Tote und Lügen als EU-Agenda
Als am 8. September 2020 auf Lesbos das Elendslager „Moria“ abbrannte, war das Medienecho groß. Über 13.000 Menschen waren jetzt noch obdachloser als zuvor, Tausende mussten im Freien übernachten. Die griechische Polizei schoss mit Tränengasgranaten in die Menge und traf auch Kinder. Die Bilder von Elend und Gewalt ließen Empörung aufkommen, es gab viele Solidaritätsbekundungen. Die Bundesregierung verkündete nach der Katastrophe über 1500 Geflüchtete, hauptsächlich Kinder und Familien, aus Griechenland aufnehmen zu wollen und nannte dies einen „humanitären Akt“.
Das Mitgefühl dauerte fast eine Woche, dann verschwand das Elend wieder aus den Medien. Als beschlossen war, Kinder zu retten, wandten sich Deutschland und Europa in Gewissheit der eigenen moralischen Korrektheit wieder anderen Themen zu. Das griechische Militär errichtete derweil auf Lesbos ein neues „temporäres“ Elendslager „Kara Tepe“ – auf einem ausgedienten militärischen Schießstand. Mit dem ersten Regen überflutete das überfüllte Lager, von echter Infrastruktur kann keine Rede sein. Der erste Coronafall wurde eine Woche vor dem Feuer in Moria gemeldet. Zu diesem Zeitpunkt stand das gesamte Lager bereits seit fast sechs Monaten unter Quarantäne. Ähnlich sieht es in den meisten griechischen Lagern aus.
Am 4. Mai 2020, nach dem ersten Lockdown, lockerte die „liberal-konservative“ Regierung unter Premierminister Kyriakos Mitsotakis die Regelungen wieder, allerdings nur für griechische Bürger_innen. Die Lager sollten vorerst bis zum 21. Mai 2020 im Lockdown bleiben. Diese Quarantäne wurde dann über den gesamten Sommer hinweg immer wieder verlängert, auch ohne positive Fälle.
Mit entmenschlichender Rhetorik stilisiert die griechische Regierung Geflüchtete als Seuchenträger_innen und versucht somit ein rassistisches Gefühl zu befriedigen, das mit der statistischen Realität nichts zu tun hat, allerdings dabei hilft, Kettenquarantänen und ein hartes Vorgehen gegen Geflüchtete zu legitimieren. Der Versuch, die fünf Inseln mit „Aufnahmezentren“ Lesbos, Samos, Chios, Leros und Kos endgültig zu Gefängnisinseln zu machen, scheiterte an der lokalen Bevölkerung. Der Bau neuer Internierungslager wurde sabotiert. Polizisten, Helfer und Geflüchtete wurden angegriffen und potenzielle Unterbringungsorte abgebrannt.
Derzeit harren weiterhin etwa 42.000 Asyl-suchende in „temporären“ Elendslagern auf den Inseln in der Ägäis aus, viele davon bereits jahrelang. Sie alle haben dabei einen lebensgefährlichen Teil ihrer Flucht bereits hinter sich – die Überquerung der europäischen Grenze. Anfang März 2020 öffnete die Türkei ihre Grenze zu Griechenland. 30.000 Menschen versammelten sich an der Landgrenze am Fluss Evros. Geflüchtete versuchten auf die griechische Seite zu gelangen, griechische Grenztruppen antworteten mit Tränengas und Gewalt. Seit 2006 unterstützt Frontex im Zuge der Ägäis-Mission „Operation Poseidon“ an diesem Grenzabschnitt und auf der Ägäis die griechische Grenzpolizei, auch mit deutschen Einheiten. Am 3. März 2020 besuchten die drei EU-Präsident_innen von Kommission, Parlament und Rat die griechisch-türkische Grenze. Die Präsidentin der EU-Kommission Ursula von der Leyen verkündete, Griechenland sei „Europas Schild“ gegen die Eindringlinge und versprach eine zusätzliche Frontex-Eingreiftruppe sowie 700 Millionen Euro für „Migrationsmanagement“.
Am 4. März 2020 wird Muhammad Gulzar von schwer bewaffneten griechischen Grenztruppen erschossen, mindestens sechs weitere Menschen werden von Schüssen verletzt. Die griechische Regierung bestreitet den Vorfall und spricht von „fake news“, jedoch belegen Medienrecherchen im Mai 2020, dass griechische Truppen die tödlichen Schüsse abgegeben haben.
Am 9. Juli 2020 beschwichtigte von der Leyen kritische Europaparlamentarier_innen in einem Brief: Griechenland habe ihr „versichert, keinen Vorfall ausgelöst zu haben“. Da es keinen „Serious Incident Report“ (SIR) gab, der auf solch ein Geschehen hinweise und auch die Frontex-Beamten_innen vor Ort „keinen Gebrauch scharfer Munition der griechischen Strafverfolgungsbehörden beobachtet“ haben, sei Griechenlands Version glaubhaft.
Die sogenannten SIRs sollen als interner Kontrollmechanismus der Frontex das Auftreten von Grundrechtsverletzungenanzeigen und somit die Grundlage für Ermittlungen gegen Tatbeteiligte sicherstellen. Wenn Frontex-Personal Grundrechtsverletzungen beobachtet, müssen sie diese zwingend – in Form eines SIR – an das Frontex Hauptquartier in Warschau melden, so zumindest die Theorie. In der Realität werden SIRs selten benutzt, im gesamten Jahr 2018 gab es laut Frontex nur zehn SIRs, 2019 waren es nur noch fünf.
Am 2. März 2020 verweigerte die Crew eines dänischen Patrouillenbootes, welches 33 Geflüchtete in der Ägäis gerettet hatte, den Befehl der Kommandozentrale der „Operation Poseidon“, die Geretteten wieder in ihr Schlauchboot zu verfrachten und zurück über die Seegrenze zu schleppen. Als die dänische Crew nicht nachgab, da sie das Leben der Geflüchteten in massiver Gefahr sah, wurde der Befehl „angepasst“ und die Geflüchteten an Land in Sicherheit gebracht. Dem vorausgegangen war die Änderung der Aufgaben der Frontex-Schiffe in der Ägäis: Wo vorher Geflüchtete gerettet und an Land gebracht werden sollten, lautet der Befehl nun: Boote aus der Ferne aufzuspüren und der Hellenischen Küstenwache (HCG) zu melden, welche sich dann selbst um die in Seenot Geratenen „kümmert“.
Laut einem dänischen Grenzschützer hat die HCG Befehle, Geflüchtete an der Überquerung der Seegrenze zwischen Griechenland und der Türkei zu hindern. Bei sogenannten „Pushbacks“ werden Boote mit Geflüchteten von der HCG manövrierunfähig gemacht und entweder zurückgeschleppt oder abgetrieben. Dazu fahren Patrouillenschiffe schnell und sehr nah an den oft gefährlich überfüllten Booten vorbei, um sie mit den entstehenden Wellen zurück über die türkische Grenze zu treiben. Diese „Greek Water Polo“ getaufte Praxis gehört 2020 zum Alltag auf der Ägäis. Die makabren, oft tage- und nächtelangen Manöver werden von Nato- und Frontex-Schiffen beobachtet und auch unterstützt. Eine weitere Art des „Pushbacks“ ist das Aufgreifen Geflüchteter an Land, um sie dann in manövrierunfähige Rettungsinseln zu stecken und wieder über die türkische Grenze zu schleppen.
Laut dem Exekutivdirektor von Frontex, Fabrice Leggeri, war der „Pushback“-Befehl an die dänische Crew ein „Missverständnis“. Auch sieht Frontex keinerlei Beweise für „Pushbacks“ in der Region, da intern „keine Dokumente“ dazu gefunden wurden und interne griechische Untersuchungen auch keine Beweise hervorbrachten. Von den eindeutigen Videoaufnahmen und Augenzeugenberichten ist nicht die Rede.
Die EU und Frontex weigern sich, Grundrechtsverletzungen an der EU-Grenze aufzuklären und zu unterbinden, und sie kommen scheinbar damit durch. Es häufen sich Berichte von geheimen griechischen Abschiebelagern in Evros, von paramilitärischen Einheiten, die Geflüchtete schwer misshandeln und wieder über die Grenze schaffen. Ähnliche Berichte kommen aus Kroatien.
Auf dem Meer helfen Frontex-Schiffe der HCG bei gefährlichen „Pushback“ Manövern, die nachweislich Menschenleben kosten. Die Agenda von Frontex und EU ist, „illegale“ Einreisen zu unterbinden. Seit Jahren steckt die EU viel Geld für „Migrationsmanagement“ in Mittelmeerstaaten wie Libyen, die Türkei und auch Griechenland und hilft den örtlichen Küstenwachen mit Trainings und Material.
Wie in der freien Wirtschaft hilft das Outsourcen von Grenzsicherung vor allem dabei, Verantwortung von sich zu schieben. Die „Operation Poseidon“ ist zwar eine Frontex-Mission, sie untersteht aber formal den lokalen griechischen Behörden. Da interne Ermittlungen weder in Griechenland noch bei Frontex unabhängig sind, werden Grundrechtsverletzungen dort wohl ungestraft bleiben.
An der Außengrenze zeigt Europa sein hässliches Gesicht, seine Menschenverachtung und den Willen, mit Intransparenz, Taktieren und Lügen ohne Rücksicht auf Menschenrechte und Menschenleben eine Agenda durchzudrücken.