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Das Massaker von Maillé

Karl Siegel
Einleitung

Am 25. August 2014 hat sich zum 70. Mal der Tag gejährt, an dem Angehörige der Waffen-SS im Verbund mit Soldaten einer Wehrmachtseinheit ein Massaker in dem südlich von Tours gelegenen französischen Dorf Maillé (Département Indré-et-Loire) verübten. Mit einer feierlichen Zeremonie wurde an diesem Tag der Ermordeten Gedacht. Neben den hochbetagten Überlebenden und Angehörigen der Opfer nahmen auch hochdekorierte ehemalige Resistance-Kämpfer an der Gedenkfeier teil.

Bild: Karl Siegel

Gedenkstein am Massengrab auf dem Friedhof von Maillé.

Das Massaker von Maillé ist nach Oradour-sur-Glane (Département Haute-Vienne) das größte Verbrechen, das von deutschen Truppen an der französischen Zivilbevölkerung im Rahmen der sogenannten Partisanenbekämpfung begangen wurde. Es fand acht Monate vor dem Ende des 2. Weltkrieges statt, und zwar genau an dem Sommertag im August 1944, an dem in Paris die Trikolore auf dem Triumphbogen gehisst und die Befreiung von der über vier Jahre andauernden deutschen Besatzung gefeiert wurde.

Während die Verbrechen an der Bevölkerung von Oradour-sur-Glane über Frankreichs Grenzen hinweg im Gedächtnis bewahrt wurden, blieben die von Maillé über Jahrzehnte vergessen und nur noch lokal bekannt. Erst mit der Einrichtung eines „Maison du Souvenir“ (Haus der Erinnerung) am 50. Jahrestag fand Maillé einen Zugang in das Bewusstsein der französischen Öffentlichkeit. Über die Grenzen Frankreichs hinaus wurde Maillé jedoch erst  2008 wahrgenommen, als mit Nicolas Sarkozy ein Staatspräsident an der jährlichen Gedenkfeier teilnahm.

„Repressalmaßnahmen“

Mit der Invasion der alliierten Truppen in der Normandie (D-Day, 6. Juni 1944) lag das 250-Seelen-Dorf Maillé nicht nur an einem strategisch bedeutsamen Punkt der Eisenbahnstrecke Paris-Bordeaux, sondern auch an einer für den deutschen Nachschub wichtigen Durchgangsstraße. Sie führte von Poitiers nach Tours und war in umgekehrter Richtung dem Truppenrückzug vorbehalten. Die lokale Résistance hatte sich in diesem Gebiet bereits mehrfach bemerkbar gemacht und schon Wochen vor dem Massaker versucht, die deutschen Nachschub- und Rückzugrouten im Rücken der etwa 40 Kilometer entfernten Front zu unterbrechen. Der eigentliche Auslöser für das Massaker dürfte aber ein „Partisanenangriff“ gewesen sein, der am Vorabend des Geschehens gegen zwei Fahrzeuge der deutschen Besatzer geführt wurde. Die Fahrzeuge befanden sich auf Erkundungsfahrt, als sie bei Maillé in einen Hinterhalt der FFI (Forces françaises de l'intérieur) gerieten.1

Dabei wurden zwei Männer unbekannter Identität verwundet, einer davon tödlich. Blutdurchtränkte Uniformteile mit Totenkopfabzeichen, die in der Nähe gefunden wurden, legen den Schluss nahe, dass dieser der SS zugehörig war. Ein weiterer Fahrzeuginsasse kam mit kleinen Blessuren davon, hierbei soll es sich um Gustav Schlüter, den Stützpunktkommandanten der nahe gelegenen Ortschaft Sainte-Maure, gehandelt haben.

Der Kampfkommandant von Tours, Alfred Stenger, der über alle deutschen Einheiten in der Region die Verfügungsgewalt hatte, ermächtigte daraufhin Schlüter gegen Maillé mit „Repressalmaßnahmen“ vorzugehen. Schlüter bekam zwei Flak-Geschütze, Transportmittel und zusätzliche Truppen, darunter Männer der Waffen-SS, zugewiesen.

Bis in die Nacht wurden Vorbereitungen zur Auslöschung des Dorfes getroffen. Die eingesetzten SS-Männer und Soldaten handelten offenbar weisungsgemäß, als sie am nächsten morgen ein Blutbad unfassbaren Ausmaßes anrichteten. 124 Menschen starben, darunter 42 Frauen und 44 Kinder. Ganze Familien wurden ausgelöscht, Häuser brannten aus. Das Morden erfolgte „von Angesicht zu Ansicht“ und dauerte mehrere Stunden. Das jüngste Opfer war sechs Monate alt und starb durch einen Nackenschuss, das älteste Opfer, eine 89-jährige Frau, wurde mit einen Schuss in den Kopf getötet, der durch den Mund erfolgte und die Schädeldecke aufsprengte.

Nur wenigen Dorfbewohnern gelang es sich zwischen den Leichen tot zu stellen, da diese mit Phosphor-Brandsätzen versehen wurden.2 Erst um die Mittagszeit wurde das Gemetzel beendet. Die deutschen Truppen zogen sich zurück und hinterließen drei Zettel mit der Warnung (in fehlerhaftem französisch): "C´ est la punission des terroristes et leurs assistents" ("Das ist die Bestrafung der Terroristen und ihrer Helfershelfer"). Damit war die "Strafaktion" aber noch nicht beendet und der faschistische Vernichtungswille noch nicht vollends befriedigt. Gegen 14 Uhr begann die Beschießung des Ortes mit einem Flak-Geschütz, das auf einer 1500 Meter entfernten Hochebene in Stellung gebracht wurde und alle Häuser anvisierte, die noch nicht in Brand geraten waren. Das zweite Geschütz konnte nicht mehr eingesetzt werden, da es bereits von britischen Kampfflugzeugen außer Gefecht gesetzt worden war. 

Die Haupttätereinheit

Neben den deutschen Sperrverbänden, die entlang der Loire aufgestellt waren, befand sich zum Zeitpunkt des Massakers keine andere Einheit der Waffen-SS in der Gegend um Tours, als das in Châtellerault (etwa 30 km südlich von Maillé) stationierte SS-Feldersatzbataillon 17. Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit waren die SS-Männer, die in Maillé die Gräueltaten an der Dorfbevölkerung verübten, diesem Bataillon zugehörig. Bei dem SS-Feldersatzbataillon 17 handelte es sich um eine in die 17. SS-Panzer-Grenadier-Division „Götz von Berlichingen“ eingegliederte Formation, die aus sehr jungen Männern mit geringer Kampferfahrung bestand und für den personalen Ersatz der Division eigentlich zuständig war. Aufgrund fehlender „Sicherungskräfte“ wurde das SS-Feldersatzbataillon 17 jedoch der Feldkommandantur in Portiers unterstellt und bis Ende August 1944 zur "Partisanen-bekämpfung" herangezogen. Die Kampfgruppen der 17. SS-Panzer-Grenadier-Division „Götz von Berlichingen“ sind bereits zu Beginn der Operation Overlord - der Landung der alliierten Truppen - in die Normandie verlegt und dort an den Abwehr- und Rückzugsgefechten der faschistischen Verbände beteiligt worden.

Es gilt heute als gesichert, dass das Massaker in Maillé von zwei unterschiedlichen Einheiten verübt wurde. Während die Soldaten des beteiligten Wehrmachtstrupps als „Sperrgruppe“ fungierten, die den Ort abzuriegeln und Fluchtversuche zu verhindern hatten, bildeten die Männer des SS-Feldersatzbataillons17 die Tätereinheit, die als „Stoßgruppe“ in das Dorf eindrang und alles niedermetzelte was sich ihr in den Weg stellte. Verschiedenen Augenzeugenberichten zufolge sollen die Wehrmachtssoldaten bei dieser „Strafaktion“ eher „gemäßigt" vorgegangen sein, die SS-Männer dagegen mit äußerster Brutalität. Diese trugen Tarnuniformen und waren schon dadurch von den feldgrauuniformierten Wehrmachtsangehörigen zu unterscheiden.3

Von militärhistorischer Seite wird die Ansicht vertreten, dass Maillé gut in „das Muster der deutschen Partisanenbekämpfung in Frankreich von 1944“ passt: „Immer wenn Frauen und Kinder ermordet wurden, stammten die Schuldigen aus den Reihen der Waffen-SS“ (Peter Lieb). Es sollte allerdings nicht vergessen werden, dass sowohl der befehlsgebende Oberstleutnant Alfred Stenger wie auch der mit der „Vergeltungsmaßnahme“ beauftragte Leutnant Gustav Schlüter als verantwortliche Offiziere im Dienst der Wehrmacht standen.4

Das von dem SS-Feldersatzbataillon 17 in Maillé verübte Massaker ist nicht das einzige Verbrechen, das ein Truppenteil der 17. SS-Panzer-Grenadier-Division „Götz von Berlichingen“ begangen hat. Ein weiterer Fall hat sich in der Normandie, in Graignes (Département Manche), ereignet, wo Dorfbewohner verwundete amerikanische Fallschirmjäger versorgt hatten. Nachdem ein Bataillon der 17. SS-Panzer-Grenadier-Division „Götz von Berlichingen“ Graignes am 12.06.1944 kurzfristig zurück erobert hatte, brannten die SS-Männer den Ort nieder und erschossen 20 amerikanische Gefangene sowie zwei katholische Kleriker.

Der 17. SS-Panzer-Grenadier-Division „Götz von Berlichingen“ sind auch Morde an Personen im Reichsgebiet anzulasten, die in den letzten Kriegswochen versuchten eine kampflose Übergabe ihrer Heimatorte an alliierte Truppen zu erreichen. In der Gemeinde Burgthann haben Divisionsangehörige die Erschießung des Bürgermeisters standgerichtlich durchgeführt, weil er, aufgefordert durch anrückende US-Truppen, weiße Fahnen als Zeichen der Kapitulation hissen ließ. Die Hinrichtung erfolgte nach dem sogenannten Flaggenbefehl, der die Deutschen zum Widerstand und Durchhalten um jeden Preis verpflichten sollte.5   Außerdem wird dieser SS-Division die Erschießung von Überläufern und von versprengten KZ-Häftlingen in Ellwangen angelastet. Des Weiteren wird ihr die Misshandlung von Parlamentären und Zivilisten unmittelbar vor Kriegsende zur Last gelegt.

Traditionspflege

Ungerührt von diesen juristisch weitgehend folgenlos gebliebenen Verbrechen trafen sich ehemalige Angehörige der 17. SS-Panzer-Grenadier-Division „Götz von Berlichingen“ bis weit in die 1980er Jahre hinein regelmäßig an einem Gedenkstein, der ihren toten Kameraden zu Ehren errichtet wurde. Dieser befand sich bis zum Frühjahr 2014 in Jagsthausen (Landkreis Heilbronn), etwa 100 Meter oberhalb der Burg Jagsthausen, dem Stammsitz von Götz Freiherr von Berlichingen. Der Gedenkstein war mit dem Emblem der „eisernen Faust“ versehen und trug die Inschrift: UNSEREN KAMERADEN, 17. PZ. GREN. DIV. „GÖTZ von BERLICHINGEN“. Bei den von der Truppenkameradschaft der ehemaligen 17. SS-Panzergrenadier-Division "Götz von Berlichingen" initiierten Gedenktreffen wurden, von der Öffentlichkeit nahezu unbemerkt, geschichtsrevisionistische Statements zelebriert, die stets der Losung folgten „Meine Ehre heißt Treue“. Offenbar hat dieser Wahlspruch im Bewusstsein der SS-Veteranen eine mindestens so tiefe Prägung hinterlassen, wie im einstigen Koppelschloss.

Dass an dem Gedenkstein, der sich in unmittelbarer Nachbarschaft zur "Gedächtnisstätte der Kriegstoten" der Gemeinde Jagsthausen befand und dort sorgsam umfriedet wurde, Treffen von Alt- und Neonazis bis in die Gegenwart stattfanden, war mangels kritischer Berichterstattung nur an gelegentlich aufgefrischten Trauerbouquets und Gedenkschleifen vor Ort ersichtlich. Erst nachdem eine lokale Wochenzeitung Anfang des Jahres darauf aufmerksam gemacht hat, ist der Gedenkstein entfernt worden. Die Huldigungen am Gedenkstein erfolgten selbst noch zu der Zeit, als der ehemalige Bundespräsident Roman Herzog sein Domizil in die unmittelbar angrenzende Götzenburg verlegt hatte.6

Quellen und Literatur:

Didier Arnaud, Das vergessene Dorf Maillé
Aus: Liberation (Paris), 24. August 2004, S. 11.
Übersetzung aus dem Französischen von Leonora Plener
in UTOPIE kreativ, Heft 175, Mai 2005, S. 396-398

Peter Lieb, Konventioneller Krieg oder NS-Weltanschauungskrieg
Kriegführung und Partisanenbekämpfung in Frankreich 1943/44.
Dissertation, Ludwig-Maximilians-Universität München 2005

17. SS-Panzergrenadier-Division "Götz von Berlichingen"
Kriegstagebuch vom 30. Oktober 1943 bis 6. Mai 1945
Hrsg.: Max Wind/Helmut Günther, 2. verb. Aufl., München 1998

  • 1FFI (Forces françaises de l'intérieur) = Truppen der französischen Widerstandsbewegung, denen der kommunistische Widerstand der FTP (Francs-Tireurs et Partisans) offiziell nicht angehörte. Bei dem geringfügig Blessierten soll es sich um den Wehrmachtsleutnant Gustav Schlüter gehandelt haben. Dieser wurde unmittelbar nach dem Überfall der FFI zur Durchführung von „Repressalmaßnahmen“ gegen Maillé ermächtigt.
  • 2Siehe hierzu: Interviews zum Massaker von Maillé mit dem französischen Historiker Sébastien Chevereau und dem deutschen Staatsanwalt Andreas Brendel bei arte.tv.
  • 3Bezüglich der personalen Zusammensetzung der als „Sperrgruppe“ eingesetzten Wehrmachtseinheit bleibt die militärhistorische Forschung etwas vage. Es wird vermutet, dass die Soldaten aus den Gruppierungen der Sicherungsregimenter 196 und 197 kamen, welche sich zum Tatzeitpunkt im weiteren Umkreis von Maillé aufgehalten haben.
  • 4Gegen Schlüter ist 1952 von einem französischen Militärgericht das Todesurteil in Abwesenheit ausgesprochen worden. Nach damals geltender Fassung des Grundgesetzes durfte aber kein Deutscher an das Ausland ausgeliefert werden. Schlüter starb 1965 unbehelligt in Hamburg.
  • 5Der berüchtigte Flaggenbefehl wurde am 3.04.1945 von Heinrich Himmler erlassenen, demzufolge waren alle männlichen Bewohner eines Hauses, aus dem eine weiße Fahne hing, zu erschießen.
  • 6Diesem Gedenkkult bezüglich hat sich der Ex-Bundespräsident Roman Herzog, der als Ehemann der Freifrau Alexandra von Berlichingen in der Jagsthausener Götzenburg lebt, einer Stellungnahme stets verweigert. Hatte er sich in seiner Amtszeit doch um die Einführung eines Gedenktags für die Opfer des Nationalsozialismus bemüht – wohl kaum um ein Gedenken für die Täter der Waffen-SS.