Verfassungsschutz abschaffen!
Ein Beitrag von Avanti – Projekt undogmatische LinkeAngesichts der ungeheuren Skandale bei der Aufklärung der Mordserie des NSU, dem breiten Versagen der Sicherheitsbehörden, allen voran des Verfassungsschutzes (VS) – vier Chefs mussten schon gehen – , mehren sich Stimmen, die nicht nur die Reformierung, sondern eine Abschaffung des Inlandsgeheimdienstes fordern. Der folgende Artikel schildert kurz den aktuellen Stand der Diskussion, um dann eigene Thesen vorzustellen.
Auf parteipolitischer Ebene fordert einzig Die Linke in ihrem Erfurter Programm die Abschaffung des VS. Der Bundestagsabgeordnete Jan Korte schlägt in einem sechsseitigen Papier konkret den Umbau der Geheimen zu einer Informationsstelle vor. Die SPD, deren (ehemalige) Innenpolitiker zum Teil selbst in den Geheimdienstskandal verstrickt sind, möchte die Dienste behalten und für die JUSOS forderte der Bundesvorsitzende Sascha Vogt allerdings, »ein Verfassungsschutz, der gegen die Demokratie wirkt, muss abgeschafft werden«. Bei den Grünen, bis 1998 noch Verfechter einer schrittweisen Auflösung, erklärt z.B. deren Jugend in Niedersachsen, »Geheimdienste sind in einer Demokratie grundsätzlich fehl am Platz.« Die FDP-Justizministerin Sabine Leutheuser-Schnarrenberger fordert zwar die Abschaffung des Militärischen Abschirmdienstes (MAD), eine ersatzweise Übertragung seiner Aufgaben an den VS und den Bundesnachrichtendienst (BND) klingt allerdings mehr nach einem Bauernopfer. Und die Unionsparteien sind meilenweit von der früheren Forderung des damaligen CSU-Generalsekretärs Erwin Huber entfernt. Er wollte Anfang der 1990er Jahre das VS-Bundesamt stark verkleinern und das Gebäude als Asylbewerberheim nutzen.
Auch in einigen Feuilletons großer Zeitungen wird seit Monaten immer wieder über den Sinn eines unkontrollierbaren, ineffektiven und undemokratischen Geheimdienstes spekuliert. Heribert Prantl stellte in der Süddeutschen Zeitung fest, dass der VS »entweder überflüssig – oder gefährlich ist.« Aber nicht nur in liberalen oder linken Zeitungen, auch im Handelsblatt wird laut darüber nachgedacht und sogar in der FAZ am Sonntag wurde gefordert, »der Verfassungschutz gehört aufgelöst.« Ähnlich wurde der Vorsitzende der Türkischen Gemeinde Kenan Kolat im Stern zitiert.
Allerdings sind nicht alle Forderungen ausgereift oder bergen andere Gefahren – meist durch die Forderung nachrichtendienstliche Arbeit einfach zu verlagern. In ihrer Streitschrift »Nach dem Verfassungsschutz« üben z.B. Claus Leggewie und Horst Meier1
, eine fundierte Kritik am VS, ziehen jedoch die falschen Schlüsse daraus. In der irrigen Annahme, faschistische Ideologie z.B. der NPD und deren propagandistische Funktion, ließe sich von neonazistischen Gewalttaten trennen, lehnen sie nicht nur ein Verbot von Neonaziparteien ab, sondern fordern volle Meinungsfreiheit für diese. Die, im Weltbild der Autoren weitgehend isoliert agierenden, nazistischen Mordbrenner, eine These die eigentlich immer von konservativer Seite vertreten wird, wären eben nur ein Fall für die Polizei. Eine Stärkung der sowieso schon stattfindenden nachrichtendienstlichen Arbeit der Exekutive widerspricht allerdings dem Trennungsgebot von Geheimdiensten und Polizei, als Konsequenz des NS-Regimes. Vor allem unterliegen aber die Staatsschutzabteilungen noch weniger einer demokratischen Kontrolle, da parlamentarische Komissionen hier nicht existieren. Dies machte das jüngste Beispiel des vorbestraften V-Mannes Thomas Starke, der über 10 Jahre für die Berliner Polizei spitzelte und dessen Arbeit von Staatsschutz und zuständigem Minister vor dem NSU-Untersuchungsausschuss verheimlicht wurde, mehr als deutlich.
Die eigenen Thesen zur Diskussion:
1. Der Verfassungsschutz wurde 1950 als Inlandsgeheimdienst mit primär antikommunistischer Ausrichtung gegründet. Nicht die Überwachung und Zurückdrängung faschistischer Kontinuitäten in Politik, Verwaltung, Wirtschaft, Justiz und Gesellschaft standen in erster Linie auf der politischen Agenda, sondern die Systemkonkurrenz mit dem Ostblock.
2. Folgerichtig wurden die Sicherheitsbehörden, auch der VS, gerne mit bewährten AntikommunistInnen besetzt, die sich in der Materie auskannten: Ehemalige Angehörige aus den NS-Organisationen SS, Sicherheitsdienst (SD), Reichssicherheitshauptamt (RSHA), Geheimer Staatspolizei (Gestapo) usw. Sie sorgten nicht nur für konsequente Verfolgung von tatsächlichen und angeblichen KommunistInnen, sondern schützten ihre ehemaligen KameradInnen und neofaschistische Nachfolgeorganisationen.
3. Die KommunistInnen-Verfolgung der frühen BRD, das KPD-Verbot 1956, die Verfolgung von der Außerparlamentarischen Opposition (APO), K-Gruppen und Anfangs den Grünen sind historisch nicht vergleichbar mit dem Verbot der Sozialistischen Reichspartei (SRP) 1952 sowie der Verfolgung von NPD und Neonazis.
4. Die von den VS-Ämtern unterstützten Berufsverbote, in deren Verlauf 1,5 Millionen Menschen überprüft wurden und von denen 20.000 Betroffene erniedrigende Anhörungen über sich ergehen lassen mussten sowie Tausenden eine berufliche Zukunft versagt wurde, verdächtigten eine ganze Generation von Linken, Intellektuellen und DemokratInnen.
5. Heute dient der VS vor allem der CDU im Bund und in den von ihr geführten Ländern als politisches Kampfinstrument gegen links. Die Bespitzelung von Abgeordneten der Linken und vereinzelt immer noch der Grünen dient ausschließlich ihrem »hochoffiziellem Verruf« und macht die Unabhängigkeit der einzig ihrem Gewissen verpflichteten Abgeordneten zur Farce.
6. Es gibt keine bundeseinheitliche Definition, wer eigentlich »ExtremistIn« sei und wer nicht. Schon gar nicht eine Festschreibung im Gesetz. Wer »ExtremistIn« ist definieren vielmehr die Ämter anhand der weit interpretierbaren Freiheitlich-Demokratischen Grundordnung (FDGO) selbst. In fast allen Ländern gilt z.B. die Scientology Church als extremistisch, in Schleswig-Holstein nicht. Allenfalls durch langjährige Klagen vor dem Bundesverfassungsgericht ist eventuell eine Streichung aus den Geheimdienstberichten möglich. Mit der Extremismusdefinition schafft sich der VS auch selbst eine Existenzgrundlage.
7. Die auf die FDGO rekurrierende Extremismus-Doktrin ist die innenpolitische Entsprechung der Totalitarismus-Theorie, nach der sich Faschismus und Sozialismus an beiden Enden der politischen Skala gleichen würden. Sie setzt Neonazis und ihre GegnerInnen gleich, verklärt die Mitte der Gesellschaft als Ideal und negiert deren Rassismus.
8. Die jährlichen VS-Berichte geben an Informationen lediglich wieder, was engagierte JournalistInnen, WissenschaftlerInnen und AntifaschistInnen sowieso, meistens sogar besser, wissen. Eine wissenschaftliche, quellenkritische Nachprüfbarkeit der Arbeit des Dienstes ist nicht möglich. Verweise fehlen grundsätzlich und im Zweifelsfall wird sich auf die Geheimhaltungspflichten berufen.
9. Eine demokratische Kontrolle ist ebenfalls nicht möglich. Die Parlamentarischen Kontrollkommissionen bleiben ebenfalls unüberprüfbar, weil die Mitglieder der Geheimhaltung bis zum Lebensende verpflichtet sind. Mehr als die Hälfte aller parlamentarischen Untersuchungsausschüsse in der Geschichte der BRD befassten sich mit Geheimdienst-Skandalen. Auch diese Ausschüsse sind mit wenig Macht ausgestattet. In kritischen Situationen erteilten oftmals die eigentlich für Aufklärung zuständigen MinisterInnen – als oberste Dienstherren – den Geheimen keine Aussagegenehmigung oder verhinderten die Veröffentlichung von Dokumenten.
10. Der Inlandsgeheimdienst hat auch als Frühwarnsystem versagt. Neonazistische Anschläge seit 1989 mit über 180 Toten, die islamistische Hamburger Zelle um Mohammed Atta und der NSU sind nur einige Beispiele. Insbesondere für spezifisch nachrichtendienstliche Maßnahmen wie technische Überwachung von Telefon, Internet, Post, das V-Leute-System usw. gibt es keinerlei Validierung bezüglich des Erfolges. Ihre Unverzichtbarkeit für die Innere Sicherheit bleibt damit eine bloße Behauptung.
11. An Skandalen sind die Inlandsgeheimdienste hingegen reich, der NSU-Skandal war nur einer von vielen. Peter Urbach, Ulrich Schmücker, Celler-Loch und ein gescheitertes NPD-Verbot sind weitere Schlagworte, die mit Skandalen des Inlandsgeheimdienstes verbunden sind. Befriedigende Aufklärung gab es in den seltensten Fällen. Stattdessen war meist eher eine Ausweitung der Befugnisse der Dienste oder ihre Konzentration in der Folge zu beobachten. Diese Entwicklung zeichnet sich auch mit dem »Gemeinsamen Abwehrzentrum Rechtsextremismus« und der diskutierten Zentralisierung der geheimdienstlichen Arbeit beim Bundesamt als Konsequenz des NSU-Skandals ab.
12. Um diese Entwicklung voran zu treiben und von den eigentlichen Problemen wie Intransparenz, fehlender Kontrolle, politischem Missbrauch und Ineffektivität abzulenken, wurden und werden die VS-Skandale gezielt genutzt, um Ängste in der Bevölkerung vor »extremistischen Bedrohungen« zu erzeugen. So wird paradoxerweise die neonazistische Gefahr, die durch den NSU-Skandal offensichtlich wurde, genutzt, um eine zentrale rechte Forderung umzusetzen: Statt der Stärkung antifaschistischen und zivilgesellschaftlichen Engagements erfolgt die Stärkung des autoritären Sicherheitsstaates.
13. Von Rechtfertigungsnot für seine Existenz getrieben dringen Geheimdienste auch immer mehr in Aufgabenfelder ein, die mit geheimdienstlicher Tätigkeit rein gar nicht zu tun haben. Zunehmende Verquickung mit Wissenschaft, Medien und Bildung sind zu beobachten. Undemokratische und unkontrollierbare Praktiken werden hier gleich mit übernommen. Fehlende wissenschaftliche Arbeitsweise oder pädagogische Ausbildung der Geheimen spielen keine Rolle.
14. Tatsächliche Gefahrenabwehr und Verfolgung von (neofaschistischer) Kriminalität ist in anderen westlichen Ländern und eigentlich auch in Deutschland Aufgabe der Polizei, also der Exekutive. Wenn dieses auch für Deutschland eingefordert wird, ist zu bedenken, dass der polizeiliche Staatsschutz noch weniger als der Inlandsgeheimdienst einer demokratischen Kontrolle unterworfen ist. Durch die bloße Verlagerung nachrichtendienstlicher Arbeit in die Polizei droht die Schaffung einer Gestapo-ähnlichen Geheimpolizei.
15. Eine Bekämpfung von Neofaschismus und Rassismus ist und bleibt Aufgabe der Zivilgesellschaft. Die Grundlage dafür bilden weder Geheimdienste, andere Sicherheitsbehörden noch Extremismus-Definitionen, sondern könnten (auch) entsprechende antirassistische und antifaschistische Artikel im Grundgesetz bzw. entsprechende Gesetze im Zivil- und Strafrecht sein. Hier ist besonders auf den Artikel 139 Grundgesetz, als Konsequenz des mörderischen Nationalsozialismus, zu verweisen. Dieser Artikel bestätigt die fortdauernde Gültigkeit der alliierten Kontrollratsgesetze nach Kriegsende bis heute und die damit begonnene, von der BRD jedoch bald abgebrochene, Entnazifizierung. Dieser Artikel bietet auch eine wesentlich bessere Grundlage für die Bekämpfung und das Verbot von neonazistischen Gruppierungen, als eine breit interpretierbare, totalitarismustheoretisch geleitete FDGO.
- 1Claus Leggewie ist Politikwissenschaftler und Direktor des kulturwissenschaftlichen Instituts in Essen. Horst Meier ist freier Publizist und Rechtstheoretiker.