomas Hobbes zur Prominenz. Der Leviathan war das erste Werk der Neuzeit, welches die Idee eines Staates mit entsprechenden Rechten und Pflichten des Einzelnen enthielt. Es entstand vor dem Hintergrund des grausamen englischen Bürgerkrieges (1642–1649), der zu regellosen chaotischen Zuständen auf der Insel führte.

Der Titel lehnt sich an das biblisch-mythologische Seeungeheuer Leviathan an, vor dessen Allmacht jeglicher menschliche Widerstand zerstört werden muss. Eine ähnliche Rolle kommt in Hobbes absolutistischem Politikverständnis dem Staat zu, der damit zum Gegenstück des durch das Ungeheuer Behemoth personifizierten Naturzustandes wird. Hobbes geht von einem Naturzustand aus, in dem die Menschen ohne Gesetz und ohne Staat leben und daher mittels des Naturrechts  jeder Alles beanspruchen kann. Im Naturzustand herrscht ein »Krieg aller gegen alle«, in dem »der Mensch [...] dem Menschen ein Wolf [ist]«.

Im Behemoth versuchte Neumann die Wirklichkeit wie die Ursprünge des NS zu erfassen und verständlich zu erklären. Sein Fazit: Der Nationalsozialismus ist ein aus einem bürgerlichen Staat gewordenes Ungeheuer, welches mit den damals herkömmlichen politikwissenschaftlichen, staatstheoretischen Kategorien nicht zu fassen sei.

Neumann geht hier weiter als sein ehemaliger Sozius Ernst Fraenkel, der die Herrschaft des NS als eine doppelstaatliche2 (vgl. AIB 79 »Der Doppelstaat«) darstellt. Im Behemoth finden sich trotzdem Material und Beobachtungen aus dem »Doppelstaat« Fraenkels wieder. Für Fraenkel, dessen Werk auf Material basierte, das er während der ersten Jahre des NS noch im Land sammeln konnte, ist die Herrschaft im NS, wenn auch doppelstaatliche, noch immer eine staatliche. Neumann spricht dem deutschen Nationalsozialismus – anders als dem italienischen Faschismus – den Begriff Staat ab. Deshalb spricht er nicht vom »totalen Staat« oder »totalitären Staat«, der alles durchdringt, wie im faschistischen Italien, sondern von einem »totalitären Pluralismus«. Die gesellschaftliche Organisationsform der Herrschaft des NS ist für Neumann etwas anderes als ein Staat. Die Unterschiede zwischen sich und Fraenkel erklärt er unter anderem damit, dass Fraenkel bei seiner Strukturanalyse »Der Doppelstaat« nur die ersten Jahre des neuen Regimes beachten konnte.

Der NS kein Staat?

Staatlichkeit bedeutet für Neumann »die Herrschaft des Gesetzes«3 , die von einem einheitlichen Akteur, der mit den entsprechendem Gewalt- und Zwangsapparaten ausgestattet ist, umgesetzt wird. In Nazi-Deutschland gibt es aber kein monolithisches Machtsystem. Es gibt viel mehr verschiedene Akteure, die ein Herr-Knechtverhältnis über die Gesellschaft ausüben: Die Partei/Bewegung, die Wehrmacht, die alte Staatsbürokratie sowie die Monopolwirtschaft. Neumann fasst zusammen: Im Polizei- und Jugendbereich ist die Partei unabhängig, überall sonst steht der Staat über der Partei. Die Wehrmacht ist auf vielen Gebieten souverän, die Bürokratie bleibt unkontrolliert, und die Industrie konnte zahlreiche Stellungen erobern4 .

Widersprüche zwischen diesen drei Akteuren auf den ehemaligen hoheitlichen Gebieten des Staates werden nicht auf allgemein verbindliche Weise gelöst, sondern mittels Führerbefehl mal so mal so5 entschieden oder über das Mittel des Terrors ausgetragen.

Neumann beobachtet in den späteren Jahren des NS, dass sich Wehrmacht, Monopolwirtschaft und Partei/ Bewegung gegen die alten staatlichen Bürokratiestrukturen durchsetzen und so noch weiter Recht und Gesetz als allgemein verbindliche Maßstäbe zerstört werden. Es herrscht so die pure Willkür eines »Unstaats«, der zusammengehalten wird von »Praktikern der Gewalt« (Neumann). Diese fallen auch sofort übereinander her, wenn sich die Gelegenheit ergibt. Auch vor Mord als politischem Instrument in den eigenen Reihen wird nicht halt gemacht.

Als Beispiel für das Rückdrängen der alten staatlichen Strukturen in der späten Phase des NS gibt Neumann beispielsweise an, dass nicht mehr die alten föderalen Grenzen innerhalb des Deutschen Reiches galten, sondern die Territorien der Parteigaue als Einteilungskriterium eingesetzt wurden. Der NSDAP und ihrer Stellung widmet Neumann im Behemoth mehrfach ganze Kapitel.

Wenn der Nationalsozialismus kein Staat ist, kann auch nicht von einer »Verselbständigung der Exekutivgewalt« gesprochen werden, mit welcher die marxistische Faschismustheorie auf Basis der Bonapartismustheorie (Vgl. AIB 75) versucht die faschistische Herrschaft zu erklären. So trat Neumann bewusst den Faschismusdefinitionen der ersten Stunde entgegen6
 
Staatskapitalismus vs. totalitärer Monopolkapitalismus?

Das 1933 über Genf ins amerikanische Exil emigrierte Institut für Sozialforschung war weniger homogen, als die Synonyme »Frankfurter Schule« bzw. »kritische Theorie« es glauben machen. Die Spaltung verlief am nicht nur biographischen Außenseiter Franz Neumann. Es ging um die für alle aus dem Marxismus stammenden Wissenschaftler entscheidende Frage: Die Stellung der Ökonomie in der eigenen Theorie.

Der Institutsdirektor Friedrich Pollock sah wie Max Horkheimer im NS einen Staatskapitalismus. Der Staatskapitalismus, ob im demokratischen, oder autoritären, diktatorischen Gewand, stellt nach Auffassung ihrer Verfechter eine neue gesellschaftliche Stufe im Spätkapitalismus dar. Nicht mehr der Markt war zentraler Ort der Ökonomie, sondern der Staat als Planer, Arbeitgeber und Absatzort. Diesen sahen sie im NS mit seinem Kriegsprogramm verwirklicht. Ein Staatskapitalismus könne aber auch unter Friedensbedingungen die an ihn geknüpften Erwartungen erfüllen.

Pollock sah mit seinem idealtypisch entworfenen Konstrukt eines Staatskapitalismus, ebenso wie Horkheimer und Theodor Adorno, in einem voll entwickelten faschistischen System das vom Marxismus behauptete Primat der Ökonomie über die Politik tendenziell abgeschafft7

Neumann wie A. R. L. Gurland und Otto Kirchheimer vertraten hingegen eine orthodoxe, traditionell marxistische Linie. Gurland und Kirchheimer steuerten zum Behemoth entsprechende Teile über die Ökonomie bei. Sie sahen in dem im NS verwirklichten »totalitären Monopolkapitalismus«, nur eine konsequente Entwicklung der aufgrund der Gesetzmäßigkeiten des Kapitalismus notwendigerweise entstehenden Monopolkapitalisierung. Die staatlichen Interventionen im NS beschleunigten diesen Prozess der Monopolkapitalisierung, waren aber nicht dessen Ursache. Auch ohne die Herrschaft des NS wäre die Monopolkapitalisierung vorangeschritten. Was zeige, dass Staat, NSDAP und Wirtschaft unterschiedliche Akteure blieben und nicht in eins fielen, wie in der These vom Staatskapitalismus angenommen wird. Der NS bleibt so bei Neumann & Co Vollstrecker des Kapitalismus und wird nicht zum Postkapitalismus wie bei den anderen Vertretern der »Kritischen Theorie«.

Warum heute noch den Behemoth lesen?

Wenn Neumann die Ursachen für die Entstehung der Herrschaft des Nationalsozialismus auflistet, sind es die, die auch heute noch als die Entscheidenden gelten: Die alten antidemokratischen Strukturen des Kaiserreiches, die weiterwirkten in Verwaltung, Militär und Administration, Monopolisierungstendenz und Kartellbildung, strukturelle Schwächen der Institutionen des Regierungsgebäudes der Weimarer Republik, die Schwäche der organisierten Arbeiterbewegung und Gewerkschaften, als es darauf ankam.

Neumann beschäftigt sich ausführlich mit der Theorie des Juristen und Vordenkers der Nazis Carl Schmitt. Gerade Neumanns Auseinandersetzung mit Carl Schmitt ist heute noch interessant, da die meisten Ex-Linken, welche heute bei der extremen Rechten zu finden sind, über die Beschäftigung mit Schmitt das Ticket für diese Reise lösten. So bleibt die Kritik von Neumann an Schmitt noch heute aktuell.

Aber nicht nur Carl Schmitt findet sich im Behemoth wieder, sondern auch Hegel, Marx und Weber. Hier macht sich bemerkbar, für wen der Behemoth geschrieben wurde: Für in der liberalen Denke verhaftete US-Amerikaner und Engländer. So wird der Behemoth auch zum Einführungs- und Geschichtsbuch für Philosophie, Kritik und Soziologie aus Deutschland.

Den Behemoth als »Nicht-Jurist« zu lesen ist oft kompliziert. Die rechtstheoretischen Abhandlungen sind ermüdend und das empirische Material auf den hunderten von Seiten erdrückend. Aber man lernt über die Theorie, Wirklichkeit und Entwicklungswege des nationalsozialistischen Deutschlands so viel wie in kaum einem anderen Buch. Neumanns Freund Fraenkel spricht daher zu Recht von der ersten »Enzyklopädie des Nationalsozialismus«. Nicht zufällig genießt Neumann daher Ansehen von dem rechten Historiker Ernst Nolte (für den der Faschismus eine abgeschlossene Epoche ist) bis zu antideutschen Autoren, die mit den Konstruktionen im Behemoth versuchen dem heutigen Iran nachzuweisen, dass dieser Staat vergleichbar ist mit dem Deutschland von 1933–1945.

Literatur:
• Neumann, Franz (2004): »Behemoth. Struktur und   Praxis des Nationalsozialismus 1933–1944«. Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main

• Dubiel; Helmut/ Söllner, Alfons (1984): »Wirtschaft, Recht und Staat im Nationalsozialismus. Analysen des Instituts für Sozialforschung 1939–1942 von Max
Horkheimer; Friedrich Pollock, Franz L. Neumann,
A. R. L. Gurland, Otto Kirchheimer und Herbert
Marcuse«. Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft,
Frankfurt am Main

• Intelmann, Peter (1990): »Zur Biographie von Franz L. Neumann«. In: 1999. Zeitschrift für Sozialgeschichte des 20. und 21. Jahrhunderts. (Hrsg.) Hamburger Stiftung für Sozialgeschichte des 20. Jahrhunderts. Volksblatt Verlag, Köln

Franz Leopold Neumann

Franz Leopold Neumann wurde am 23. Mai 1900 in Kattowitz als Sohn einer jüdischen Familie geboren. Als Student nahm er an der Novemberrevolution 1918 teil. Neumann war Mitglied eines Arbeiter- und Soldatenrates. Ab 1918/19 schlägt er aber einen reformistisch-legalistischen Weg ein und tritt der SPD bei. Er studiert in Frankfurt Jura. Sein Interesse gilt rechtssoziologischen Fragestellungen.

Von 1928–1933 arbeitet er in Berlin in Sozietät mit Ernst Fraenkel als Rechtsanwalt mit Schwerpunkt Arbeitsrecht. Neumann vertritt die ADGB-Gewerkschaften. Von 1928 an lehrt er an der Deutschen Hochschule für Politik in Berlin und arbeitete als Rechtsberater des Vorstands der Sozialdemokratischen Partei, deren Syndikus er wird. Auch nach dem 30. Januar 1933 tritt er weiter für die juristischen Belange der SPD ein, zuerst noch in Deutschland, dann aus dem Londoner Exil, in welches er im Frühling 1933 flieht.

In London absolviert er ein Doktorstudium der Politischen Wissenschaft an der London School of Economics and Political Science und betreibt Exil-Arbeit für die SPD. Im Juni 1936 wird er aufgrund seines »staatsfeindlichen Treibens« ausgebürgert. Er gehört zu den ersten Opfern der nationalsozialistischen Ausbürgerungspolitik. Die Beständigkeit des NS-Regimes und die Enttäuschung über den pazifistischen Kurs der Labour Party gegenüber Nazi-Deutschland lies Neumann keine Rückkehrperspektive mehr sehen. So orientiert er sich in Richtung des im amerikanischen Exil sitzenden Frankfurter Instituts für Sozialforschung und siedelt nach New York über. Für das Horkheimersche Institut ist er zu seinem Leidwesen vor allem als Jurist tätig. Dort schreibt er aber auch ab 1939 sein bekanntestes Werk, den Behemoth. Es wird sofort nach seinem Erscheinen 1942 zum Standardbuch über das nationalsozialistische Deutschland.

Ab Juli 1942 arbeitet Neumann aufgrund von Differenzen im Institut und mangelnder persönlicher Perspektiven für die amerikanischen Auslandsgeheimdienste. Er ist nicht der einzige aus Deutschland vertriebene linke Intellektuelle, der dies tut. »Es war so als hätte sich der linkshegelianische Weltgeist vorübergehend in der mitteleuropäischen Abteilung des OSS angesiedelt«8 . Mit der Beendigung des 2. Weltkrieges bereitet Neumann für das OSS den Nürnberger Kriegsverbrecherprozess vor. Er verlässt 1947 das State Department und wird Professor an der Columbia University. Am 2. September 1954 verunglückt Neumann bei einem Autounfall. Er kehrte abgesehen von Arbeitsaufenthalten und Gastprofessuren nie nach Deutschland zurück.

  • 1OSS: Office of Strategic Service; militärischer Auslandsgeheimdienst der USA während des II. Weltkrieges. Das OSS war eine Vorläuferorganisation der CIA.
  • 2Fraenkel sieht den nationalsozialistischen Staat in einen »Normenstaat« und einen »Maßnahmenstaat« zerfallen. Im alten Normenstaat läuft alles weiter in geregelten rechtstaatlichen Bahnen, während im Maßnahmenstaat die Willkür der politischen Ambitionen der Nazis regiert. Im Zweifelsfall steht der Maßnahmenstaat über dem Normenstaat.
  • 3Vgl. Neumann S. 541
  • 4s.o.
  • 5Im Englischen: day-to-day
  • 6Die beiden Marxisten Otto Bauer und August Thalheimer hatten Ende der 1920er, Anfang der 1930er Jahre Faschismus als »Verselbstständigung der Exekutive« in der Krise definiert.
  • 7Vgl. Dubiel; Söllner S. 16
  • 8 Intelmann S. 45