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Lateinamerika: Fluchtpunkt nach NS-Terror

Einleitung

Als das tausendjährige Reich nach bereits 12 Jahren in Trümmern fiel, entzogen sich tausende führende Nazis und Massenmörder durch Selbstmord der Gerechtigkeit: Gauleiter, Generäle, einfache NSDAP-Mitglieder. Andere dagegen flohen ins Ausland- und konnten eine zweite, erfolgreiche Karriere aufbauen. Lateinamerika als Ziel stand an erster Stelle. Danach kamen arabische Länder wie z.B. Ägypten oder Syrien.

Foto: Arquivo Nacional, Rio de Janeiro

Mythos Odessa

Simon Wiesenthal sprach noch 2002 von „einer Geheimorganisation der SS“, die ­unter dem Namen ODESSA (Organisation ehemaliger SS-Angehöriger) gesuchte Nazi­kriegsverbrecher nach Südamerika geschleust habe. Doch diese Organisation hat es wohl in der Form nie gegeben und basierte auf gefälschten Dokumenten des in Peru untergetauchten ehemaligen SS-Manns Friedrich Schwend. Die Wahrheit ist dagegen weitaus schlimmer: Es existierte nicht nur ein Netzwerk ehe­maliger Nazis, sondern ­dieses Netzwerk war Teil eines internationalen Geflechts aus Waffenhändlern, Geheimdiensten und rechten Regierungen verschiedener Länder, durch welches geflohene Nazikriegsverbrecher nicht nur ungestraft davonkommen – sondern auch noch sehr reich werden konnten.

Die Rattenlinie

Der Anfang war klein. Nach dem Untergang des Dritten Reichs entstanden verschiedene Netzwerke ehemaliger SS- und SD-Männer, die sich gegenseitig durch falsche Papiere und Identitäten unterstützten – und so Verhaftungen entgingen.  Durch ihre Erfahrungen in der Vernichtung von Opposition und gegen die Sowjet­union wurden diese Männer und Netzwerke dabei mehr und mehr interessant für den US-Geheimdienst CIC (Counter Intelligence Corps).  Dieser sah die Gelegenheit, ehemalige SS und Gestapo-Offiziere für sich zu rekrutieren -  egal was diese in der Vergangenheit verbrochen hatten.

Schnell entstand die „Rattenlinie“ (euphemistisch auch „Klosterroute“ genannt). Diese Fluchtroute mit dem Ziel Lateinamerika basierte auf einem System von illegalen Quartieren unter dem Schutz der katholischen Kirche. Knotenpunkt war u.a. der österreichische Bischof Alois Hudal, der ungezählten deutschen und kroatischen Kriegsverbrechern durch sichere Unterkunft und falsche Papiere zur Flucht verhalf. Das Rote Kreuz stellte „Ersatz-Reisepässe“ aus - und keine Fragen. Zur Not half das „Päpstliche Hilfswerk“ mit Empfehlungsschreiben. Eichmann, Mengele… Viele erhielten so ihre neue Identität.

In Lateinamerika sammelten sich ab den 1950er Jahren hunderte einflussreiche SS-Männer und deren Familien. Die Anzahl dieser Nazi-Flüchtlinge ist bis heute unklar. Schätzungen gehen von ca. 300 bis 800 gesuchten Personen aus – vielleicht waren es aber auch deutlich mehr. Dies klingt wenig – fällt aber dadurch ins Gewicht, dass viele dieser Personen zu wichtigen Schaltstellen und Funktionären in den Unterdrückungsregimen Lateinamerikas werden konnten.

„La Estrella“

ODESSA scheint es nicht gegeben zu haben. Aber es gab „La Estrella“. Die BRD hatte ein Interesse daran Waffen aus Bundeswehrbeständen nach Lateinamerika zu verkaufen. Hierfür nutzte sie die Firma MEREX. Diese wurde geleitet von Gerhard Georg Mertins – ehemaliger Elitesoldat des „Dritten Reiches“ und auch nach 1945 aktiv in verschiedenen Nazi-Organisationen. Die Firma war spezialisiert auf Waffenexporte und machte Mertins zum Millionär. Ab 1964 nutzte der Bundesnachrichtendienst die Firma um Staaten mit Waffen zu versorgen – und dadurch dort Einfluss und Informationen zu gewinnen. Für Lateinamerika nutzte Mertins das dortige Netzwerk der alten SS-Kameraden – denn diese konnten schnelle Kontakte zu den örtlichen Militärs und Geheimdiensten herstellen.

Wichtigste Firma in Südamerika für den Verkauf von Waffen: die Firma „La Estrella“, gegründet von Friedrich Schwend. Als SS-Sturmbannführer kam dieser, eben­falls mit Hilfe des CIC und der Rattenlinie nach Peru. Dort gründete er Ende der 1950er Jahren die Firma, deren Aufgabe es war Waffengeschäfte zu machen und dafür das Netzwerk der über verschiedene Länder verteilten Nazi-Kriegsverbrecher nutzte.  Die Namensliste der einzelnen Estrella-­Vertreter liest sich daher wie das „who is who“ geflüchteter NS-Täter.

In Argentinien wurde die Firma durch Willem Sassen vertreten, in Ecuador durch Sassens Bruder Alphons, der ebenfalls wegen Kriegsverbrechen gesucht wurde. Willem Sassen machte sich nicht nur als Waffenhändler und Publizist einen Namen, sondern auch als Berater des chilenischen Diktators Pinochet. In Bolivien arbeitete „Klaus Altmann“ für die Firma. Richtiger Name: Klaus Barbie, der „Schlächter von Lyon“.

Als dortiger Gestapochef verantwortlich für grausame Folterungen, Deportationen und Morde – entkam er nach 1945 mithilfe eines Netzwerks ehemaliger SS-Männer und des CIC zuerst in die Illegalität, dann ab 1951 dann nach Bolivien. Dort gelang ihm eine Doppelkarriere: zum einen als Händler für Holz und andere Produkte – zum anderen als wichtigster Waffenhändler, Geheimdienstberater und Folterspezialist für wechselnde rechte Militärregierungen. Sein Einfluss wurde so groß, dass er eigene Büros bei der Regierung bekam und auch den Nachbarstaat Argentinien als Spezialist für effektive Aufstandsbekämpfung beriet. Auch er stand auf der Gehaltsliste des BND.

In Paraguay vermittelte Hans-Ulrich Rudel die nötigen Kontakte für „La Estrella“. Als berühmtester Kampfflieger des „Dritten Reichs“ und unverbesserlicher Nazi hatte er nach seiner Flucht in Argentinien das „Kameradenwerk“ gegründet. Dieses hatte das Ziel andere „Kameraden“ zu unterstützen - unter ihnen z.B. den Arzt und Massenmörder aus Auschwitz Josef Mengele. Sogar eine eigene Zeitschrift wurde gegründet: „Der Weg. Monatshefte zur Kulturpflege und zum Aufbau“, in der unverhohlen die alte Weltanschauung hochgehalten wurde. Ab 1973 lebte er in der rechten Sektengemeinschaft „Colonia Dignidad“ in Chile und war politsch für die Partei „Deutsche Volksunion“ (DVU) in der BRD aktiv. Diese über Ideologie und Firmengeschäfte verbundenen SS-Funktionäre unterstützten sich über Ländergrenzen hinweg und waren jeweils in ihrem Exil-Land durch ihr Repressionswissen und ihre internationalen Kontakte hervorragend in Militär- und Geheimdienstkreise integriert. Eine wahrhaft tödliche Kombination.

Doch auch über "La Estrella" hinaus gab es einflussreiche Nazi-Größen in Lateinamerika. Walther Rauff, verantwortlich für den Massenmord durch Gaswagen, entkam 1948 nach Syrien, wo er für den Geheimdienst tätig war. Ab 1949 ging er nach Ecuador und Chile und stand dort von 1958 bis 1962 auf der Gehaltsliste des BND. Rauff konnte sogar für Fortbildungen in die BRD reisen, obwohl gegen ihn ein Haftbefehl vorlag und dem BND die Vergangenheit von Rauff bekannt war.

Mit dem Geld des BND und anderer Geheimdienste gründete Rauff eine Fischfabrik, die ihn zu einem wohlhabenden Mann machte. In Brasilien kam Franz Stangl unter, verantwortlich für den Tod von über 400.000 Menschen in den Vernichtungslagern Sobibor und Treblinka. Strangl floh erst nach Syrien, dann nach Brasilien und arbeitete dort als Ingenieur für Volkswagen – unter seinem richtigen Namen. Als einer der wenigen NS-Täter Lateinamerikas wurde Strangl schließlich regulär ausgeliefert und starb in einer deutschen Haftanstalt an Herzversagen.

Warum Lateinamerika?

Es gab bereits in den 1930er Jahren gute Kontakte zwischen lateinamerikanischen Ländern und dem "Dritten Reich", auf die man nach 1945 aufbauen konnte. In Argentinien und vielen weiteren Staaten waren die jungen Armeen durch deutsche „Spezialisten“ aufgebaut und beraten worden. Viele der rechten Regimes hatten ein Interesse daran „weiße“ Europäer anzusiedeln und diese gegen die einheimische indigene Bevölkerung einzusetzen. Auch hatten sowohl die Militärregimes in Südamerika als auch die USA, die Lateinamerika als ihren „Hinterhof“ betrachtete, ein Interesse daran linke Bewegungen in dieser Region zu zerschlagen. Was lag also näher, als die ausgewiesenen Antikommunisten und Repressionsexperten aus dem ehemaligen "Dritten Reich" wieder in die Dienste zu nehmen?

Zahlreiche Kriegsverbrecher wurden also für ihre Verbrechen nie bestraft, sondern konnten im Gegenteil mit Waffengeschäften und Repression dort weitermachen, wo sie im "Dritten Reich" aufgehört hatten.  Sie lebten nicht versteckt und in ständiger Furcht. Stattdessen rückten sie schnell in zentrale Positionen staatlicher Repressionsapparate auf. Mit Wissen und Unterstützung von US und BRD-Geheimdiensten und bis heute ungesühnt.

Literatur:
Hannes Bahrmann: Rattennest. Argentinien und die Nazis. Berlin 2021.
Peter Hammerschmidt: Deckname Adler. F. a.M 2014.

Daniel Stahl: Nazi-Jagd. Südamerikas Diktaturen und die Ahndung von NS-Verbrechern. Göttingen 2013.
Heinz Schneppen: Odessa und das Vierte Reich. Metropol 2007.