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Der Front National und der Präsidentschaftswahlkampf in Frankreich

Bernard Schmid (Paris)
Einleitung

Dieses Mal könnte sie es tatsächlich schaffen: Auch wenn es nicht sehr wahrscheinlich ist, so erscheint es doch möglich, dass Marine Le Pen vom rechtsextremen Front National (FN) zur französischen Präsidentin gewählt wird. Davon zeigt sich jedenfalls unter anderem der scheidende Präsident des Landes, François Hollande, überzeugt.

Foto: © European Union 2015 - European Parliament; CC BY-NC-ND 4.0

Marine Le Pen im Europäischen Parlament.

Das nächste französische Staatsoberhaupt wird in zwei Wahlgängen am 23. April und 7. Mai dieses Jahres bestimmt. Alle Umfrageinstitute sagen der Vorsitzenden des Front National bei Redaktionsschluss dieses Artikels Mitte März 2017 zwar einen wahrscheinlichen Spitzenplatz in der ersten Runde, jedoch eine Niederlage im entscheidenden zweiten Durchgang voraus. In die Stichwahl können jeweils nur die beiden bestplatzierten BewerberInnen aus dem ersten Wahlgang einziehen. Je nachdem, wer ihr Gegenkandidat sein wird, dürfte die Chefin der rechtsextremen Partei mit knapp unter 40 Prozent der Stimmen — sofern sie gegen den sozialliberalen früheren Wirtschaftsminister Emmanuel Macron antritt — oder voraussichtlichen 45 Prozent (falls sie gegen den konservativen Kandidaten François Fillon ins Rennen geht) unterliegen.

Vor allem falls ihr Gegenkandidat Fillon hieße, dürfte Marine Le Pen der Herausforderung aber leichter ins Auge blicken. François Fillon ist seit Ende Januar durch eine ganze Serie von Enthüllungen betreffend seiner Korruptions- und Selbstbedienungspraktiken bei Staatsgeldern erheblich ins Gerede gekommen. Zudem tritt er mit einem Wirtschafts- und Sozialprogramm an, das auch gegenüber denen der übrigen pro-kapitalistischen MitbewerberInnen durch seinen neoliberalen Dampfwalzencharakter hervorsticht. Anders als französische bürgerliche Rechte in der Vergangenheit bezieht Fillon sich auch explizit positiv auf Margaret Thatcher als politisches Vorbild, eine Referenz, die bis dahin auch unter Wirtschaftsliberalen in Frankreich als nicht sonderlich opportun gegolten hatte. Sollte François Fillon nun in der Stichwahl Marine Le Pen gegenüberstehen, so ist unter anderem zu erwarten, dass sich die Wählerschaft der Linken und der Sozialdemokratie zum Großteil der Stimme enthalten dürfte; ja sogar, dass die Arbeiterwählerschaft in einer solchen Konstellation mehr oder minder massiv „gegen Fillon“ stimmen würde.

Bislang allerdings scheint François Fillon nur geringfügige Chancen zu haben, überhaupt den zweiten Wahlgang zu erreichen. Dem erst 39-jährigen Präsidentschaftsbewerber Emmanuel Macron werden weit höhere Chancen zugerechnet. Amtsinhaber François Hollande vermag dies jedoch nicht zu beruhigen. Im privaten Kreis zeige er sich „überzeugt, dass Marine Le Pen in den Vorwahlumfragen unterschätzt wird“, berichtete die linksliberale Pariser Abendzeitung Le Monde am 6. März 2017; und ihr Herausforderer in der Stichwahl könnte, fügte Hollande demnach hinzu, „Mühe haben, unterschiedliche Kräfte zu bündeln“, um einen Wahlsieg Marine Le Pens mit vereinten Kräften zu verhindern. Das Wochenmagazin L’Obs berichtete am 2. März auf seiner Webseite, dass Hollande fünf bekannte PolitikwissenschaftlerInnen, die samt und sonders in Sachen Beobachtung des FN einen guten Namen haben (unter ihnen Nonna Meyer und Alexandre Dézé), zu einem gemeinsamen Mittagessen eingeladen habe. Behandelt werden sollte dabei folgende Frage: „Und was, wenn Marine Le Pen gewinnen würde…?

Sicherlich, bei diesen Äußerungen und Positionierungen von François Hollande handelt es sich auch um einen politischen Akt: Der nur noch für wenige Wochen amtierende Staatschef fragt sich zweifellos, wie er nach einer fünfjährigen Amtszeit mit (besonders in sozialer Hinsicht) jämmerlicher Bilanz noch etwas Profil in den Augen der Nachwelt gewinnen kann, und sei es als Mahner und Warner. Und bestimmt erhielt Le Monde, als eine Zeitung, die der französischen Sozialdemokratie relativ nahe steht, eher nach politischen Kriterien ausgewählte Informationen als wahrhafte innere Überzeugungen mitgeteilt. Nichtsdestotrotz gilt: Die für viele BeobachterInnen überraschend kommende Brexit-Entscheidung  und die Donald Trump-Wahl sprechen in den Augen vieler KommentatorInnen trotz allen Wahrscheinlichkeitskalkülen dafür, dass böse Überraschungen nicht absolut ausgeschlossen werden können.

Mit Schlagzeilen wie „Die Bedrohung Le Pen“ oder „Marine Le Pen ist stärker denn je“ stehen die Aussichten Le Pens im Wahlkampf derzeit immer wieder im Fokus der Medien. Als bedrohlich wird in weiten Teilen der bürgerlichen Presse vor allem die Aussicht gewertet, mit einem — bislang hypothetischen — eventuellen Wahlsieg der FN-Politikerin sei ein Euro- oder gar EU-Austritt verbunden.

Konservative Abzocker und ein neuer Rechtsdrall

Vor allem wird Marine Le Pen derzeit durch die tiefe Krise des konservativen Bürgerblocks begünstigt. Seit Ende Januar sind wiederholt Informationen über die jahrelange Abzock-Praxis von dessen Präsidentschaftskandidaten — dem früheren Premierminister François Fillon — bekannt geworden. Diese haben einerseits für eine erhebliche wahltaktische und strategische Verwirrung im Lager der konservativ-wirtschaftsliberalen bürgerlichen Rechten geführt.

Zum anderen aber hat sich der harte Kern des konservativen Blocks, welcher sich als Opfer finsterer Machenschaften von Justiz und Medien wähnt, seither in beträchtlichem Ausmaß politisch-ideologisch verhärtet. Der gescheiterte potenzielle Präsidentschaftsbewerber der bürgerlichen Rechten, Alain Juppé, welcher auf einer Pressekonferenz Anfang März definitiv darauf verzichtete, François Fillon doch noch zu ersetzen, stellte aus demselben Anlass kritisch fest: „Der harte Kern der Mitglieder und Sympathisanten von LR (Les Républicains, die mit Abstand stärkste konservative Partei, ehemals UMP) hat sich radikalisiert.“ Ein Anzeichen dafür war in den Augen des früheren Premierministers Juppé die Kundgebung zur Unterstützung François Fillons, die am 05. März 2017 in Paris mit rund 50.000 Menschen stattgefunden hat. Die Namen sozialdemokratischer Politiker und Emmanuel Macrons wurden dabei ausgebuht, die Nennung des Namens von Marine Le Pen rief hingegen nur wenige Pfiffe hervor. Und am meisten und heftigsten applaudierte das Publikum auf dem Pariser Trocadéro-Platz (der Autor war selbst vor Ort), als Fillon gegen die „islamistische Bedrohung“ wetterte, was durch den Ruf "Zéro immigration!" („Null Einwanderung!“) quittiert und beantwortet wurde.

Ein Ausfluss dieser Radikalisierung scheint zu sein, dass ein Teil der konservativen Rechten sich nun schwächer gegenüber dem FN abgrenzt als noch in jüngerer Vergangenheit. Dies scheinen die Ergebnisse einer Umfrage, welche die linksliberale Tageszeitung Libération am Wochenende des 11./12. März 2017 publizierte, zu belegen. Demnach beantworteten unter den Befragten insgesamt 49 Prozent die Frage, ob eine Wahl Marine Le Pens „ein Drama für Frankreich“ bedeuten würde, mit „Ja“ (hingegen antworten 38 Prozent „Nein“, und 13 Prozent nahmen nicht Stellung). Unter konservativen WählerInnen dreht sich dieses Verhältnis um. Und bei den einzelnen Sachthemen äußern sich klare Mehrheiten in der konservativen WählerInnenschaft — jedoch nicht in anderen Teilen der französischen Gesellschaft, mit Ausnahme natürlich der eigenen Wählerschaft der extremen Rechten — dahingehend, dass ein Wahlsieg Marine Le Pens „eher eine gute Sache“ wäre. Diese Antwort zu einem hypthetischen Sieg Le Pens („positiv“) geben die konservativen WählerInnen zu 73 Prozent beim Thema „Innere Sicherheit“, zu 71 Prozent beim Thema „Terrorismusbekämpfung“ und zu 65 Prozent in der Rubrik „Immigration“; dagegen fällt die Zustimmung zu der Aussage „…wäre eher eine gute Sache“ auf nur noch 31 Prozent beim Thema „Demokratie“. Die Wählerschaft der Linken sowie „der Mitte“ erklärt sich hingegen bei ausnahmslos allen Themen mehrheitlich ablehnend zu Le Pen.

Dennoch sorgt die strategische Ausrichtung des FN-Diskurses auf eine dick aufgetragene soziale Demagogie, während die Konservativen sich betont wirtschaftsliberal geben, für eine anhaltende tiefe Spaltung zwischen beiden Blöcken. Auch wenn der Front National selbst seine eigene wirtschaftspolitische Programmatik in diesem Jahr wieder stärker auch an Kleinunternehmerinteressen angepasst und die sozialdemagogische Dimension etwas abgeschwächt hat. Denn der vormalige Sozial- und Wirtschaftsdiskurs der Partei hatte ihr Attacken eingetragen: Die Konservativen griffen den FN seit 2015 massiv wegen seines angeblich „linksradikalen“, für eine Rechtspartei „unveranwortlichen“ Wirtschaftsdiskurses an. Auch intern gab es Streit, weil die Interessen der WahlkämpferInnen des FN in Nordostfrankreich — wo die rechtsextreme Partei vor allem in die Arbeiterwählerschaft eindringen konnte —sich von denen einer stärker durch KleinunternehmerInnen und wohlhabende RentnerInnen in Süd- und Südostfrankreich geprägten Basis unterscheiden.

Programmatik

Am Sonntag, dem 5. Februar 2017 verkündete Marine Le Pen im Kongresszentrum von Lyon, wo ihre Partei rund 5.000 AnhängerInnen versammelt hatte, ihre 144 Programmpunkte zur Präsidentschaftswahl. Diese waren zwar formal bei mehreren „Runden Tischen“ im Laufe des Wochenendes erarbeitet worden, unterscheiden sich aber inhaltlich in Wirklichkeit kaum vom bereits 2012 verwendeten Wahlprogramm. An den Grundlinien hat sich nichts geändert — den erwarteten „wirtschaftlichen Aufschwung“ unter einer rechtsnationalen Regierung sollen das Ausland und die Ausländer bezahlen: durch Ausschluss von ArbeitsmigrantInnen aus den Sozialkassen, „Inländerbevorzugung“ bei Sozialleistungen und Arbeitsleistungen und einen Rückzug aus den EU-Verpflichtungen, welcher angeblich Frankreich sanieren würde.
Erheblich ist eher, was nicht mehr im Programm enthalten ist. So ist erstmals seit Gründung des FN nicht mehr von der Rückkehr zur 1981 in Frankreich abgeschafften Todesstrafe die Rede, deren Wiedereinführung allerdings in Umfragen in den letzten Jahren anders als früher auch keine Mehrheit mehr findet. Der FN nutzt diese Positionierung, um seine relative „Mäßigung“ zu unterstreichen, im Hinblick auf den zweiten Wahlgang der Präsidentschaftswahl, bei dem er Wählerinnen und Wähler aus anderen politischen Lagern gewinnen möchte. Allerdings hält die Partei sich eine Hintertür offen, denn über eine „Volksinitiative für ein Referendum“ — nach Vorbild von schweizerischen Abstimmungen — soll eine Wiedereinführung dennoch möglich sein.

In sozioökonomischer Hinsicht gibt es ebenfalls ein paar Verschiebungen. Im Präsidentschaftswahlkampf 2012 hatte der FN noch eine Erhöhung aller niedrigen Löhne um je 200 Euro versprochen, was allerdings vor allem durch den Abbau von Arbeitnehmer- und Arbeitgeber-„Sozialabgaben“, also einem Austrocknen der Sozialkassen finanziert werden sollte. Nichts dergleichen findet sich mehr im Wahlprogramm. Dort bleibt allein eine Sondersteuer in Höhe von drei Prozent auf alle Importprodukte bestehen. Diese soll angeblich dazu führen, dass eine „Kaufkraftprämie“ von achtzig Euro monatlich an gering verdienende Lohnabhängige ausbezahlt werden kann.
Gleichzeitig hat der FN sein program-matisches Repertoire um wirtschaftsliberale Vorschläge erweitert. So sollen wohlhabende Personen — die etwa bei der Übertragung einer im Familienbesitz befindlichen Firma Erbschaftssteuern sparen möchten — alle fünf Jahre bis zu 100.000 Euro an Schenkungen an ihre Familienmitglieder gänzlich steuerfrei durchführen können. Derzeit ist dies nur alle fünfzehn Jahre möglich, selbst der rabiat wirtschaftsliberal auftretende bürgerliche Kandidat François Fillon will diese Zeitraum „nur“ auf zehn Jahre senken.

Affären auch beim FN

Auch der Front National wird derzeit von „Affären“ und Veruntreuungsvorwürfen sowie justiziellen Ermittlungen berührt.
Dabei geht es insbesondere um den Betrugsvorwurf wegen der Beschäftigung angeblicher „parlamentarischer BeraterInnen“ im Europaparlament, die in Wirklichkeit ausschließlich für die Partei in Frankreich arbeiteten. Praktisch für die ermittelnden Behörden ist, dass am Sitz des FN in Nanterre bei Paris die Arbeitszeit der Angestellten mittels elektronischer Stechuhren genau erfasst wurde. Aus diesem Grund ist klar erkennbar, wer in Brüssel oder Strasbourg gewesen sein könnte und wer nachweisbar nur in Nanterre tätig war. 340.000 Euro an sofortigen Rückzahlungen fordert die EU-Parlamentsverwaltung vom FN; insgesamt beanstandet das Europäische Parlament Zahlungen in Höhe von 7,5 Millionen Euro an angebliche MitarbeiterInnen (für den Zeitraum 2010 bis 2016). Die französische Justiz lud Marine Le Pen daraufhin mehrfach vor, um sie zur Sache zu vernehmen. Vergeblich, denn die FN-Vorsitzende sagte, sie werde bis zu den Wahlen keinerlei Vorladung Folge leisten. Ferner ist der FN aber auch in andere Betrugsaffären und Ermittlungsverfahren verwickelt. So läuft seit 2015 ein vielschichtiges Verfahren wegen betrügerischer Abrechnungen öffentlicher Gelder in Sachen Wahlkampfkosten-Rückerstattung für die Parlamentswahlen von 2012.

Bei einer Großveranstaltung am 26.  Februar 2017 im westfranzösischen Nantes, die von militanten antifaschistischen Protesten begleitet war, schlug Le Pen vor diesem Hintergrund ziemlich scharfe Töne an. Sie warnte „Beamte“, gemeint waren Justizbedienstete und Rich-terInnen, davor, angeblich „illegalen Anordnungen“ der Regierenden gegen ihre heutigen OpponentInnen — die mundtot gemacht werden sollten — Folge zu leisten. Ansonsten, drohte Le Pen, könnten sie unter einer künftigen rechtsnationalen Regierung selbst strafrechtlich verfolgt werden. Anfang März verkündete Marine Le Pen ferner öffentlich ihren Wunsch, nach einem Wahlsieg „antifaschistische Gruppen“ zu verbieten.

Bislang verhält sich die rechtsextreme Wählerschaft allerdings weitgehend indifferent dazu und Marine Le Pen steht höher in den Vorwahlumfragen denn je zuvor. Darüber hinaus wählte die Chefin des FN in den letzten Wochen eine Strategie der „Flucht nach vorn“ und verhielt sich auf unverhohlen aggressive Weise. So sprach sie auf der genannten Veranstaltung in Nantes  offene Drohungen gegen RichterInnen respektive Justizbedienstete aus, für den Fall, dass diese sich weiterhin „dem Willen des Volkes“ entgegenstellten — Marine Le Pens diesjährige Wahlkampagne steht übrigens unter dem Motto „Im Namen des Volkes“ ("Au nom du peuple").

Allerdings hindert diese Konstellation derzeit die Chefin des FN daran, die Korruptionsproblematik rund um den konservativen Kandidaten François Fillon ordentlich auszuschlachten — was die extreme Rechte in anderem Zusammenhang mit Gewissheit nicht versäumt hätte. So blieb Le Pen erstaunlich still zu den gegen Fillon gerichteten Vorwürfen und unterließ es, rund um dieses Thema eine Saubermann- oder Sauberfrau-Kampagne zur Korruption der Etablierten aufzulegen. Gleichzeitig ist nicht auszuschließen, dass just diese Konfiguration längerfristig eine Annäherung zwischen radikalisierten Konservativen und extremen Rechten begünstigen könnte.