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Der „NSU-Geheimbericht“: Zeugnis eines Desasters

Exif Recherche (Gastbeitrag)
Einleitung

Ende Oktober 2022 wurde der in weiten Teilen geschwärzte "NSU-Geheimbericht" geleakt. Um eines vorweg zu nehmen: Der Geheimbericht liefert keine Aufklärung und keine Antworten auf die relevanten Fragen rund um die rassistische Terrorserie des NSU. Im Kern ist es nur ein weiteres Zeugnis der desaströsen Arbeitsweise in deutschen Geheimdiensten.

(Symbolbild von 3ds; CC BY-NC-ND 2.0)
(Symbolbild von 3ds; CC BY-NC-ND 2.0)

(Symbolbild)

120 Jahre sollte der Geheimbericht – oft bezeichnet als „NSU-Akten“ – des hessischen Geheimdienstes über die Mordserie des „Nationalsozialistischen Untergrund“ (NSU) unter Verschluss bleiben. Nach all den unerfüllten Versprechen der Aufklärung, nach Aktenschredder-Aktionen und dem Auffliegen etlicher V-Personen, die im direkten Umfeld des Kerntrios des NSU platziert waren, sind 120 Jahre Geheimhaltung ein weiterer Vertrauensbruch und Affront gegen die Betroffenen des NSU-Terrors und alle, die sich gegen Rassismus und Neonazismus engagieren.

Nach dem Mord an Walter Lübcke wurde die Geheimhaltungsfrist auf 30 Jahre herabgestuft. Doch der Geheimbericht wurde zum Symbol dafür, wie der deutsche Staat mit Betroffenen des Neonaziterrors umgeht. Er steht für das Schweigen ignoranter Behörden, die permanent verharmlosen, vertuschen und teils selbst verstrickt sind in den rechten Terror in Deutschland. Es geht längst darum, was der Bericht heute verkörpert, nicht um seinen konkreten Inhalt.

Versuche der Geheimhaltung

Im Juni 2012 wies der damalige hessische Innenminister Boris Rhein seine Behörde an, sämtliche Akten auf Hinweise zum NSU und zu rechtsterroristischen Aktivitäten im Land Hessen zu prüfen. Ein Zwischenbericht, den der hessische Inlandsgeheimdienst im Jahr 2013 eingereicht hatte, wurde vom Innenminister wegen Unzulänglichkeiten zurückgewiesen. Der endgültige Abschlussbericht wurde im September 2014 fertig gestellt und seither unter Verschluss gehalten. Es durfte noch nicht einmal bekannt werden, dass es den Bericht gab. Auf Drängen der Linkspartei im hessischen NSU-Untersuchungsausschuss wurde die Geheimhaltungsstufe des Berichts heruntergesetzt. Erst dadurch wurden die Existenz des Berichtes und die 120-jährige Geheimhaltungsfrist in der Öffentlichkeit bekannt.

Einen weiteren Vorstoß lieferten die Journalisten Dirk Laabs und Stefan Aust, die teils erfolgreich auf Akteneinsicht klagten. Die Geheimhaltungsfrist wurde schließlich auf 30 Jahre reduziert, es besteht jedoch die Möglichkeit den Bericht nach Ablauf der Sperrfrist weiter unter Verschluss zu halten.

Was (nicht) im Geheimbericht steht

Der „Abschlussbericht zur Aktenprüfung im LfV Hessen im Jahr 2012“, wie der Geheimbericht offiziell heißt, besteht aus einem 17-seitigen Bericht, der die Herangehensweise und Umsetzung, Ergebnisse und Schlussfolgerung der Aktenprüfung beschreibt. Bei der Durchsicht des Berichts stößt man immer wieder auf das Kernproblem der Arbeitsweise des Inlandsgeheimdienstes: Er baut sein Wissen im Wesentlichen auf Aussagen bezahlter Spitzel auf.

So finden sich zahlreiche Meldungen über Schießtrainings, Waffen- und Sprengstoffbeschaffung und auch Bezüge ins Netzwerk des NSU. Doch kaum eine dieser Meldungen wurde auch nachgegangen. Der Geheimdienst sitzt faktisch auf einem Pulverfass an Informationen, aber unternimmt nichts. Teilweise ist die Behörde überraschend selbstkritisch und stellt im Bericht fest: „In der Auswertung erfolgten häufig weder Nachfragen bei Quellen noch wurde versucht, den Sachverhalt durch ergänzende Informationen anderer Behörden zu verifizieren oder in einen Gesamtzusammenhang zu stellen und zu bewerten.“ Zusammenfassend stellt man sich selbst das vernichtende Urteil aus: „Interessanten Hinweisen oder Anhaltspunkten wurde zum Zeitpunkt der Datenerhebung sowohl in der Auswertung als auch in der Beschaffung nicht immer konsequent nachgegangen.“ Und obgleich man erkannt hat, dass man eigentlich nicht aussagefähig ist, legt man sich im selben Bericht in überheblicher Manier fest: „Es fanden sich keine Hinweise auf oder Informationen zu einem terroristischen Verhalten von Rechtsextremisten.

Den Mitarbeitenden fehlt offensichtlich die Kompetenz, die Informationsbausteine zu einem Gesamtbild zusammen zu fügen, rechten Terror zu erkennen und dessen Netzwerke zu begreifen. So offenbart der Geheimbericht die eklatanten Analyse- und Wissensdefizite des hessischen Inlandsgeheimdienstes. Dem Bericht werden daher auf der Seite „www.exif-recherche.org“ Erkenntnisse aus antifaschistischen Archiven und Recherchen entgegengestellt, um das Ausmaß der Unzulänglichkeit deutlich zu machen.

Antifaschistische Kritik

Die Kritik am Geheimbericht macht sich im Einzelnen an den folgenden Punkten fest:

Der Geheimbericht enthält Informationen zu Personen und Gruppen, die im NSU-Komplex eine Rolle spielen. Es zeigt sich allerdings, dass man weder deren Brisanz erkannt noch diese systematisch untersucht hat. Neonazis, die gesondert überprüft werden sollten, wurden kaum auf ihre Strukturen hin analysiert. Organisationen und Netzwerke, denen sie angehörten, wurden offensichtlich für nicht relevant befunden. Der Geheimdienst saß auf einem Pulverfass an Informationen über schwerbewaffnete Neonazis in Hessen. Im Geheimbericht sind dennoch etliche Fälle nicht aufgeführt, in denen sich Neonazis auf legalem Weg Schusswaffen beschafften und an diesen ausbildeten. Ihre Zugehörigkeit zu Schützenvereinen, Bundeswehr und Reservisten-Kameradschaften wurde entweder nicht systematisch untersucht oder es wurden diesbezügliche Informationen zurückgehalten oder geschwärzt.

Der Geheimbericht zeigt, dass Behörden sich verweigern, wenn es um Erkennen und Aufklärung neonazistischer Gewalt geht. Der Geheimbericht geht nicht auf versuchte Mordanschläge ein, die in den 2000er Jahren in Hessen von Neonazis begangen wurden oder diese als Täter nahelegen.

Der VS bleibt das Problem

In einem Kapitel des Berichts beschreibt der Geheimdienst festgestellte Mängel in der Arbeitsweise und formuliert Reformvorschläge. Man gelobt Besserung, will Akten gründlicher führen, an Qualitätssicherung und Analysefähigkeit arbeiten und die Behörde in ihren Abläufen transparenter gestalten. Diese Beteuerungen waren fortan die Erzählung für die Öffentlichkeit. So konnten Geheimdienst und Landesregierung Kritik begegnen, da Fehler eingesehen worden seien und in der Zukunft nicht mehr passieren könnten. Außerdem konnte damit ein Ausbau der Geheimdienst-Behörde gerechtfertigt werden, der falschen Logik folgend, dass diese mit mehr finanziellen Mitteln, aufgestocktem Personal und erweiterten Befugnissen effizienter arbeiten würde. Obwohl der Bericht die haarsträubende Arbeitsweise und das daraus resultierende Totalversagen des Geheimdienstes offenlegt, ging die Behörde gestärkt daraus hervor.

Doch an den eigenen Maßstäben gemessen: Jahre nach der angeblichen Reformierung ist die Behörde nicht in der Lage, einen brandgefährlichen Neonazi zu erkennen, selbst wenn es rot markiert auf der Akte steht und nachdrücklich darauf verwiesen wird. Nicht etwa, weil sie nicht genug Informationen hätten, sondern weil sie militante Rechte nach wie vor als Randphänomen begreifen und Rassismus in seiner politischen Dimension ausblenden. Mit einer Geheimhaltungsfrist von 120 Jahren sollte in erste Linie die eigene Unfähigkeit vertuscht werden. Dass der Geheimdienst weder lernfähig noch reformierbar ist – sondern brandgefährlich – zeigte auch der Mord an Walter Lübcke im Jahr 2019.

Kein Schlussstrich

Innenministerium und Geheimdienst in Hessen haben gelernt, die an sie gerichtete Kritik für den Ausbau ihres Apparates zu instrumentalisieren. Man blendet eine geneigte Öffentlichkeit bei jeder Gelegenheit mit Erfolgsbilanzen im „Einsatz gegen Rechts“, die nicht oder nur schwer überprüfbar sind, und verkauft die 2019 ins Leben gerufene „Besondere Aufbauorganisation Hessen Rechts“ (BAO Hessen R) als beispielhafte Kooperation zwischen Geheimdiensten und Polizei. So versucht die Landesregierung die Deutungshoheit über rechten Terror zurückzuerlangen, die ihnen mit der Aufdeckung der Skandale teilweise entglitten war.

Der geleakte Geheimbericht trägt nicht zur Aufklärung der großen Fragen im NSU-Komplex bei. Wie schon durch den NSU-Prozess deutlich wurde, ist weitere Aufklärung abseits des Staates zwingend notwendig, da u.a. die neonazistischen Strukturen von damals bis heute fortbestehen – und kein Schlussstrich gezogen werden kann.

Der Geheimbericht zeigt hingegen eindrucksvoll, dass man sich nicht auf die Angaben der Geheimdienste oder ihre Funktion als sogenanntes „Frühwarnsystem“ verlassen kann – und dass sich dies auch in der Zukunft nicht ändern wird. Engagierte Journalist*innen, Anwält*innen der Nebenklage in Verfahren gegen Neonazis, antifaschistische Recherche und Bildungsinitiativen sowie Betroffene rechter Gewalt sind vielmehr selbst in der Lage, die militante Rechte zu analysieren und ihre Gefährlichkeit zu erkennen. Sie stellen die staatliche Deutungshoheit in Frage und werden dafür häufig diskreditiert und bisweilen kriminalisiert.

Der Geheimdienst ist Teil des Problems und nicht Teil der Lösung.