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Keine Resozialisierungseffekte

Einleitung

Die Botschaft auf dem T-Shirt des Redners, der am 23. Oktober 2010 beim Neonazi-Aufmarsch in Hamm eine Grußbotschaft verliest, ist eindeutig: »Was sollen wir bereuen?«

Bild: attenzione-photo.com

Sven Kahlin als Redner auf einer Neonazidemonstration im Oktober 2010 in Hamm.

Tatsächlich hat der frisch aus der Haft entlassene 23-jährige Sven Kahlin schon während seiner knapp fünfjährigen Haftzeit keinerlei Reue erkennen lassen. Er wurde wegen Totschlags an dem 32-jährigen Punk und Familienvater Thomas »Schmuddel« Schulz in Dortmund verurteilt. Im Gegenteil: Kahlin ließ sich schon in der Untersuchungshaft als Szeneheld feiern. Nur kurz nachdem der damals 17-jährige Neonaziskinhead Kahlin den Punker »Schmuddel« mit mehreren Messerstichen tödlich verletzt hatte, plakatierte die Neonaziszene in Nordrhein-Westfalen stolz: »Wer sich der Bewegung in den Weg stellt, muss mit den Konsequenzen leben«. Die Website des Nationalen Widerstands Dortmund plazierte Kahlins Grußbotschaften an prominenter Stelle. In einschlägigen Heften suchte Kahlin Briefkontakte aus der Haft mit den »Kameraden«  jenseits der Knastmauern.

Die Neonazi-Karriere von Sven Kahlin und die Nicht-Anerkennung von Thomas Schulz als Opfer eines politisch rechts motivierten Tötungsdelikts sind nicht nur das markanteste Beispiel für die Mischung aus Ignoranz und Laissez-Faire, mit der insbesondere in Dortmund Polizei und Justiz das Erstarken der Neonazi-Kameradschaftsszene ermöglicht haben. Der Fall Sven Kahlin ist auch ein Beispiel dafür, dass der »Resozialisierungseffekt« durch Haftstrafen – auf den insbesondere auch im Jugendstrafrecht gesetzt wird – bei neonazistischen Gewalttätern oft nicht zu erkennen ist. Im Gegenteil: Die Totschläger und Mörder der rassistischen Gewaltwelle der frühen 1990er Jahre sind – da es sich häufig um Heranwachsende handelte und viele Urteile nicht auf Mord oder Totschlag, sondern gefährliche Körperverletzung mit Todesfolge lauteten – längst aus der Haft entlassen oder stehen kurz vor der Haftentlassung, ohne dass sie sich von der Neonaziszene und ihren Taten distanziert hätten.

Einer der Brandstifter von Solingen, Christian R., hatte nach Verbüßung seiner zehnjährigen Jugendstrafe wegen 5-fachen Mordes und 14-fachen Mordversuchs im Januar 2005 ebenfalls bei einer Demonstration von Neonazis in Hamm zweimal den Hitlergruß gezeigt. Auch er gehört wieder einer Neonazi-Kameradschaft an. Bei einem ersten Verfahren vor dem Amtsgericht Hamm bekam er dafür lediglich eine Geldstrafe von 400 Euro. Erst das Landgericht änderte das Urteil zu vier Monaten Haft ohne Bewährung mit der Begründung, er habe sich offensichtlich zu keinem Zeitpunkt mit dem Brandanschlag und dem von ihm mitverschuldeten Tod von fünf Menschen auseinander gesetzt. In vielen Fällen werden die Neonazitotschläger  – wie Sven Kahlin – aufgrund ihrer Haftzeit und ihrer Brutalität in den regionalen Neonazi-Szenen als Vorbilder, »Märtyrer« und Respektspersonen behandelt.

Umso notwendiger ist es für Antifaschist_innen vor Ort, die Täter der 1990er  Jahre und ihre Aktivitäten zu recherchieren und sowohl durch Gedenkveranstaltungen die Opfer im öffentlichen Bewusstsein zu halten, als auch den Spielraum der Totschläger und Mörder nach deren Haftentlassung durch Öffentlichkeitsarbeit zu begrenzen. Die Schwierigkeiten dabei werden anhand der folgenden Beispiele deutlich.

Dortmund: Neonazitotschlag ohne politisch rechte Motivation

Seine neonazistische Gesinnung und die Zugehörigkeit zur Kameradschaftsszene in Dortmund stellte Sven Kahlin schon als Teenager offen zur Schau. Glatze, Springerstiefel, eine Rückentätowierung mit dem altdeutschen Schriftzug »Skinhead« und das Mitführen eines beidseitig geschliffenen Wurfmessers gehörten zu seinem Auftreten. Schon ein Dreivierteljahr vor den tödlichen Stichen gegen Thomas Schulz hatte Sven Kahlin seinem Hass auf Punks freien Lauf gelassen: In einem Regionalzug beschimpfte er einen Punk und schlug ihm mehrfach ins Gesicht. Dafür wurde er nur drei Wochen vor dem Angriff auf Thomas Schulz wegen Köperverletzung zu einer Woche Dauerarrest und Schmerzensgeld verurteilt.

Als er am Ostermontag 2005 gemeinsam mit einer Freundin auf dem Nachhauseweg von einem Fußballspiel in einer Dortmunder U-Bahnhaltestelle einer Gruppe von circa zwanzig Punks begegnet, führte er das Wurfmesser in der Innentasche seiner Bomberjacke mit.  Über die Rolltreppen hinweg werden wechselseitig Beleidigungen ausgetauscht. Die Punks sind auf dem Weg zu einem Konzert. Lediglich Thomas »Schmuddel« Schulz will den offensichtlichen Neonazi Sven Kahlin nicht einfach so davon ziehen lassen, sondern ihn wegen der Beleidigungen zur Rede stellen. Auf dem U-Bahnsteig kommt es zu einem Wortwechsel, dann zieht Sven Kahlin das Messer und sticht dem unbewaffneten Punk durch die Brust ins Herz. Während Zeugen den Notruf alarmieren, flüchten Kahlin und seine Begleiterin. Am Dortmunder Hauptbahnhof wird er dann von der Polizei festgenommen.

Der Prozess am Landgericht Dortmund im Herbst 2005 ist nicht-öffentlich: Der Verteidiger von Sven Kahlin hatte mit Verweis auf das Alter des Angeklagten beantragt, die Öffentlichkeit zum Schutz seines Mandanten auszuschließen. Im Prozess verfolgte er dann erfolgreich die Strategie, eine politische Motivation in Frage zu stellen – schließlich ist die Frage nach den »niederen Beweggründen« der entscheidende Unterschied zwischen einer Verurteilung wegen Mordes oder Totschlags.

Vor Gericht behauptete Sven Kahlin, er sei wütend geworden, weil sein späteres Opfer ihm gefolgt sei und immer weiter auf ihn eingeredet habe. Das Gericht folgte seiner Darstellung immerhin insoweit, als dass es die Tat nicht als vorsätzlich beurteilte, sondern von einer »spontanen Wutaufwallung« ausging. Fast schon zynisch wirkt damit die Feststellung des Gerichts, Kahlin sei ein »anerkanntes und respektiertes Mitglied der Szene gewesen«, »auch Punker« hätten »zu seinen Feindbildern« gehört. Trotzdem bezeichnen die Richter am Dortmunder Landgericht in der Urteilsbegründung die bei Sven Kahlin festgestellten »menschenverachtenden Einstellungen« gegenüber »Zecken«  nur als »eines unter mehreren Motiven« für den Angriff auf Thomas Schulz, eine politische Motivation sahen die Richter nicht. Sven Kahlin wurde wegen Totschlags zu sieben Jahren Haft verurteilt und Ende September 2010 vorzeitig entlassen. In der Logik des Urteils steht auch die Tatsache, dass die Bundesregierung Thomas Schulz nicht als Todesopfer politisch rechts motivierter Gewalt in den staatlichen Statistiken führt.1

Totschläger als »Szenegrößen«

Führt man sich die »Karriere« von Marco Siedbürger vor Augen, dürfte der weitere Werdegang von Kahlin vorprogrammiert sein. Als 18-jähriger Neonaziskinhead hatte Marco Siedbürger – inzwischen bundesweit als »Kampfhund« der Kameradschaftsszene im Umland von Hannover bekannt – gemeinsam mit einem 17-Jährigen am 9. August 1999 in Eschede (Niedersachsen) den 44-jährigen Peter Deutschmann getötet. Der Obdachlose Deutschmann, der von der Gemeinde eine Sozialwohnung zugewiesen bekommen hatte, galt in Eschede als »Hippie«. Kurz vor der Tat hatte Deutschmann den arbeitslosen Marco Siedbürger  und seinen Mittäter aufgefordert, »den Scheiß mit dem Skinhead-Gehabe« zu lassen. Siedbürger stand zu diesem Zeitpunkt schon wegen zwei Körperverletzungen und neonazistischer Propagandadelikte unter Bewährung.

Aus Wut über die Kritik an ihrem neonazistischen Auftreten verschafften sich die beiden Täter Zutritt zu Peter Deutschmanns Wohnung, traten und schlugen auf den schlaftrunkenen Mann ein und misshandelten ihn mit Glasscherben. Dabei zertrümmerten sie seinen Kehlkopf und fügten ihm zahllose Schlag- und Schnittverletzungen zu. Um zu verhindern, dass Deutschmann Hilfe holen konnte, zerstörten sie das Telefon und ließen ihn stark blutend und schwer verletzt zurück. Als Nachbarn Stunden später die Hilferufe hören, kommt jede Rettung zu spät. Peter Deutschmann stirbt im Krankenhaus an seinen schweren Verletzungen. Das Landgericht Lüneburg verurteilt im Januar 2000 beide Täter wegen gemeinschaftlicher Körperverletzung mit Todesfolge zu einer fünfjährigen Jugendstrafe; einen politischen Hintergrund wollen die Richter nicht erkennen.

In der Haft vertieft Marco Siedbürger seine Kontakte in die niedersächsische Neonaziszene. In der Jugendhaftanstalt Hameln gründet er gemeinsam mit Marcus Winter, der wegen Entführung und Misshandlung eines jungen Antifa-Aktivisten in Schaumburg einsitzt, die »Kerkerkameradschaft Hameln«. Die weiteren Stationen Siedbürgers, der sich derzeit wieder einmal in Untersuchungshaft befindet, sind bekannt: Bis zu ihrer »Selbstauflösung« ist er führend bei der Kameradschaft »Nationale Offensive Schaumburg« aktiv; schon während der Führungsaufsicht wird er erneut zu einer Bewährungsstrafe verurteilt; im Juli 2008 ist er an einem Angriff auf ein alternatives Jugendzentrum in Detmold beteiligt. Für einen Überfall auf eine 22-jährige Antifaschistin im Sommer 2009 wird Siedbürger dann zu 22 Monaten Haft verurteilt. Vor wenigen Wochen wurde das Urteil vom Landgericht Hannover bestätigt. Gegner und »Kameraden« sollen vom heute 28-jährigen bevorzugt mit der Drohung »es ist schon mal einer liegengeblieben; ich weiß, wie man es richtig macht« eingeschüchtert werden.

Auch der Aufstieg von Stefan Silar, dem bundesweit bekannten Betreiber des »Streetwear Tostedt« und des gleichnamigen Internetversandhandels, lief über einen Totschlag: Gemeinsam mit einem sieben Jahre älteren Neonaziskinhead hatte der damals 19-jährige am 18. März 1992 am Busbahnhof in Buxtehude den 53-jährigen Seemann Gustav Schneeclaus so schwer misshandelt, dass er an den Folgen der Verletzungen starb. Der Ausgangspunkt: Schneeclaus hatte Hitler als »großen Verbrecher« bezeichnet. Das Landgericht Stade verurteilte Stefan Silar wegen Totschlags zu sechs Jahren Haft. Gustav Schneeclaus wird von der Bundesregierung als Todesopfer rechter Gewalt anerkannt. Silar zog es nach seiner Haftentlassung zu den organisierten, militanten Neonazi-Netzwerken von Blood & Honour und Combat 18 in Norddeutschland; seine als Geburtstagsparties getarnten Neonazikonzerte sorgen immer wieder für Schlagzeilen (vgl. AIB 88: »Brennpunkt Tostedt«).

Weniger bekannt, aber mit ähnlichem Muster verlief der Werdegang von Rene Berger aus Brandenburg: Der damals 20-jährige, einschlägig vorbestrafte Neonaziskinhead tötete gemeinsam mit zwei »Kameraden« den Arbeitslosen Hans-Georg Jakobson in der Nacht zum 28. Juli 1993 nahe Strausberg (Brandenburg). Nachdem die Angreifer den schlafenden 35-jährigen geschlagen und getreten hatten, warfen sie ihn aus einer fahrenden S-Bahn. Er sollte einen »Denkzettel« erhalten, da sie bei ihm kein Geld gefunden hatten.

Das Landgericht Frankfurt (Oder) bescheinigte Rene Berger eine erhebliche kriminelle Energie sowie besondere Brutalität gegenüber Ausländern und verurteilte ihn im Januar 1994 wegen Mordes zu acht Jahren Jugendhaft. Im Knast wurde Berger aktiv von der HNG (Hilfsorganisation für nationale Gefangene und deren Angehörige) betreut und wirkte hier bei der Organisierung einer Neonazigruppe mit (vgl. AIB 46). Er wurde schon 1998 entlassen und stieg fast nahtlos in die mittlerweile verbotene ANSDAPO-Kameradschaft ein. Berger gilt als Ansprechpartner für Konzerte und schreibt in Neonazifanzines. Seit dem Verbot der ANSDAPO2 im Jahr 2005 bewegt sich der mittlerweile 37-jährige in einer Mischszene aus Rotlicht-, Rocker- und Neonazischlägermilieu.

Vor Ort finden sich angesichts von über 140 Toten rechter Gewalt seit 1990 sicherlich viele weitere Beispiele ungebrochener Neonazitotschlägerkarrieren. Für die Kommunalwahlen in Brandenburg 2008 trat als NPD-Kandidat Alexander Bode an, der 1999 in Guben einen Migranten zu Tode gehetzt hatte. Anstatt sich offensiv gegen die Kandidatur des verurteilten Gewalttäters zu positionieren, blieben die lokalen Politiker still oder befürchteten lediglich einen Imageschaden. Umso wichtiger ist es, dass die  Opfer und die Unterstützung für die Angehörigen und Freunde der Getöteten nicht in Vergessenheit geraten.