„Jetzt wird reiner Tisch gemacht“
Yves MüllerRöhm, du bist verhaftet!“, soll Adolf Hitler gerufen haben. Am 30. Juni 1934, morgens um 6.30 Uhr, wurde SA-Stabschef Ernst Röhm im bayerischen Bad Wiessee aus dem Bett heraus verhaftet. Unter Vorwand bestellte der „Führer“ sämtliche Obergruppenführer, Gruppenführer und Inspekteure der nationalsozialistischen „Sturmabteilung“ (SA) dorthin, um die Parteiarmee auf einen Schlag zu enthaupten. Röhm und seine Entourage wurden ins Münchner Gefängnis Stadelheim gebracht und größtenteils tagsdarauf erschossen.
Noch am Abend des 1. Juli erklärte Joseph Goebbels in einer Rundfunkansprache: „Jetzt wird reiner Tisch gemacht (...) Pestherde, Korruptionsherde, Krankheitssymptome moralischer Verwilderung, die sich im öffentlichen Leben zeigen, werden ausgebrannt, und zwar bis aufs Fleisch.“ Damit spielte der Propagandaminister nicht nur auf die Ambitionen der SA an, sich als „Staat im Staate“ zu etablieren. Auch die Homosexualität einiger SA-Führer, darunter Röhm selbst, war der NS-Führung inzwischen zunehmend unangenehm. Unter dem Codewort „Kolibri“ verhafteten SS und Gestapo zwischen dem 30. Juni und 2. Juli – angeblich um einen Putschversuch zu vereiteln – neben Konservativen wie Kurt von Schleicher und Edgar Julius Jung sowie anderen missliebig gewordenen Personen, unter ihnen der in Ungnade gefallene ehemalige NSDAP-Funktionär Gregor Strasser, auch dutzende SA-Führer und ermordeten vermutlich etwa 200 von ihnen. Nachträglich ließ Hitler die Morde als „Staatsnotwehr“ legalisieren.
Während die Forschung über die Vorgeschichte und den Verlauf der sog. Röhm-Krise vieles zu berichten weiß, sind regionale Besonderheiten, die Rolle persönlicher Konflikte und alter Rechnungen weniger bekannt. Insbesondere die Auswirkungen auf das weitere Dasein der SA finden bisher zu wenig Beachtung. Dabei lässt sich gerade hieran der polykratische Charakter des sich konsolidierenden NS-Regimes aufzeigen. So kam es in verscheidenen Gauen zu massiven Auseinandersetzungen zwischen den NSDAP-Gauleitern und der SA. Im Zuge der Röhm-Krise konnten erstere die Schwäche der SA nutzen, um sie regional von ihren Posten zu verdrängen.
Machtkampf in Sachsen
Von den Verhaftungen waren beispielsweise etliche sächsische SA-Führer betroffen: Der Gruppenführer und Leiter des Politischen Amtes der Obersten SA-Führung (OSAF) und zuvor Führer der SA-Gruppe Sachsen, Georg von Detten, wurde vermutlich am 2. Juli in der ehemaligen Hauptkadettenanstalt in Berlin-Lichterfelde, seit 1933 Sitz der Leibstandarte-SS Adolf Hitler, erschossen. Sein Nachfolger in Sachsen, Hans Hayn, entging der Mordwelle ebensowenig und wurde am 30. Juni 1934 in München erschossen, während einige SA-Führer aus seinem Stab sowie der Dresdner Brigade 33 verhaftet wurden. Auch etliche regionale SA-Führer überlebten die Mordaktion nicht, wie Kurt Mosert aus Torgau, der in das „frühe“ Konzentrationslager Lichtenburg eingeliefert wurde und starb.
Der SA-Obergruppen- und ehemalige Freikorpsführer Manfred von Killinger, Führer der SA-Gruppe Mitte und am 6. Mai 1933 zum sächsischen Ministerpräsidenten ernannt, entkam nur knapp der Mordwelle. Von Killinger wurde noch bei seiner Anreise nach Bad Wiessee am Münchner Bahnhof festgenommen. Zwar ließ man ihn am Leben, doch wurde er nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis bei seiner Rückkehr nach Dresden am 1. Juli erneut verhaftet und ins Konzentrationslager Hohnstein verbracht. Schließlich verlor Killinger seinen Posten als Ministerpräsident. Bis zu seiner Entmachtung im Zuge der Röhm-Krise vermochte er es, die Rolle der sächsischen SA gegenüber der Parteiorganisation im Staatsapparat zu festigen. Gleichwohl schwelte seit der Machtübernahme der Konflikt mit dem ebenso um Einfluss ringenden Gauleiter Martin Mutschmann. Auch das Machtgerangel zwischen der SA auf der einen sowie Reichswehr und SS auf der anderen Seite, fand im Freistaat Sachsen seinen Niederschlag. Die SS bemühte sich erfolgreich um die Führungsrolle im Dresdner Geheimen Staatspolizeiamt sowie dessen Herauslösung aus der Landesverwaltung zum Zwecke der Verreichlichung und zog sich damit den Unmut der sächsischen SA-Führung zu. Die Macht des Gauleiters Martin Mutschmann glich nun auf regionaler Ebene einer Alleinherrschaft. Er hatte bereits die Ämter des Gauleiters, des Reichsstatthalters und seit 1935 auch des Ministerpräsidenten inne. Die Macht Mutschmanns war auch im reichsweiten Vergleich relativ einmalig und blieb bis zum Mai 1945 erhalten.
„Säuberungen“ auch in Westfalen
Auch in der mit über 400 000 SA-Männern größten SA-Obergruppe X (Westfalen-Niederrhein) schwelte ein Machtkampf, wenn auch kaum mit entsprechend mörderischen Folgen wie andernorts:
Von den Verhaftungen blieb Obergruppenführer Wilhelm Schepmann verschont. Dennoch erhob das Oberste Parteigericht der NSDAP noch 1934 Anklage: Schepmann soll in seiner Funktion als Dortmunder Polizeipräsident und SA-Führer „[f]ortgesetzt in unerhörter Weise gegen die politische Leitung insbesondere gegen die Gauleitung Westfalen in der Zeit vor dem 30. Juni 34 Stellung genommen [...] haben“. Man warf ihm nichts Geringeres als die direkte Beteiligung an einem Komplott der SA gegen den „Führer“ vor. So soll er die Bewaffnung der SA geplant sowie Disziplinlosigkeiten, Ausschreitungen und „Stimmungsmache“ in der SA geduldet haben; außerdem solle er am Nachmittag des 30. Juni 1934 die SA in Alarmbereitschaft versetzt haben. Offenbar war Schepmann in Kompetenzgerangel mit dem westfälischen Gauleiter Josef Wagner geraten, „der dauernd das Blaue vom Himmel herunterlügt“ und versuche, „eine Untreue zum Führer zu konstruieren.“ Im April 1935 sprach das Parteigericht Schepmann schließlich frei.
Von der Fehde zur Mordaktion
Weniger Glück hatte Dr. Erwin Villain, Arzt der Köpenicker SA-Standarte in Berlin. Er wurde am 1. Juli 1934 in Berlin-Lichterfelde ermordet. Es liegt nahe, dass er infolge einer privaten Fehde mit dem SS-Standartenarzt Dr. Leonardo Conti ins Visier der SS geriet. Conti und Villain standen offenbar bereits seit ihrer Studienzeit in ständiger Konkurrenz zueinander. Nach der Machtübernahme setzten in der Berliner nationalsozialistischen Ärzteschaft harte Verteilungskämpfe ein, in deren Folge Conti und Villain erneut aneinander gerieten. Weil Conti der Berufung seines Widersachers zur Berliner Ärztekammer nicht zustimmte, forderte ihn Villain zum Säbelduell heraus. Conti lehnte ab und wurde im März 1934 während einer Ärzte-Tagung in einem Münchner Hotel in seinem Zimmer von Villain überfallen. Villain wurde schon damals verhaftet und sollte beim Geheimen Staatspolizeiamt (Gestapa) abgeliefert werden, doch die OSAF schützte ihn vor deren Zugriff. Der Fall schlug hohe Wellen in SA wie SS und beschäftigte nicht nur den preußischen Ministerpräsidenten Hermann Göring, sondern auch Reichsführer-SS Heinrich Himmler.
„Veteranenorganisation“ oder Reservearmee im Schatten des Regimes oder...
Nicht nur war die SA mit ihrer Forderung einer „zweiten Revolution“ und ihren Ambitionen, der Reichswehr die Hoheit über die Landesverteidigung streitig zu machen, zu einem ernstzunehmenden Problem geworden. Auch verstanden die marodierenden SA-Trupps nicht, „daß sie nach abgeschlossener ‚Machtergreifung’ mit denselben Taten, die ihnen zuvor als ‚Verdienste um die Bewegung’ hoch angerechnet worden waren, nun angeblich dem Nationalsozialismus Schaden zufügten.“ Nützte die SA der „Bewegung“ in der „Kampfzeit“ wegen ihres anti-bürgerlichen Habitus, so stellte gerade diese soziale Hexis für den staatstragenden Nationalsozialismus ein Problem dar.
Noch in den Folgejahren konnte die Denunziation als „Günstling Röhms“ Posten und Parteimitgliedschaft kosten. Die Akten belegen heute dutzende Parteigerichts- und anderer Verfahren gegen SA-Männer wegen verschiedenster Vergehen (Körperverletzung, Korruption usw.), in deren Verlauf schließlich eine geistige Nähe zu Ernst Röhm herbeikonstruiert wurde. Unterschwellig oder ganz offen wurde nicht selten auch eine homosexuelle Betätigung unterstellt und damit die vom Regime gestreute Mär des homosexuellen Männerbundes SA kolportiert. Der ehemalige SA-Obergruppenführer Werner von Fichte zum Beispiel musste noch 1938 ein Verfahren vor dem Obersten Parteigericht wegen Unterschlagung von Parteifinanzen sowie homosexueller Betätigung über sich ergehen lassen, nachdem er bereits im Zuge der Verhaftungswelle vom 30. Juni 1934 in das Konzentrationslager Lichtenburg verbracht und aus Partei und SA ausgeschlossen worden war.
Hitler indes ging nach der euphemistisch so genannten „Nacht der langen Messer“ zur Tagesordnung über. „Kein Wort mehr darüber!“, zitierte ihn sein Leibfotograf Heinrich Hoffmann. Mehr als die Reichswehr profitierte die SS von der Entmachtung der SA. Die Truppe Himmlers wurde aus der SA herausgelöst, der Reichsführer-SS nunmehr Hitler persönlich untergeordnet.
Mit ihrem „Verschwinden“ während der Röhm-Krise verliert sich auch die Spur der weiteren Geschichte der SA. Angeblich hatte die Parteitruppe „nun endgültig ausgedient.“ Und tatsächlich führte sie unter Röhm-Nachfolger Viktor Lutze, der sich offenbar durch seine denunziatorischen Berichte über Äußerungen Röhms bei Hitler für den Job des Stabschefs empfahl, ein Schattendasein.
Trotzdem blieb die Konkurrenz der SA zur SS bestehen: Immer wieder gerieten beide NS-Organisationen aneinander, so beispielsweise bei der Hoheit über den prestigeträchtigen Reitsport. Letztlich hatte die SA das Nachsehen gegenüber einer auch bei internationalen Wettbewerben überaus erfolgreichen Reiter-SS. Lutze – „ein herzensguter Kamerad und prima Nazi“ – echauffierte sich wiederholt über Himmler. Erst der neue SA-Stabschef Schepmann wirkte auf ein harmonisches Einvernehmen der SA bis in die untersten Ränge mit der SS hin. In einer Bekanntmachung der OSAF hieß es, dass während einer Besprechung mit Himmler „[a]lle gelegentlich aufgetauchten Gegensätze“ ausgeräumt werden konnten. Himmler honorierte Schepmanns Bestrebungen ganze zwei Wochen nach Herausgabe des SA-Befehls lediglich mit einer amtsinternen Bekanntmachung und stellte damit nocheinmal die Hierarchie klar.
Indes konnten die nationalsozialistischen Machthaber auf die SA immer wieder aufs Neue zurückgreifen, so u.a. bei den Annexionen Österreichs und des Sudetengebietes, bei den Novemberpogromen 1938, bei den deutschen Aggressionen gegen Polen in Danzig 1939 und dann bei den vielgestaltigen Aufgaben, die der Zweite Weltkrieg sowohl an der sog. Heimatfront als auch der Front selbst stellte. Die SA betätigte sich nicht nur in der Ausbildung von Arbeitskräften in den SA-Berufsschulen, insbesondere für die Rüstungsindustrie – die Verknüpfung von handwerklicher Ausbildung und vormilitärischer Erziehung wurde als vortrefflich geeignet zur „Heranbildung des wehrhaften Facharbeiters“ angesehen. Zehntausende SA-Männer dienten in Kriegshilfsmannschaften und bei der sog. Heimatflak, halfen bei der Evakuierung der Bevölkerung und bei der Verfolgung abgeschossener Flieger des Gegners oder entflohener Zwangsarbeiter_innen.
Ihre Aufgabe sah die SA besonders in der „Wehrerziehungsarbeit“. War der Wehrsport lange vor 1939 zentraler Teil des SA-Alltags, wurden SA-Wehrabzeichen und Wehrwettkämpfe zum konstituierenden Merkmal der vormilitärischen Ausbildung der männlichen Bevölkerung, egal ob SA-Mann oder nicht. Andere NS-Organisationen wie SS oder Hitlerjugend hatten nichts Vergleichbares im Repertoire.
Im Frühjahr 1941 standen nahezu 800.000 SA-Männer in der Wehrmacht. Bis Oktober 1943 galten bereits mehr als 85.000 SA-Angehörige als gefallen. Die Relevanz der SA stellt Rudolf von Elmayer-Vestenbrugg in dem Propagandawerk SA.-Männer im feldgrauen Rock heraus: „Man muß nur begreifen, welch große Bedeutung gerade darin liegt, […] daß es keine Kompanie, keine Batterie, daß es überhaupt keine Einheit unserer Armee gibt, in der nicht auch SA.-Männer stehen.“ Ganze Divisionen setzten sich aus SA-Freiwilligen zusammen: Neben der Panzergrenadier-Division „Feldherrnhalle“ setzten sich auch die 13. Panzer-Division, die 24. Minensuch-Flotille „Karl-Friedrich Brill“, das Fallschirmjäger-Regiment 2 sowie die SS-Panzergrenadier-Division „Horst Wessel“ aus SA-Mitgliedern zusammen. Auch im gegen Kriegsende aufgestellten sog. Volkssturm spielte die SA eine bis dato kaum erforschte Rolle.
So kann der Eindruck einer „Veteranenorganisation“ (Volker Ullrich), nur angesichts ihrer zentralen Rolle während der „Kampfzeit“ entstehen, muss aber im Vergleich zu anderen Massenorganisationen des Dritten Reiches erneut überprüft, wenn nicht gar revidiert werden. Die SA war bis zum Schluss eine der wichtigsten Parteiorganisationen des Nationalsozialismus.