Skip to main content

Seenotrettung im Mittelmeer

vom Autor_innenkollektiv Luv und Lee (Gastbeitrag)
Einleitung

Jeder Mensch verdient die Rettung aus Seenot“ – unter diesem Vorsatz haben sich Menschen im Herbst 2015 zusammengefunden, um etwas gegen das tägliche Sterben im Mittelmeer zu unternehmen. Seitdem ist viel passiert. Tausende Menschen wurden gerettet und nach Italien gebracht. In der Öffentlichkeit wurden die Retter_innen anfangs gefeiert. Spätestens seit Ende 2016 wendete sich das Blatt. Das politische Europa startete eine Verleumdungskampagne gegen die im Mittelmeer tätigen Search-And-Rescue (SAR)-NGOs, die ihren bisherigen Höhepunkt in der Beschlagnahmung der „Iuventa“ – dem Schiff von „Jugend Rettet“ – am 2. August 2017 fand.

Foto: Moonbird Airborne Operation / www.sea-watch.org, www.hpi.swiss

Die Iuventa rettet Menschen aus Seenot am Osterwochenende 2017. Wegen der ungenügenden staatlichen Seenotrettungsporgramme arbeiten die zivilen Search-And-Rescue-Schiffe oftmals am Limit.

Die Arbeit von „Jugend Rettet“

Schon seit Jahren sterben Menschen im Mittelmeer bei dem Versuch nach Europa zu kommen. Die meisten von ihnen ertrinken, weil sie die Reise nach Europa in nicht-seetüchtigen Booten antreten müssen. Die Fluchtwege wurden in den letzten Jahren länger, weil die EU ihre Grenzen immer weiter geschlossen hat. Spätestens seit dem EU-Türkei-Deal vom März 2016 wurde die zentrale Mittelmeerroute zwischen der libyischen Küste und der südlichen EU-Grenze zur Hauptfluchtroute nach Europa. Sie ist die längste, gefährlichste und tödlichste Route dorthin. Die Anzahl der Todesopfer erreichte ein Ausmaß, das zur Folge hatte, dass Bilder von gekenterten Holzbooten oder überfüllten, sinkenden Schlauchbooten zunehmend auch in Zeitungsmeldungen und den Abendnachrichten auftauchten. Diesem Sterben wollten die Gründer_innen von "Jugend Rettet" nicht mehr länger zuschauen und beschlossen im Herbst 2015 ein Schiff zu kaufen und aktiv dagegen vorzugehen. Geld wurde gesammelt, ein Schiff gefunden, für die Rettungseinsätze umgebaut und auf den Namen „Iuventa“ getauft. Nach 1,5 Jahren Vorbereitung startete im Juli 2016 die erste Rettungsmission von Malta aus. Über 14.000 Menschen wurden seitdem in 15 Missionen aus Seenot gerettet – bis das Schiff im August von den italienischen Behörden beschlagnahmt wurde.

Die „Iuventa“ ist ein kleines Schiff, gerade mal 33 Meter lang. Betrieben wird es von einer 13 bis 15-köpfigen Crew. Manchmal sind noch ein bis zwei Journalist_innen mit an Bord. Die Crew besteht aus Nautiker_innen, Ärzt_innen, Krankenpfleger_innen, Maschinist_innen und den Deckhands, die alle zusammen für den reibungslosen Ablauf der Einsätze sorgen. Hinzu kommen die beiden Crews der schnellen Rettungsboote (RHIBs = Rigid-­Hulled Inflatable Boats). Teile der Crew sind sehr erfahren auf ihren jeweiligen Einsatzgebieten. Sie lernen diejenigen an, die zum ersten Mal einen solchen Einsatz machen. Allen ist gemeinsam, dass sie einen intensiven Auswahlprozess durchlaufen haben, bevor sie in den zweiwöchigen Einsatz starten. Zusätzlich finden auf Malta vor dem Auslaufen und während der 24-stündigen Fahrt ins SAR-Gebiet intensive Trainings statt, die die Crew auf die üblichen Einsatzszenarien vorbereiten sollen. Es ist meist noch stockfinster, wenn die „Iuventa“ von Norden in das SAR-Gebiet vor der libyschen Küste einläuft. Es ist schwierig, in der Dunkelheit Fluchtboote mit dem Fernglas zu sichten. Meist sind sie erst zu sehen, wenn die „Iuventa“ sehr nah dran ist. Dann werden schnellstmöglich die beiden RHIBs zu Wasser gelassen, um die Situation an Bord des Bootes zu stabilisieren und Rettungswesten auszuteilen. Manchmal findet die „Iuventa“ selbst überfüllte Fluchtboote, oft erreichen sie zudem Notrufe der Seenotrettungsleitstelle in Rom (MRCC), die für die Koordinierung der Rettungen in der SAR-Zone zuständig ist. Diese nennt vermutlichen Positionen von Seenotfällen, auch die „Jugend Rettet“-Crew meldet jedes gesichtete Boot ans MRCC. Manchmal sind es auch andere (NGO-)Schiffe, mit denen die „Iuventa“ in Kontakt steht, die Notfälle melden.

Das Einsatzkonzept der „Iuventa“ sieht vor, Menschen nur in Notfällen an Bord aufzunehmen. Dies sind vorrangig Kinder mit ihren Eltern bzw. Bezugspersonen, Verletzte und besonders schutzbedürftige Menschen. Das Schiff ist einfach zu klein, um dauerhaft eine große Anzahl an Menschen aufnehmen zu können oder sie gar nach Italien zu transportieren. Das müssen größere Schiffe von anderen NGOs, der italienischen Küstenwache, Frontex oder Handelsschiffe übernehmen. Eine Übergabe an andere Schiffe wird vom MRCC in Rom koordiniert. Die Behörde hat die Möglichkeit, Schiffe anzuweisen ihren Kurs zu ändern und Menschen nach Italien zu bringen. In den letzten Monaten kam es allerdings mehrfach vor, dass der „Iuventa“ nicht alle Geretteten abgenommen wurden – obwohl dies möglich gewesen wäre – und sie mit sehr wenigen Geretteten an Bord nach Lampedusa fahren musste. Bei einer dieser Gelegenheiten wurde eine Abhöreinrichtung ("Wanze")  auf der Brücke platziert. Doch dazu später mehr.

Der „Code of Conduct“

Seit Ende letzten Jahres läuft eine Verleumdungskampagne gegen die im Mittelmeer tätigen NGOs. Ihnen wird vorgeworfen, sie seien ein „Pull-Faktor“. Sie würden durch ihre Tätigkeit die Menschen erst dazu bringen, auf die überfüllten Boote zu steigen. Sie würden sich mit Schleppern absprechen und sie durch „Lichtzeichen“ anlocken. Dies wurde unter anderem vom Frontex-Chef Fabrice Leggeri geäußert und von Politikern wie Thomas De Maiziere aufgegriffen. Ein italienischer Staatsanwalt in Catania sprach von Beweisen gegen NGOs, die er dann aber doch nicht hatte; er musste später zurückrudern. Der österreichische Außenminister Sebastian Kurz verlangte auf Malta, „der NGO-Wahnsinn müsse gestoppt werden“. Das Klima, um die NGOs zu diskreditieren, war geschaffen.

In diesem Kontext einigten sich die EU-Innenminister im Juni 2017 auf einen sogennanten „Code of Conduct“, der von allen im Mittelmeer tätigen NGOs unterschrieben werden sollte. Dieser von Italien vorgelegte Verhaltenskodex sollte Bedingung dafür sein, dass NGO-Schiffe weiter italienische Häfen anlaufen dürfen. Ein solcher Verhaltenskodex suggeriert, die NGOs hätten sich nicht an Regeln gehalten und die Seenotrettung müsse jetzt besser reguliert werden. Er lässt völlig außer Acht, dass es bereits einen Verhaltenskodex gibt, an den sich alle Schiffe halten müssen, die sich an der Seenotrettung beteiligen: das See- und Völkerrecht. Außerdem stellte der wissenschaftliche Dienst des Bundestages in einem Gutachten klar, dass der „Code of Conduct“ in Teilen völkerrechtswidrig ist.1 Bis zum 1. August 2017 sollte er dennoch von allen im Mittelmeer tätigen NGOs unterschrieben werden. So wollte es zumindest Italien. Einige NGOs unterschrieben aus der – wie sich zeigen sollte berechtigten – Angst heraus, ihre humanitäre Arbeit würde beeinträchtigt. Andere weigerten sich, weil sie Teile des Verhaltenskodex nicht mit ihrer Arbeit in Einklang bringen konnten oder ihn als das bewerteten, was er war: Ein poli­tisches Manöver der italienischen Regierung, um Handlungsfähigkeit zu beweisen.

In Italien finden im ersten Halbjahr 2018 Parlamentswahlen statt und aktuell deutet sich eine starke Verschiebung nach rechts an. Die regierenden Parteien versuchen unter anderem, durch einen harten Kurs in der Flüchtlingspolitik hier Stimmen zurückzugewinnen. „Jugend Rettet“ gehörte zu den Organisationen, die den „Code of Conduct“ nicht unterschrieben haben. Am 2. August wurde ihr Schiff in Lampedusa von den italienischen Behörden beschlagnahmt. Die Vorwürfe: Beihilfe zur illegalen Einreise und zu organisiertem Verbrechen sowie Waffenbesitz.

Die Ermittlungen

Die „Vos Hestia“ ist ein von der NGO „Save the Children“ gechartertes Schiff, das eben­falls Seenotrettung im Mittelmeer betreibt. Die Crew besteht zu großen Teilen aus Ange­stellten der Reederei Vroon. Diese Reederei engagierte einen privaten Sicherheitsdienst, IMI-Security aus Italien, der während der Einsätze an Bord des Schiffes war. Einige der Angestellten haben Verbindungen zur „Identitären Bewegung“ in Italien. Sie berichteten dem italienischen Auslandsgeheimdienst im Herbst letzten Jahres von „Unregelmäßigkeiten“ im Zusammenhang mit Rettungseinsätzen der „Iuventa“. Obwohl sie bei ihrer Vorladung widersprüchliche Aussagen machten, reichte dies den Behörden, Ermittlungen gegen „Jugend Rettet“ einzuleiten. Im Zuge dieser Ermittlungen wurde die bereits erwähnte "Wanze" auf der Brücke der „Iuventa“ platziert, sodass über zwei Monate lang alle Gespräche, die dort geführt wurden, mitgeschnitten wurden. Außerdem wurde ein verdeckter Ermittler auf der „Vos Hestia“ platziert, der bei Rettungseinsätzen im Juni 2017 Fotos machte, sie aus dem Kontext riss und mit teilweise falschen Aussagen die Ermittlungen beeinflusste.

Die Ereignisse am 18. Juni 2017

Letztes Jahr noch eher selten, tauchten dieses Jahr vermehrt die sogenannten „Engine Fisher“ rund um die Rettungseinsätze auf. Dabei handelt es sich um kleine Sportboote, deren Besatzungen versuchen, die Außenbordmotoren der Fluchtboote an sich zu nehmen. Ob es Schmuggler sind, Menschen, die für die Schmuggler arbeiten oder einfach nur Leute mit Geschäftssinn, kann niemand von vor Ort beurteilen. Es ist Teil der Standardprozedur der meisten NGOs, leere Fluchtboote zu versenken. Auch „Jugend Rettet“ macht das so. Bei Schlauchbooten ist dies recht einfach durch Aufschlitzen der Schläuche, bei Holzbooten ist es ungleich schwerer. Diese müssen entweder abgebrannt oder es muss ein Loch in den Rumpf gehackt werden, z.B. mit einem Beil. Beides sind risikoreiche und zeitaufwändige Prozeduren, die nicht immer durchführbar sind. Wenn z.B. andere Boote auftauchen, hat die Rettung der Menschen natürlich Priorität vor dem Zerstören der leeren Boote.

„Engine Fisher“ sind durch dieses Vorgehen allerdings dazu übergegangen, die Motoren teilweise bereits lange vor der Rettung oder während laufender Rettungseinsätze abzubauen. Die Crews der NGO-Schiffe können dem nicht wirklich etwas entgegensetzen, da Eigensicherung an erster Stelle steht und davon ausgegangen werden muss, dass die „Engine Fisher“ bewaffnet sind. Wenn die „Engine Fisher“ die Chance haben, schleppen sie auch ganze Boote zurück nach Libyen. So wie am 18. Juni 2017.

Die „Iuventa“ wurde an diesem Tag vom MRCC zu einer Position zirka 17 Seemeilen (knapp 32 Kilometer) vor der libyschen Küste geschickt, wo sich Boote in Seenot befinden sollten. Zusammen mit der „Vos Hestia“ erreichten sie die Position und fanden drei Holzboote vor. Sie begannen mit der Evakuierung eines der Holzboote auf die „Iuventa“, die Menschen von den beiden anderen Booten wurden direkt auf die „Vos Hestia“ gebracht. Das große RHIB der „Iuventa“ – „Iuventa Rescue“– musste nach der Evakuierung des ersten Holzbootes den Ort verlassen, um ein mögliches weiteres Schlauchboot zu versorgen. Dies war während der Bergung der Holzboote am Horizont aufgetaucht und vom Ausguck der „Iuventa“ gesichtet worden. Währenddessen sollten die Gäste auf der „Iuventa“ ebenfalls auf die „Vos Hestia“ transportiert werden. Dies wurde von den zwei RHIBs der „Vos Hestia“ erledigt. Das kleine Beiboot der „Iuventa“ – „Lilly“ – hatte den Auftrag, zunächst zwei leere Holzboote, die sich zwischen „Iuventa“ und „Vos Hestia“ befanden, aus dem Weg zu ziehen und dann zu zerstören. In der Zwischenzeit kam aber die Bestätigung durch „Iuventa Rescue“, dass es sich bei der jüngsten Sichtung wirklich um ein überfülltes Fluchtboot handelte, weshalb „Lilly“, nachdem die leeren Boote aus dem Weg gezogen waren und der Transport nicht weiter behindert wurde, sich auf den Weg machte, um „Iuventa Rescue“ zu unterstützen, ohne zuvor die Boote zu zerstören. Die drei Holzboote wurden daraufhin von „Engine Fishern“ eingesammelt und vermutlich zurück nach Libyen gebracht. Mindestens eines der Holzboote tauchte bei einer späteren Rettung wieder auf. In dieser Szene entstand ein Foto von „Lilly“, wie sie ein Holzboot zieht – fotografiert vom Undercover-Agenten auf der „Vos Hestia“. Unter anderem dieses Foto wurde von der Staatsanwaltschaft falsch beschriftet und der Presse zur Verfügung gestellt. Hieraus hat die Staatsanwaltschaft eine Kooperation mit Schmugglern konstruiert, die es nie gab.

Die Beschlagnahmung der „Iuventa“ und die aktuelle Situation

Dies führte schließlich zur präventiven Beschlagnahmung der „Iuventa“ in Lampedusa. Es gibt derzeit keine Anklage, lediglich Ermittlungen. Nach italienischem Recht muss allerdings "Jugend Rettet" beweisen, dass die Vermutungen der Staatsanwaltschaft unwahr sind, um das Schiff vor Prozessende wiederzubekommen. Ob, und wenn ja, wann es zu einem Prozess kommt und wie lange dieser dauern wird, ist völlig unklar. Es gibt allerdings zwei Beispiele aus der jüngeren italienischen Geschichte, die sehr ähnlich gelagert sind. Zum einen das 2004 beschlagnahmte NGO-Schiff „Cap Anamur“, deren Kapitän, der erste Offizier sowie der Leiter der NGO nach der Rettung von Geflüchteten aus Seenot der Beihilfe zur illegalen Einreise beschuldigt wurden. Die Angeklagten wurden fünf Jahre später freigesprochen. Zum anderen den Fall zweier tunesischer Fischer, deren Schiffe 2007 aus dem gleichen Grund beschlagnahmt wurden. Sie wurden zwei Jahre später freigesprochen2

Der Widerspruch gegen die Beschlagnahmung der „Iuventa“ wurde in erster Instanz in Trapani zurückgewiesen. Der nächste Schritt ist der Anruf des Kassationsgerichtes in Rom im Oktober. Es ist allerdings nicht davon auszugehen, dass das Schiff freigegeben wird. Parallel dazu hat eine der libyschen Regierungen3 eine eigene SAR-Zone ausgerufen, die sich bis über 100 Kilometer vor der Küste erstreckt – weit in internationale Gewässer. Sie droht allen NGOs mit Konsequenzen, sollten sie diese Zone ohne ihre Erlaubnis befahren. Es kam bereits zu ersten Zwischenfällen, bei denen die libysche Küstenwache Warnschüsse abfeuerte. Ein spanisches NGO-Schiff sollte aus internationalen Gewässern nach Tripolis entführt werden, wurde aber nach zwei Stunden wieder freigelassen. Ein Schiff einer deutschen NGO wurde während eines laufenden Rettungseinsatzes ebenfalls in internationalen Gewässern bedroht und zur Herausgabe der Geflüchteten an Bord aufgefordert. Die Crew weigerte sich erfolgreich. Allerdings drohte ein Sprecher der libyschen Küstenwache hinterher, dass sie beim nächsten Mal härter durchgreifen würden. Es handelt sich um klare Verstöße gegen das Völkerrecht, die allerdings von der EU hingenommen werden. Die EU hat die sogenannte libysche Küstenwache mit Schnellbooten ausgerüstet und trainiert. In dieser Situation haben einige der NGOs ihre Tätigkeiten im Mittelmeer unterbrochen oder ganz eingestellt.

Gleichzeitig haben italienische Geheimdienste einen zeitlich befristeten Deal mit einer libyschen Miliz – der „Brigade 48“ – ausgehandelt, um Fluchtboote am Ablegen zu hindern. Es ist von mindestens fünf Millionen Euro die Rede, die dafür nach Libyen geflossen sein sollen. Tatsächlich legten deutlich weniger Boote ab als zuvor, was als Erfolg der Maßnahmen verkauft wurde. Dass die EU damit mafiöse Strukturen in einem Bürgerkriegsland finanziert, in dem Menschen unter unerträglichen Bedingungen in Lagern festgehalten werden, in denen sie Misshandlungen, Folter, Erpressung und Vergewaltigungen ausgesetzt sind4 , wird offensichtlich billigend in Kauf genommen.

Allerdings scheint der Deal mittlerweile abgelaufen zu sein, denn in den letzten Wochen waren wieder tausende Menschen auf dieser Route unterwegs. In einer Situation, in der deutlich weniger NGO-Schiffe zu ihrer Rettung vor Ort sind und diejenigen, die ihre Missionen fortsetzen, aus Eigensicherung deutlich weiter von der Küste entfernt operieren müssen, steigt das Risiko der Überfahrt massiv. Die italienische Marine unterstützt die sogenannte libysche Küstenwache dabei, Fluchtboote innerhalb ihrer territorialen Gewässer zu finden, um sie nach Libyen zurückzubringen. Auch das ist völkerrechtswidrig.5

Fakt ist, dass derzeit noch schwerer zu ermitteln ist, wie viele Menschen auf dem Weg über das Mittelmeer nach Europa sterben, als zuvor. Für die EU unangenehme Augenzeug_innen, die illegale Praktiken von libyscher und europäischer Seite dokumentieren, werden ferngehalten. Eines aber ist sicher: Je weiter weg von der Küste die Rettungen stattfinden müssen, desto größer wird die Anzahl der Toten sein. Je weniger NGO-Schiffe in der SAR-Zone operieren, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass Boote nicht gefunden werden. Dies alles hält aber Italien nicht davon ab, gegen weitere NGOs zu ermitteln. Aktuell ist ein Kapitän der „Vos Hestia“ in das Visier der Ermittler geraten. Wie es weiter geht ist offen. Was aber sicher ist: Das Sterben an den europäischen Außengrenzen und im Mittelmeer wird nicht enden, solange die europäischen Staaten weiter auf Abschottung setzen, statt sichere Fluchtwege für alle zu schaffen.

Wann ist ein Schiff in Seenot?

Es gibt im Völkerrecht keine klare Definition, wann ein Schiff in Seenot ist. Es kann in der Praxis davon ausgegangen werden, dass ein Schiff in Seenot ist, wenn „die auf ihm befindlichen Personen ohne Hilfe von außen nicht in Sicherheit gelangen können und auf See verloren gehen […]. Irrelevant ist, ob die Notlage von den zu rettenden Personen selbst und/oder schuldhaft herbeigeführt wurde.“ Die EU-Agentur für Grenz- und Küstenwache Frontex hat für ihre Einsätze Richtlinien definiert, anhand derer ermittelt werden kann, wann ein Schiff in Seenot ist. Dabei sind folgende Informationen zu berücksichtigen: Ob das Schiff seetüchtig ist und wie wahrscheinlich es ist, dass das Schiff seinen Zielort nicht erreichen wird; ob die Anzahl der an Bord befindlichen Personen in einem angemessenen Verhältnis zur Art und zum Zustand des Schiffs steht; ob die notwendigen Vorräte wie Treibstoff, Wasser und Nahrungsmittel für die Weiterfahrt bis zur Küste vorhanden sind; ob eine qualifizierte Besatzung und Schiffsführung vorhanden sind; ob Personen an Bord sind, die dringend medizinische Hilfe benötigen; ob Tote an Bord sind; ob Schwangere oder Kinder an Bord sind und wie Wetterbedingungen und Seegang, einschließlich Wetter- und Seewettervorhersage, sind. Fast alle Fluchtboote erfüllen alle diese Kriterien. Demnach sind sie ausnahmslos Seenotfälle, sobald sie auf dem Wasser sind.