Strafjustiz gegen Geflüchtete in Europa
Britta Rabe Komitee für Grundrechte und DemokratieDas Urteil kam überraschend. Niemand hatte bereits an diesem Tag damit gerechnet, selbst Ahmed H., der Angeklagte, nicht. Sieben Jahre Haft wegen „illegalen Grenzübertritts als Teil einer Gruppe“ und „Terrorismus“. Ahmed H. ist der letzte von ursprünglich elf Geflüchteten, den „Röszke 11“, die in Ungarn im September 2015 am Grenzübergang Röszke willkürlich festgenommen wurden und über viele Monate inhaftiert waren. Ahmed H. nahm das Urteil vom Übersetzer regungslos zur Kenntnis, sehr zum Verdruss der Medien: Staatstreue Medien hatten ihre Kameras auf sein Gesicht gerichtet, um den emotionalen Moment in Bild und Ton in Nahaufnahme festzuhalten.
Sieben anstatt zehn Jahre Gefängnis: drei Jahre weniger als im ersten Urteil. Als „Terrorismus“ galt für Staatsanwalt und Gericht zunächst, dass Ahmed H. angeblich Polizeieinheiten unter Druck gesetzt hatte. Er soll gedroht haben, die Menschen würden das geschlossene Tor durchbrechen, wenn die Polizei es nicht öffnete. Dieser Vorwurf wurde im nun beendeten Prozess durch Videoaufnahmen widerlegt — doch als „Terrorist“ gilt Ahmed H. weiterhin.
Die Verteidigung hatte hervorgehoben, der syrische Mann habe seine Familie auf der Flucht von der Türkei über die Balkanroute begleiten wollen und am Grenzübergang Röszke — wie viele andere auch — gehofft, das Grenztor zwischen Serbien und Ungarn würde nicht endgültig geschlossen bleiben. Die emotionalen Reaktionen Ahmeds und anderer Menschen waren der angespannten Situation am 16. September 2015 geschuldet, Ahmed H. selbst sei keinerlei Aggression gegen die Polizei nachzuweisen. Der Staatsanwalt hatte im Gegenteil betont, der gesamte Kontext, also der Grund für die Anwesenheit Ahmeds und seiner Familie an der Grenze, zähle nicht. Weder galt für ihn die Not, in der die Menschen am Grenzübergang Röszke nach langer Reise damals feststeckten, noch die zurückliegenden Strapazen ihrer Flucht nach Europa; weder die aufgeladene Situation an der Grenze, noch die Polizeigewalt gegenüber den Wartenden. Die ungarischen Polizeibeamt*innen, die die Menschen am geschlossenen Grenzübergang Röszke brutal und mit Tränengas angriffen, hätten in der gesamten Situation stets richtig gehandelt. Die Polizei zu provozieren sei die eigentliche Absicht Ahmeds in Röszke, sein Ziel, (illegal) Ungarn zu durchqueren, sei in all‘ seinen „Taten“ ablesbar gewesen.
Der Richter sprach das Urteil nach der Mittagspause, direkt nach den Plädoyers von Staatsanwalt und Verteidigung. Es musste offenbar nicht einmal offiziell der Anschein gewahrt werden, die Plädoyers würden in das Urteil miteinbezogen. Die Entscheidung des Gerichts wäre überlegt und abgewogen.
Das Urteil heißt für Ahmed H. weitere 4,5 Jahre im ungarischen Gefängnis - in weitgehender Isolation. Essen und Hofgang haben allein zu erfolgen. Seit einigen Monaten hat Ahmed H. immerhin in der Zelle Gesellschaft: Er bekommt stets einen der wenigen Arabisch sprechenden Häftlinge dazu und bisher hatte er Glück — die Zellengenossen sind angenehm. Das gilt jedoch nicht für alle Personen im Gefängnis: Bei den monatlichen Besuchen von Unterstützer*innen der Kampagne „Freiheit für die Röszke 11“ hält sich Ahmed mit Kritik über seine Situation noch zurück. Als ihn aber einmal ausnahmsweise keine Glasscheibe von seinem Gegenüber trennt und das Gespräch nicht über ein Telefon erfolgt, berichtet er leise von Schlägen und von rechten Aufsehern im Gefängnis, wobei er sich ständig vergewissert, ob nicht doch irgendwo ein kleines Mikrophon ihr Gespräch überwacht — Ahmed H. weiß inzwischen, wie es im Gefängnis funktioniert.
Das staatliche Narrativ
Die Geschehnisse vom 16. September 2015 am Grenzübergang Röszke sorgen in Ungarn bis heute für Schlagzeilen. Die offizielle Erzählung lautet stets identisch von der bedrohten Sicherheit Ungarns durch Migration und Terrorismus sowie die Verteidigung des Landes durch die heldenhafte ungarische Polizei, die in der „Schlacht von Röszke“ schließlich die Oberhand behielt. Polizeigewalt ist kein Thema.
Ein anders gearteter „Terrorakt“ erhielt in Ungarn niemals eine vergleichbare Aufmerksamkeit: Am 24. September 2016, nur eine Woche vor Viktor Orbáns nationalem Referendum über die Übernahme von Geflüchteten nach der EU-Flüchtlingsquote, hatte eine Nagelbombe im Zentrum von Budapest auf dem Teréz Boulevard zwei Streifenpolizisten schwer verletzt. Vermutete man zunächst einen islamistischen Anschlag, wurde einige Tage später ein junger ungarischer Mann verhaftet. Er gab die Tat später zu. Danach blieb es lange Zeit still um diesen Fall. Der Prozess gegen den wegen Terrorismus angeklagten László P. läuft seit Dezember 2017. Einen politischen Hintergrund hat der Sohn eines Polizeibeamten laut ungarischer Medienberichte angeblich nicht. Es wird berichtet, er sei psychisch instabil.
Geflüchtete auf der Anklagebank
Der Prozess gegen Ahmed H. wird bald in die zweite Instanz gehen, denn sowohl der Staatsanwalt als auch die Verteidigung sind in Berufung gegangen. Ein milderes Urteil ist jedoch nicht zu erwarten, genauso wenig wie eine frühere Entlassung, die theoretisch nach zwei Dritteln der Haftzeit möglich ist. Nach dem erneuten Wahlerfolg Orbáns im April 2018 ist in Ungarn auf einen Diskurswechsel nicht zu hoffen. Orbáns enge Freunde Horst Seehofer und Alexander Dobrindt machen aktuell auch in Deutschland vor, wie die Antwort auf etwaigen Widerstand von Geflüchteten gegen ihre Lebensbedingungen auf der Flucht und später in deutschen Lagern zu lauten hat. Die staatliche Machtdemonstration auf die versuchte Verhinderung einer Abschiebung in Ellwangen hat dies zuletzt eindrücklich gezeigt.
Auch in anderen Ländern reagiert der Staat mit Härte. In Griechenland wurden gerade 32 Personen verurteilt, die im letzten Jahr mehrfach vor dem Europäischen Asylbüro (EASO) auf der Insel Lesbos gegen ihre unwürdigen Lebensbedingungen demonstriert hatten. Seit Monaten zu Perspektivlosigkeit verdammt, hatten sie gefordert, endlich auf das griechische Festland weiterreisen zu dürfen. Seit dem Erdoğan-Deal vom März 2016 ist nicht nur das dortige Lager Moria hoffnungslos überfüllt, da die Menschen nicht auf das griechische Festland transferiert werden. Erst vor kurzem hat das oberste Gericht Griechenlands angewiesen, dass Geflüchtete nicht mehr auf den Inseln festgehalten werden dürfen. Beobachter*innen und Beschuldigte berichteten im Anschluss an die Proteste im Juni 2017 auf Lesbos von massiver Polizeigewalt: Im Lager Moria wurden mehrere Menschen verletzt und willkürlich Personen aus der afrikanischen Community festgenommen. Ohne konkreten Tatnachweis wurden wegen angeblicher Verletzung eines Polizeibeamten 32 von ihnen zu 26 Monaten Haft verurteilt.
Mit den „Petrou Ralli 8“ sind aktuell außerdem acht Geflüchtete in der Athener Abschiebehaftanstalt „Petrou Ralli“ angeklagt. Sie wurden in ihren Zellen geschlagen, nachdem sie nach dem Anstaltsleiter verlangt hatten. Nach vielen Monaten in Haft wollten sie lediglich erfahren, wie lang sie dort noch festgehalten werden.
In Bulgarien steht derzeit ebenfalls gleich eine ganze Gruppe vor Gericht: Bei den „Harmanli 21“ handelt es sich um 21 afghanische Männer, die sich im Dezember 2016 an Protesten gegen die unbefristete Ausgangssperre in einem Lager in der Stadt Harmanli an der türkisch-bulgarischen Grenze beteiligten. Die Ausgangssperre war aufgrund der Forderungen rechter Nationalisten verhängt worden, die schon länger gegen das Lager mobilisierten und Gerüchte über dort angeblich grassierende Krankheiten verbreiteten. Der Protest der Gefangenen gegen ihre Internierung wurde von einer Spezialeinheit der Polizei mit Gewalt unter Kontrolle gebracht, zahlreiche Lagerinsassen erlitten schwere Verletzungen.
Röszke, Moria, Ellwangen: Kollektive Gegenwehr von Geflüchteten wird stets hart bestraft, denn widerständige Solidarisierung und Kontrollverlust fürchtet der Staat am meisten. Antirassist_innen fordern daher: "Es bleibt unsere Aufgabe, dem geltenden nationalen Narrativ vom „Flüchtling als Gefährder“ unsere Perspektive von der Realität einer Gesellschaft der Vielen entgegenzusetzen und die vielfältigen Kämpfe für Bewegungsfreiheit und gegen das unmenschliche Grenzregime als legitimen Widerstand zu etablieren".