Schlimmer als vermutet
Vor 45 Jahren, am 2. Juni 1967 wurde der Student Benno Ohnesorg auf einer Demonstration gegen den Besuch des Schahs von Persien in Berlin-Charlottenburg von dem West-Berliner Staatsschutzpolizisten Karl-Heinz Kurras erschossen.
Der Tod von Ohnesorg und der Freispruch von Kurras gelten als wichtige Auslöser der sog. 68er-Bewegung. Im Prozess tauchten viele Ungereimtheiten auf, Linke sprachen damals von Mord. Im Januar diesen Jahres gelangten nun neue Erkenntnisse an die Öffentlichkeit, die alle kühnsten linken »Verschwörungstheorien« jener Zeit zu dem Fall in den Schatten stellen. Wir sprachen mit Hans-Christian Ströbele – Kreuzberger Grünenpolitiker und Mitglied im Parlamentarischen Kontrollgremium (PKG) des Deutschen Bundestages, das die Geheimdienste kontrolliert – über den Fall, über staatliche Vertuschung, Geheimdienste und den NSU.
AIB: Was gibt es an neuen Erkenntnissen im Fall Ohnesorg? Was war bisher die offizielle Version?
In der Nacht vom 2. auf den 3. Juni wurde zunächst von der Polizei die Behauptung verbreitet, ein Student sei mit einem Messer auf einen Polizisten losgegangen und habe diesen erstochen. Als dann gemeldet wurde, nicht ein Polizist sei tot, sondern ein Student, hieß es, der Student sei von einem stumpfen Gegenstand am Kopf getroffen worden. Erst spät in der Nacht wurde mitgeteilt, der Student sei erschossen worden und von einem Polizisten. Die offizielle Version war 1967 dann in den nächsten Tagen zunächst: Der Kriminalbeamte Kurras habe am Abend des 2. Juni 1967 in einem Hof an der Krummestraße seine Pistole gezogen und den Studenten Benno Ohnesorg erschossen, als er von gewalttätigen Demonstranten bedrängt wurde und habe in Notwehr ungezielt geschossen. Im Laufe der Gerichtsverfahren gab es dann immer mehr Zweifel an der Notwehrsituation und das Gericht kam zu dem Schluss, Kurras habe zumindest in Putativnotwehr (vermeintlicher Notwehr) gehandelt und sprach ihn frei. Der genaue Tathergang wurde aber immer unklarer, weil Zeugen fehlten und Beweismittel nicht auffindbar waren. Der Tod das Studenten Benno Ohnesorg und der Freispruch waren nicht die Auslöser der 68iger Bewegung und des Entstehens der APO1 .
APO und Bewegung gab es schon vorher, auch Demonstrationen und andere Aktionen. Aber die Ereignisse vom 2. Juni 1967 und deren Nachwirkungen führten zu einem erheblichen Erstarken der APO und deren Radikalisierung. Den ersten Toten gab es auf der Seite der Demonstranten. Es gibt inzwischen viele neue Erkenntnisse: Der Todesschütze Kurras war nicht nur Staatsschützer im Dienste der Westberliner Polizei, sondern stand auch im bezahlten Dienst des Staatssicherheitsdienstes der DDR. Kurras war Waffennarr und verfügte über viel Munition. Er war sehr eng bekannt mit einem Journalisten des Springerkonzerns, der mit ihm im selben Schützenverein war und ihm nach der Tat geholfen hat, Munition aus seiner Wohnung in Sicherheit zu bringen. Die Ursache für den Tod von Benno Ohnesorg wurde von einem Arzt im kriminologischen Institut gezielt verdeckt, indem die Einschusswunde am Kopf zugenäht und dann behauptet wurde, er sei von einem stumpfen Gegenstand verletzt worden (Stein oder Knüppel). Die Pistolenkugel im Kopf wurde erst später entdeckt. Es gibt eine Filmaufzeichnung vom Tatort, auf der der Schütze Kurras zu erkennen ist, wie er völlig unbedrängt auf Ohnesorg zugeht und offenbar gezielt schießt. Zum ersten Mal sichtbar ist auf dem Film ein Tatzeuge, ein hochrangiger Polizeibeamter, in unmittelbarer Nähe des Getöteten, der dem Gericht damals nicht bekannt war und folglich nicht vernommen wurde.
AIB: Gegenüber SPIEGEL-Online sagten Sie am 22. Januar 2012: »Es ist schlimmer als das Übelste, was wir damals vermuteten, so weit ging unsere Phantasie nicht«. Was haben Sie denn damals vermutet, was war die Kritik, was die Reaktion in der Linken auf die Vorgänge?
Dass ein Arzt sich dafür hergibt, die Todesursache gezielt unkenntlich zu machen, war für mich unvorstellbar. Wir sahen eine geschlossene Gesellschaft von Polizei, Senat, Gewerkschaften und Medien gegen uns im Kampf auch mit Gewalt gegen unsere politische Kritik an der Gesellschaft und gegen Forderungen auf deren radikale Veränderung.
AIB: Innerhalb von drei Monaten sind mit dem Bekanntwerden des NSU und seines Unterstützerumfelds und den neuen Erkenntnissen zu den Todesumständen von Benno Ohnesorg zwei große Fälle bekannt geworden, die die Geschichtsschreibung in der BRD der letzten Jahrzehnte – zumindest in Teilen – schlagartig neu beeinflusst. In beiden Fällen ist zentral: Deutsche Sicherheitsbehörden haben nicht, wie oft behauptet, versagt, sondern waren Akteure, es scheint ein strukturelles Problem zu geben. Werden da momentan alte, gewachsene Strukturen und personelle Kontinuitäten deutlich, deren Geist über die Kalte-Kriegszeit letztendlich noch aus den 30er und 40er Jahren herüber reicht? Denken wir nur beispielhaft an Kurras, den »Waffenliebhaber« und »Dorfgendarmen-Sohn aus Ostpreußen«2 , oder an den langjährigen Thüringer Verfassungsschutzpräsidenten und Autor im rechten Ares-Verlag Helmut Roewer, welcher gerne im Ludendorff-Kostüm mit Pickelhaube auftritt3 . Oder ist es eine falsche Analyse von NS-Kontinuitäten zu sprechen und solche Vorkommnisse sind normal in einer ›normalen‹ Nation?
NS-Kontinuitäten, vor allem personelle, sahen wir damals allüberall rund um uns herum in Uni, Verwaltung, Gerichten, Geheimdiensten und Militär. Aufbau, Ausbildung und Führung der Polizei waren militärisch geprägt, insbesondere letztere auch bei den Einsätzen am 2. Juni in Westberlin. Ob und inwieweit deutsche Sicherheitsbehörden Akteure im Bereich des NSU und dessen Umfeld waren, versuchen wir in den Untersuchungsausschüssen zu klären. Die Beweisaufnahme hat noch nicht richtig angefangen, Akten stehen noch nicht zur Verfügung, da ist ein Urteil nicht zu verantworten.
AIB: Glauben Sie, dass in parlamentarischen Untersuchungsausschüssen solche geheimdienstlichen Skandale aufgeklärt werden (können)? Haben die Untersuchungsausschüsse überhaupt eine Wirkung auf die Geheimdienste? Welche darüber hinausgehenden politischen Konsequenzen werden die neuen Erkenntnisse haben, welche halten Sie für angemessen?
Die Konsequenzen aus der Arbeit der Untersuchungsausschüsse ziehen wir, wenn sie vorliegen, nicht jetzt vorschnell. Untersuchungsausschüsse habe erhebliche Auswirkungen auf Geheimdienste. Sie können auch vieles aufklären, wenn auch nicht alles, was viele erwarten und wünschen. Das weiß ich seit meiner Tätigkeit im BND-Untersuchungsausschuss der letzten Legislaturperiode. In meinem Minderheit-Abschlussbericht, der veröffentlicht wurde, kann man das nachlesen.
- 1APO steht für Außerparlamentarische Opposition. In West-Deutschland verstärkte sich ab Mitte der 1960er Jahre mit der Student_innenbewegung, die bis dahin bedeutendste außerparlamentarische Opposition, die sich selbst mit dem Kürzel APO benannte.
- 2DER SPIEGEL, 27.11.1967
- 31994 übernahm Roewer die Leitung des Thüringer Verfassungsschutzes. Bei einer öffentlichen Veranstaltung im Rahmen des Programms von Weimar als Kulturhauptstadt Europas trat er im Ludendorff-Kostüm mit Pickelhaube auf. Siehe Artikel: Der VS in Thüringen