Überwindung des Schweigens
Silke HüneckeErinnerungspolitische Bewegung im spanischen Staat
Die politischen Kräfteverhältnisse zeigen sich in Spanien besonders deutlich im Umgang mit der diktatorischen Vergangenheit. Jahrzehntelang wurde über die Verbrechen während der franquistischen Diktatur (1939—1975) geschwiegen, dies änderte sich erst in den 2000er Jahren vor allem durch Druck von unten. Allerdings ist die Erinnerungspolitik bis heute ein umkämpftes Terrain. Insbesondere die regierende rechts-konservative Partido Popular (PP), die katholische Kirche und die ihnen nahe stehenden Medien stellen sich einer Aufarbeitung entgegen.
Die Aufarbeitung der Diktatur weist noch heute, fast vierzig Jahre nach dem Tod des Diktators Francisco Franco 1975, unglaublich viele Leerstellen auf. Ein zentraler Grund dafür ist der fehlende offene Bruch mit dem Franquismus. Nach 1975 kam es zu einem paktierten Übergang von der Diktatur in eine parlamentarische Monarchie, der von allen parteipolitischen Kräften1
mitgetragen wurde. Teil dieses Paktes war eine Einigung darüber, die ‚Vergangenheit ruhen zu lassen und den Blick nach vorne zu richten’. Die Generalamnestie von 1977 war die einzige erinnerungspolitische Maßnahme, galt jedoch für Opfer und Täter/innen gleichermaßen. So konnten franquistische Kräfte weiter in allen gesellschaftlichen Positionen bleiben. Exemplarisch dafür steht der ehemalige Propagandaminister Manuel Fraga, der 1976 zusammen mit 12 von 19 Kabinettsmitgliedern der letzten franquistischen Regierung die Alianza Popular (AP), den Vorläufer der heutigen PP, gründete. Während sich die Franquist/innen in der ‚neuen’ Gesellschaft ‚neu’ einrichteten, brach der breite antifranquistische Widerstand spätestens nach dem Militärputschversuch von 1981 zusammen. Viele Aktivist*innen wendeten sich enttäuscht über den fehlenden Bruch mit der Diktatur und dem Verhalten der eigenen Parteien wie der Partido Socialista Obrero Español (PSOE) und der Partido Comunista de España (PCE) von der Politik ab. Vor diesem Hintergrund wurde fast ein Vierteljahrhundert über die II. Republik, den Spanischen Bürgerkrieg und die Diktatur geschwiegen.
Auslöser für die Entstehung des movimiento memorialista (Erinnerungsbewegung) und die Überwindung des Schweigens war die Suche des Journalisten Emilio Silva nach seinem verschwundenen Großvater und die erste öffentliche Exhumierung eines anonymen Massengrabes von Verschwundenen. Spanienweit begannen Angehörige jetzt nach ihren Verschwundenen zu suchen und dafür Vereine zu gründen. Viele von ihnen nannten sich nach dem Verein von Silva auch „Asociación para la Recuperación de la Memoria Historica“ (ARMH). Langsam entstand eine Soziale Bewegung, die sich aus verschiedenen Kollektiven, Vereinen und Organisationen zusammensetzt. Zentrale Akteure sind die ARMH-Vereine, ihr Anliegen ist vor allem persönlich-familiär geprägt und entsprechend greifen sie in ihrem Diskurs stark auf die Allgemeinen Menschenrechte zurück. Demgegenüber steht das Foro por la Memoria2
, welches von PCE-Mitgliedern 2002 gegründet wurde und sich als linke Organisation begreift. Ein wichtiger Aspekt ihrer Arbeit ist die Sichtbarmachung von Widerstandsgeschichten. Bereits vor 2000 gab es einige erinnerungspolitische Vereine. Diese waren jedoch dermaßen marginalisiert, dass noch nicht von einer Sozialen Bewegung gesprochen werden konnte. Als Pioniere der Bewegung können die bereits zum Teil noch während des Franquismus als klandestine Gruppen entstandenen Vereine der ehemaligen politischen Gefangenen angesehen werden. Diese kämpfen noch heute für die Rechte und Anerkennung von Gefangenen. In den 1990er Jahren entstanden aus linken Strukturen wie beispielsweise der anarchosyndikalistischen Confederación General del Trabajo (CGT) heraus Vereine, deren Anliegen die Aufarbeitung der eigenen linken Historie waren. Neu sind die von Betroffenen in den 2010ern gegründeten Vereine, die sich explizit dem Problem der geraubten Kinder stellen, wie die Asociación Nacional de Afectados por las Adopciones Irregulares.
Auf vielfältige Weise setzen die vielen Vereine ihre erinnerungspolitische Arbeit um. Neben der Verschwundenenproblematik geht es um die (Re-)Konstruktion anderer Verbrechen wie Verfolgung, Stigmatisierung, (soziale und ökonomische) Ausgrenzung, Enteignungen, erzwungenes Exil, geraubte Kinder, Inhaftierung in Gefängnissen, Internierungslagern oder Konzentrationslagern, Zwangsarbeit, Folter und (extralegale) Hinrichtungen. Zunehmend wird von der Bewegung von einem Genozid am politischen Gegner gesprochen, der ideologisch durch einen übersteigerten Nationalismus und einen rigiden Antikommunismus gerechtfertigt wurde. Ein anderes zentrales Anliegen ist es, die vielfältigen Widerstände sichtbar zu machen: wie die Kämpfe der maquis (Partisan*innen), die nach dem Bürgerkrieg 1939 bis in die 1950er Jahre hinein aus den Bergen heraus kämpften. Oder der breite antifranquistische Widerstand der 1960er-1970er Jahre, der von Arbeiter*innen-, Studierenden-, und Nachbarschaftsbewegungen in den Städten getragen wurde. In diesem Kontext stehen die Forderungen nach Entschädigung, die Durchführung von Gedenkveranstaltungen oder die Errichtung von Denkmälern für die Kämpfer*innen und Opfer. Eine andere Problematik ist die bis heute3
überall im öffentlichen Raum vorhandene franquistische Symbolik in Form von Plaketten, Denkmälern und Straßennamen. Hier legen die Aktivist*innen zusehends selbst Hand an, um diese Symbolik zu entfernen.
Im letzten Jahrzehnt ist der Druck hinsichtlich der zentralen Forderungen der Bewegung nach Erinnerung, Wahrheit, Gerechtigkeit und Würde stetig gestiegen. Vor diesem Hintergrund griff die PSOE (nicht ganz uneigennützig) die Anliegen der Bewegung auf. Neben dem berechtigten Anliegen der PSOE, auch an ihre Opfer zu erinnern — was sie als Regierungspartei von 1982—1996 weitestgehend ignoriert hatte — dient ihnen die Erinnerungspolitik auch als Angriff auf die PP. Immer wieder weist die PSOE in Wahlkämpfen auf die personelle und inhaltliche Nähe der PP zum Franquismus hin. Allerdings machte es ihr die PP dabei nicht schwer: Als Regierungspartei (1996—2004) fuhr sie einen ultranationalistischen Kurs, subventionierte die profranquistische Stiftung Fundación Nacional Francisco Franco und ließ die sterblichen Überreste der Freiwilligen der Division Azul, die die Wehrmacht gegen die Sowjetunion unterstützt hatten, exhumieren. Im Wahlkampf 2004 versprach die PSOE schließlich ein Erinnerungsgesetz einzuführen, welches nach deren Wahlsieg 2007 erlassen wurde. Allerdings fällt das Gesetz weit hinter die Forderungen der Bewegung zurück. Deren zentrale Kritikpunkte sind die fehlende Annullierung der franquistischen Urteile, die fehlende staatliche Verantwortung für die Verschwundenen und geraubten Kinder sowie die fortwährende Straflosigkeit der Täter/innen.
Um den Druck zu erhöhen, hatten 13 Vereine bereits 2006 beim Nationalen Gerichtshof eine Klage wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit eingereicht. Es ging konkret um die Verschwundenen und geraubten Kinder. Ende 2008 eröffnete der Untersuchungsrichter Baltasar Garzón das Verfahren, welches sich auch gegen franquistische Entscheidungsträger richtete. Daraufhin zeigten rechte Gruppen, unter ihnen Manos Limpias, im April 2009 den Richter an. Sie warfen ihm Rechtsbeugung vor, weil er mit seinen Ermittlungen gegen das Amnestiegesetz verstoßen hätte. Im April 2010 stand deswegen ein Suspendierungsverfahren gegen Garzón an. Kurz vorher demonstrierten allein in Madrid 100.000 Menschen ihre Solidarität mit Garzón, forderten Gerechtigkeit für die Opfer und die Aufhebung der Straflosigkeit für die Täter/innen.
Seit Ende 2011 regiert erneut die PP, seitdem wurden die erinnerungspolitischen Subventionen extrem gekürzt und das staatliche Büro für die Opfer des Franquismus geschlossen. Noch heute wartet die ARMH Madrid auf rund 60.000 Euro, die ihnen für Exhumierungs- und DNA-Untersuchungen 2011 zugesagt wurden. Während die PP bis 2008 damit argumentiert hatte, niemand würde Interesse an einer Erinnerungspolitik haben, wird jetzt die Krise als Begründung dafür herangezogen, dass kein Geld für diese „unnützen“ Projekte, so die PP, vorhanden sei. Trotz dieser Gegenwehr ist die Erinnerungspolitik nicht mehr von der gesellschaftspolitischen Agenda wegzudenken. Allerdings kämpft die Bewegung wieder unter ähnlichen Bedingungen wie vor dem Erinnerungsgesetz. Nur in Andalusien und Katalonien, wo eigene Erinnerungsgesetze erlassen wurden, sieht die Situation besser aus. Eine positive Entwicklung ist jedoch, dass inzwischen verschiedene soziale Bewegungen die Anliegen des movimiento memorialista aufgreifen. So gab es innerhalb der Krisenbewegung M-15 eine eigene erinnerungspolitische Kommission und auch Antifagruppen beschäftigen sich zunehmend mit dem Thema. Beispielsweise beteiligt sich die Coordinadora Antifascista de Madrid seit Jahren an den Protesten gegen das Gedenken an Franco am 20. November bei seinem gigantischen Mausoleum im „Valle de los Caídos“ (Tal der Gefallenen) bei Madrid.
Demnächst erscheint das gleichnamige Buch der Autorin beim Verlag Edition Assemblage.