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Syrien: Krieg und niemand sieht hin

Elisabeth Olfermann und Christopher Wimmer
Einleitung

Weitgehend unbeachtet von der westlichen Öffentlichkeit führt der türkische Staat seit Jahren einen Krieg in Nordsyrien. Seit 2016 ist die Türkei dort dreimal völkerrechtswidrig einmarschiert, hält große Teile der Region besetzt und terrorisiert gegenwärtig die Bevölkerung nahezu täglich mit Drohnen- und Artillerieangriffen.

Bild: flickr.com; Kurdishstruggle; CC BY 2.0

Im Juni 2022 hat der türkische Präsident Erdogan seine Drohung einer weiteren Militärinvasion erneuert: Der Krieg trete in eine „neue Phase“ ein, zunächst wolle man die Städte Manbidsch und Tell Rifaat von „Terroristen säubern“ und dann eine 30 Kilometer tiefe Sicherheitszone auf syrischer Seite der türkischen Südgrenze errichten.

In Nord- und Ostsyrien feierten die Menschen am 19. Juli 2022 den zehnten Jahrestag der sog. Rojava-Revolution. Am frühen Morgen des 19. Juli 2012 übernahm die Bevölkerung die Kontrolle über die Straßen nach Kobane, deren staatlichen Einrichtungen sowie die nahegelegenen Militärstützpunkte der syrischen Armee wurden eingenommen. Der Aufstand breitete sich auf weitere Städte aus. Seitdem verwaltet sich die Bevölkerung selbst, basierend auf den Prinzipien der direkten Demokratie, der Ökologie und der Frauenbefreiung. Während die autonomen Gebiete zunächst aus den kurdisch dominierten Kantonen Cizre, Kobane und Afrin bestanden, hat sich das Gebiet, das nun offiziell „Autonome Selbstverwaltung von Nord- und Ostsyrien“ (AANES) heißt, erweitert.

Islamistische Gruppenwie al-Nusra und der sog. Islamische Staat wurden in Syrien zurückgedrängt und so kamen weitere, überwiegend arabisch geprägte Gebiete wie Tabqa, Raqqa oder Manbidsch zur AANES. Die Selbstverwaltung umfasst heute fast ein Drittel des syrischen Territoriums. Sie basiert auf dem Konzept einer demokratischen Nation, dass vom Vorsitzenden der  Kurdischen Arbeiterpartei (PKK) Abdullah Öcalan entwickelt wurde. Ziel ist kein eigener (kurdischer) Nationalstaat, sondern die basisdemokratische Selbstverwaltung aller Bewohner*innen Nord- und Ostsyriens. Alle Ethnien sollen ein Mitspracherecht haben. Dazu wurde ein Gesellschaftsvertrag aufgesetzt, der das Zusammenleben regelt. Hier werden zum Beispiel die Rechte der Frauen definiert oder die Abschaffung der Todesstrafe festgelegt.

Für die Türkei ist dieses demokratische Projekt jedoch lediglich ein Ableger der als terroristisch eingestuften PKK. Die Verteidigungseinheiten der Autonomieregion YPG/YPJ und auch die in Nord- und Ostsyrien vorherrschende Partei der Demokratischen Union sind für Erdogan PKK-Tarnorganisationen und daher auch in der Türkei verboten.

In einer ersten Militäroffensive 2016/2017 besetzte die Türkei mit Hilfe eigener Bodentruppen sowie Söldnerarmeen völkerrechtswidrig Gebiete um Al-Bab und Azaz. Es folgte eine weitere Militäroffensive in Idlib. Im Jahr 2018 wurde Afrin besetzt. Die letzte Militäroffensive folgte 2019 mit der Besetzung der Gebiete um Sere Kaniye und Tall Abyad. Seitdem tobt in Nord- und Ostsyrien ein „Krieg niedriger Intensität“. So bezeichnet Matthias Monroy, Redaktionsmitglied der Zeitschrift Bürgerrechte & Polizei und Experte für Drohnen, die gegenwärtigen Vorgänge. Dabei „verletzt das türkische Militär das Völkerrecht, etwa durch den unterschiedslosen Angriff auf die Zivilbevölkerung“. Im Gebiet der AANES wurden im Jahr 2022 bislang 75 Drohnenangriffe gezählt. Dabei wurden mindestens 56 Menschen getötet und 102 verletzt (Stand: 3. September 2022), wie das „Rojava Information Center“ (RIC), eine unabhängige Medienorganisation mit Sitz in Nordsyrien dokumentiert hat. Die Zahlen dürften weit höher liegen, da das RIC nur verifizierte Fälle in seine Statistik aufnimmt. Bei den Angriffen werden immer auch Zivilist*innen und Kinder getroffen. Diese Art der Kriegsführung bedeutet deshalb vor allem für die Zivilbevölkerung eine enorme psychische Belastung. Die Drohnen machen keinen Unterschied zwischen Zivilist*innen oder militärischem Personal – alle sind in Gefahr. Drohnenangriffe geschehen unangekündigt und willkürlich. Es gibt kaum die Möglichkeit, sich zu schützen oder in Sicherheit zu bringen. Besonders schwierig ist die Situation direkt an der Grenze zur Türkei, wo es immer wieder zu Angriffen von türkischen Grenzsoldaten kommt. Bei diesen Angriffen wurden im Jahr 2022 mindestens 13 Menschen getötet, drei davon waren minderjährig. 20 Menschen wurden verletzt.

Seit 1992 greift die Türkei auch regelmäßig den Nordirak an, da sie dort ebenfalls Stellungen der PKK vermutet. In den vergangenen Wochen wurden zahlreiche Dörfer bei mehreren Hundert Einsätzen mit Kampfflugzeugen und -hubschraubern zerstört. Dabei kam es laut lokalen Quellen auch zum Einsatz von chemischen Waffen. Bei einem Angriff Ende Juli 2022 auf den Ferienort Duhok wurden zahlreiche Zivilist*innen getötet und verletzt: allesamt Urlauber*innen aus dem Südirak.

Die Türkei begründet all dies mit ihrem „Recht auf Selbstverteidigung“ und beruft sich auf Artikel 51 der Charta der Vereinten Nationen: Dieser regelt das Recht auf staatliche Selbstverteidigung bei einem bewaffneten Angriff. Da es aber keine Angriffe aus der AANES oder von nordirakischen Gebieten auf türkisches Territorium gibt, lässt sich hier auch kein Selbstverteidigungsrecht aus Artikel 51 ableiten. Für Erdogan ist der Krieg gegen die AANES indes von entscheidender Bedeutung. Er will eine kurdisch dominierte autonome Region an der syrisch-türkischen Grenze unbedingt verhindern, da diese als Vorbild für die in der Türkei lebenden Kurd*innen dienen könnte. Bestärkt wird diese Haltung durch einen tief sitzenden antikurdischen Rassismus in der Türkei.

Hinzu kommen innenpolitische Gründe. 2023 stehen in der Türkei Wahlen an, und derzeit deuten die Umfragen auf ein schlechtes Ergebnis für seine Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung (AKP) hin. In der Vergangenheit waren Invasionen in Syrien stets von einem Anstieg der Zustimmung zur AKP-Politik begleitet. Mit solchen Kriegen kann Erdogan seine innenpolitischen Schwierigkeiten überspielen: Armut, Inflation, Erwerbslosigkeit.

Darüber hinaus will Erdogan eine Million syrische Flüchtlinge in den nordsyrischen Gebieten ansiedeln, was die demografischen Verhältnisse stark verändern würde. Zu diesem Zweck wurden in den besetzten Gebieten bereits Siedlungen errichtet. Eine sukzessive Überführung der Gebiete in türkisches Hoheitsgebiet scheint also möglich. Erdogans Ziel scheint die Schaffung eines neuen "Osmanischen Reichs" zu sein, was er immer wieder – zumindest implizit – erwähnt. Bis 1920 gehörten Teile des heutigen Nordsyriens und Nordiraks zum "Osmanischen Reich", darunter die Städte Aleppo und Mosul. Erdogan betont daher regelmäßig die „türkischen Interessen“ in diesen Regionen, beansprucht aber auch Gebiete in Armenien, Griechenland und Zypern. In den besetzten syrischen Gebieten findet dahingehend eine Politik der „Türkifizierung“ statt. Dort werden Gehälter in türkischer Lira gezahlt, türkischsprachige Schulen eröffnet und eigene Gouverneure ernannt – all dies sind Anzeichen für eine dauerhafte Kolonialisierung der Gebiete.

Um seinem Ziel eines neuen "Osmanischen Reichs" näher zu kommen, unterstützt die Türkei seit Jahren islamistische Gruppen, allen voran den IS. IS-Kämpfern wurde der ungehinderte Grenzübertritt nach Syrien ermöglicht, verwundete Kämpfer in türkischen Krankenhäusern versorgt und Waffen sowie Ausbildung geliefert. Es ist daher auch nicht verwunderlich, dass der Anführer Bakr al-Baghdadi im Oktober 2019 von US-Streitkräften im türkisch kontrollierten Idlib aufgespürt und getötet wurde. Seit Erdogan 2014 Präsident wurde, baute er ein privates militärisches und paramilitärisches System auf, zu dem zahlreiche dschihadistische Söldnergruppen gehören, die von der Türkei unterstützt werden. Darunter auch verschiedene Gruppen, die früher in Opposition gegen das Assad-Regime gekämpft haben. Inzwischen gelten sie als Stellvertreterarmee der Türkei und haben damit auch ihr Ziel auf die Zerstörung einer kurdischen Autonomieregion verlagert. Der Einsatz solcher Gruppen hat den Vorteil, dass internationale Kritik und rechtliche Verantwortung minimiert werden. Erdogan nutzt seine Stellvertretermilizen auch, um türkische Interessen in anderen Teilen der Welt durchzusetzen. Er hat sie bereits in Libyen und im Kaukasus eingesetzt.

Zu all diesen Vorgängen schweigen die westlichen Regierungen sowie internationale Organisationen wie die UN oder die NATO weitgehend. Von der NATO, deren Mitglied die Türkei seit 1952 ist, gab es bisher keine offene Kritik an Erdogans Kriegspolitik. Dies zeigt, dass sogenannte gemeinsame Werte wie Freiheit und Demokratie nur dann gelten, wenn sie den eigenen imperialen Interessen der Türkei dienen.

Die Macht der Türkei ist durch den Ukraine-Krieg sogar noch gewachsen. Erdogan gelang es, sich als „neutraler Vermittler“ zwischen Russland und der Ukraine zu etablieren. Ebenso versucht die Türkei, die Aufnahme Schwedens und Finnlands in die NATO zu blockieren. Erdogan sieht die humanitäre Hilfe aus diesen Ländern für die AANES als „Terrorhilfe“ an und Kurden, die sich in diesen Ländern organisieren, als „Terroristen“. Nach wiederholten Verhandlungen scheint die Türkei ihren Willen durchgesetzt zu haben.

Für Nord- und Ostsyrien bedeutet all dies nichts gutes.