Fake-News in Ellwangen
Christian JakobDas "The Voice Refugee Forum" überschlug sich fast vor Begeisterung. „A Very Big SALUTE to the Refugee Resistance in Ellwangen“, schrieb die älteste Flüchtlingsorganisation Deutschlands. „Mit einer starken und kraftvollen Faust in den Himmel, begrüßen wir die Tapferkeit und den Mut unserer Mitflüchtlingsbrüder und -schwestern, um die gefühllose und unmenschliche Abschiebung eines togolesischen Flüchtlings zu verhindern und sein Recht auf Menschenwürde zu verteidigen.“ Die zweiseitige Erklärung schloss mit „Lang lebe der Widerstand!!!“ Und "The Voice" waren nicht die einzigen. Praktisch die gesamt antirassistische Szene hatte sich gleichsam über Nacht in einen Fanclub der widerspenstigen Flüchtlinge in der baden-württembergischen Landeserstaufnahmeeinrichtung (LEA) Ellwangen verwandelt. Zwei Tage nachdem das Voice-Papier kursierte, hatte eine Delegation aus Ellwangen einen bejubelten Auftritt bei der „Welcome United"-Konferenz des Migrationsforschernetzwerks „kritnet“ in Göttingen.
In einer Zeit, in der sich Staat und RechtspopulistInnen gegenseitig täglich zu neuen Vorschlägen zur Asylrechtsverschärfung anstacheln, hatten sie so etwas wie Hoffnung verbreitet: Darauf, dass praktische Solidarität auch unter Bedingungen des Lagers möglich ist. Dass der Name des kleinen Städtchens zum Symbol für die jüngste Asyldebatte wurde, ist nur vor dem Hintergrund der Schwierigkeiten zu verstehen, vor denen die Große Koalition und der Innenminister Horst Seehofer stehen.
Der hatte Abschiebungen zum Kernthema seines Wirkens erkoren. Ein Weg dazu sollen die so genannten Anker-Zentren sein — zentrale Abschiebelager, in denen alle ankommenden Flüchtlinge kaserniert werden — etwa so, wie in Ellwangen. Tatsächlich aber will kaum ein Bundesland solche Zentren und selbst die Gewerkschaft der Polizei hat sich massiv gegen die Zentren gestellt: „Menschen, die Schutz suchen und nach Deutschland kommen, die nichts anderes an verwerflicher Tat vorzuweisen haben als einen unerlaubten Grenzübertritt, nach dem Verwaltungsrecht festzusetzen, zu verorten, festzuhalten oder — wenn man es extrem ausdrücken will — zu inhaftieren, ist mit der gültigen Verfassung nicht in Einklang zu bringen,“ sagte der GdP-Vize Jörg Radek beim DGB-Bundeskongress Mitte Mai in Berlin. Der beste Weg, um die Öffentlichkeit dennoch davon zu überzeugen, dass kasernenartige Großlager der beste Verwahrungsort für ankommende Flüchtlinge sind, ist es, diese als gefährlich darzustellen. Und da kam Ellwangen ins Spiel.
Die Geschichte nahm ihren Anfang am Montag, dem 30. April, um 2.30 Uhr in der Nacht. Vier Beamte waren in die LEA gekommen, um den 23-jährigen Togoer Yusif O. abzuholen. Etwa 150 BewohnerInnen der Einrichtung bedrängten die Beamten so sehr, dass diese den Togoer wieder laufen ließen und sich zurückzogen. Zwei Tage später, am Mittwoch, veröffentlichte das zuständige Polizeipräsidium Aalen eine Pressemitteilung mit der Überschrift „Abschiebung aus der LEA mit Gewalt verhindert“. Am nächsten Morgen rückten hunderte Polizisten, schwer bewaffnet und maskiert, darunter Spezialeinheiten, am Morgen um 5.15 Uhr zu einer Razzia in der LEA ein. Sie nahmen den Gesuchten fest, kontrollierten 292 Bewohner der Einrichtung, leiteten zwölf Ermittlungsverfahren ein und beschlagnahmten bei 18 Personen „erhöhte Bargeldbestände, die über der Selbstbehaltsgrenze von 350 Euro lagen“. Elf Bewohner wurden nach Polizeiangaben bei der Aktion verletzt. Zwei seien aus dem Fenster gesprungen. Die Übrigen hätten „Widerstand geleistet“, der „gebrochen werden musste“, so ein Polizeisprecher.
Baden-Württembergs grüner Ministerpräsident Winfried Kretschmann dankte nach der Razzia der Polizei, die „mit der erforderlichen Konsequenz und Härte reagiert hat“. Selbst der Deutschland-Repräsentant des UN-Flüchtlingswerks UNHCR, Dominik Bartsch, sagte, er „verurteile den Angriff auf die Polizisten scharf“. Die dpa schrieb um 08.24 Uhr, es seien „drei Polizeibeamte leicht verletzt“ worden. Auf Nachfrage der taz erklärte die zuständige dpa-Redakteurin, die Information sei „nicht von der Polizei“, aber „aus Polizeikreisen“ gekommen. Dies war der Stand, den die Öffentlichkeit kannte, als Seehofer an jenem Vormittag seine länger geplante Pressekonferenz gab. Dort stellte er seinen „Masterplan Migration“ vor, dessen Kernpunkt die umstrittenen Ankerzentren sind. Er kam dann schnell auf Ellwangen zu sprechen. Dass die Razzia nötig war, sei „ein Schlag ins Gesicht der rechtstreuen Bevölkerung“, sagte er. Besser hätten die Ereignisse aus Seehofers Sicht wohl kaum zusammenpassen können.
Doch die Behörden haben die Vorgänge wohl deutlich dramatischer dargestellt als sie waren. Später sagte ein Sprecher der Polizei Aalen der taz, es sei lediglich ein Beamter „verletzt“ worden. Dies sei „nicht durch Dritte, ohne Fremdeinwirkung“ geschehen. Von dem Vorwurf der „Angriffe“ und „Gewalt“ war nicht mehr viel übrig. Offenbar um die Massivität des Einsatzes zu rechtfertigen, hatte die Polizei, während dieser lief, erklärt, auch nach Waffen zu suchen. Es habe bei der „aggressiven Ansammlung“ in der Nacht zum Montag „ernst zu nehmende Aussagen“ gegeben, dass man „sich durch Bewaffnung auf die nächste Polizeiaktion vorbereiten wolle“.
Gefunden worden seien jedenfalls „keine Waffen im technischen und nicht-technischen Sinne“. „Gefunden wurden Gegenstände des täglichen Lebens, die auch als Schlagwerkzeuge eingesetzt werden können“, so der Sprecher. Die Äußerung von Baden-Württembergs CDU-Innenminister Thomas Strobl, es „steht im Raum, dass künftige Abschiebungen auch unter dem Einsatz von Waffengewalt durch widerständige Flüchtlinge verhindert werden sollen“, war da allerdings längst von mindestens acht überregionalen Medien verbreitet worden. „Flüchtlinge wollten sich bewaffnen“, berichtete etwa die Welt. Dass bei dem Vorfall am Montag „Polizisten persönlich attackiert worden seien, solche Berichte kenne ich nicht“, sagt der migrationspolitische Sprecher der grünen Landtagsfraktion, Daniel Lede Abal. Es sei eine „kluge Entscheidung“ gewesen, den Einsatz abzubrechen, um zu „deeskalieren“. Doch: „Aus juristischer Sicht ist Nötigung auch eine Form von Gewalt.“
Kurz darauf gingen die Flüchtlinge an die Öffentlichkeit. „Die Medien haben ein Bild von uns als Gewalttäter und Kriminelle gezeichnet“, sagte Mfouapon Alassa aus Kamerun bei einem Aktionstag der Flüchtlinge. Etwa zehn Abschiebungen habe er bislang persönlich mitbekommen, immer mitten in der Nacht. „Aber es war immer friedlich“, sagt Alassa. Bis zu jener Nacht auf den 30. April. „Wir wurden wach durch die Schreie“, sagt er. Im Pyjama sei er auf den Vorplatz getreten. Der Togoer, den die Polizei da abschieben wollte, habe mit Handschellen gefesselt neben dem Polizeiauto gestanden und geschrien. Etwa 40 weitere Bewohner seien, wie Alassa, durch die Schreie geweckt worden, alle im Pyjama oder Trainingsanzug. Die Polizei hatte von etwa 150 Schwarzafrikanern gesprochen, die sich „zusammengerottet“ hätten. Alassa weist diese Zahl entschieden zurück. „Wir haben der Polizei gesagt, sie sollen ihn gehen lassen.“ Es seien „nur Worte“ benutzt worden, sagt er, keine Gewalt. Tatsächlich hätten sich die Beamten etwa fünf Minuten, nachdem er aus dem Haus getreten war, zurückgezogen. „Dabei haben sie nichts weiter gesagt.“ Den Togoer hätten die Beamten in Handschellen gefesselt zurückgelassen. Nach etwa anderthalb Stunden sei ein Angestellter des Lager-Sicherheitsdienstes gekommen. Die Polizisten hätten ihm den Schlüssel für die Handschellen gegeben. „Der Togoer ist dann in sein Zimmer zurückgegangen“, sagt Alassa.
Drei Nächte später seien die Bewohner von einem Lärm „wie eine Bombe, die explodiert ist“, geweckt worden, sagt Alassa. Die Polizei habe in allen Zimmern gleichzeitig die Türen eingeschlagen. Alle seien angeschrien worden, sich mit erhobenen Händen an die Wand zu stellen. Viele dachten, sie würden nun abgeschoben. Als er versuchte, mit seinem Handy einen Anwalt anzurufen, der die Lagerbewohner ehrenamtlich berate, hätte ein Polizist ihm das Telefon aus der Hand geschlagen. Zwei Stunden lang, bis sieben Uhr morgens, hätten die Lagerbewohner mit Kabelbindern gefesselt auf dem Boden liegen müssen, bewacht von Hunden, ohne auf die Toilette gehen zu dürfen. Yussif O. wurde am nächsten Tag mit dem Flugzeug nach Mailand abgeschoben. Engin Sanli, der türkischstämmige Anwalt des Flüchtlings, hatte in Karlsruhe Klage eingereicht und wollte damit die Abschiebung verhindern. Sanli war daraufhin massiv bedroht und beschimpft worden, berichtete die Stuttgarter Zeitung. Er habe Drohanrufe und bis zu 4.000 Hass-Mails am Tag bekommen.
Die Vorwürfe gegen die Flüchtlinge in Ellwangen waren nicht haltbar. Doch immer wieder ist seither von „Gewalt“ durch Flüchtlinge gegen Sicherheitskräfte zu lesen, zuletzt etwa in einer Sammelunterkunft in Deggendorf in Bayern.
Es sind genau diese Art von Nachrichten, die den Tonfall in der Asyldebatte nochmal deutlich verschärften. Nicht von ungefähr legte unmittelbar darauf der CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt nach: Er attackierte Asyl-Anwälte als „aggressive Anti-Abschiebe-Industrie“ — und bekam von vielen Unionspolitikern Zustimmung. Die SPD-Generalsekretärin Andrea Nahles erklärte: „Wir können nicht alle aufnehmen“ — als ob das jemals zur Debatte gestanden hätte. Und auch in dem Positionspapier zur „linken Sammlungsbewegung“ mit dem Arbeitstitel „Fairland“ von Sarah Wagenknecht ist von „großer Verunsicherung“ durch die „Flüchtlingskrise“ die Rede — und davon, dass man Flüchtlingen vor allem „in den Heimatländern“ helfen will.