Türkische Expansionspolitik und antifaschistische Verantwortung
Wanja Musta (Delegationsteilnehmer und VVN-BdA Mitglied) (Gastbeitrag)Ein Bericht der Friedensdelegation in Südkurdistan / Nordirak.
Die Delegation für Frieden und Freiheit in Kurdistan
Anfang Juni 2021 reiste eine Friedensdelegation nach Südkurdistan. Zwar kommen die Aktivist*innen, Politiker*innen und Journalist*innen aus verschiedenen politischen Bereichen, doch vereint sie der Wunsch um Frieden, eine antifaschistische Haltung und konkret das Ende des türkischen Angriffskriegs auf die dortige Region. Die Delegation selbst sollte ursprünglich 160 Menschen aus mehr als 14 europäischen Ländern umfassen. Aufgrund diverser Repressionen waren es am Ende die Hälfte - dennoch ist die Delegation ein Erfolg gewesen.
Ihr Ziel war es die internationale Öffentlichkeit auf die schwierige Lage vor Ort und die Auswirkungen des türkischen Angriffskriegs auf die Bevölkerung aufmerksam zu machen und die Verantwortung der NATO-Staaten in diesem Krieg zu thematisieren. Der kurdischen Freiheitsbewegung, welche seit Jahrzehnten am Aufbau eines basisdemokratischen, ökologischen und geschlechterbefreiten Gesellschaftsmodell arbeitet, soll gezeigt werden, dass es noch Unterstützung von anderen antifaschistischen und demokratischen Kräften für eine friedliche Lösung gibt.
Die vielen Jahre des Konfliktes zwischen der kurdischen Gesellschaft und dem türkischen Staat, Vertreibungen von Kurd*innen aus tausenden von Dörfern in den 1990er Jahren und Genozide wie an der jesidischen Bevölkerung im Şengal im Jahre 2014 durch den „Islamischen Staat“ (IS), sind zu oft nur als Randnotiz der europäischen und asiatischen Geschichte und Öffentlichkeit aufgetaucht. Dieses Schweigen will die Delegation durchbrechen.
Im Austausch mit Politiker*innen, wie der Oppositionspartei „Demokratische Partei der Völker“(HDP) in der Türkei, der „Patriotische Union Kurdistans“ (PUK), den „Friedensmüttern“ und vielen weiteren Aktivist*innen in Südkurdistan, soll internationale Solidarität und eine klare Haltung gegen den türkischen Angriffskrieg gezeigt werden. So wurde im Rahmen der Delegationsreise, am 14. Juni in Erbil die internationale Initiative “DEFEND KURDISTAN - gegen die türkische Besatzung” ins Leben gerufen, am 17. Juni in Silemani mit der Zivilbevölkerung gegen die türkischen Drohnenangriffe demonstriert und die Betroffenen des Krieges besucht. Hierbei wurden der Delegation viele Steine in den Weg gelegt.
Türkische Besatzungspolitik: Von Rojava bis nach Südkurdistan
Die Konflikte in Kurdistan sind vielschichtig. Kurdistan ist durch die imperialistischen Mächte nach dem 1. Weltkrieg auf die Nationalstaaten Türkei (Nordkurdistan / Bakur), Iran (Ostkurdistan / Rojhelat), Irak (Südkurdistan / Bashur) und Syrien (Westkurdistan / Rojava) aufgeteilt worden. Mit jedem dieser Staaten gibt es Konflikte um die politische Selbstbestimmung der kurdischen Bevölkerung.
Dazu kommt der Krieg gegen den „Islamischen Staat“, welcher mit der Unterstützung der Türkei, viele Massaker verübte und noch immer eine Bedrohung für die Menschen darstellt. Der Hauptkriegstreiber in Kurdistan ist die Türkei mit ihren, von der NATO ("North Atlantic Treaty Organization") unterstützen, Großmachtambitionen der Errichtung eines neuen „Osmanischen Reichs“, wie es Präsident Recep Tayyip Erdoğan mehr oder weniger offen vertritt.1
Der türkische Staat, welcher seit seiner Gründung auch auf der Vorstellung einer möglichst homogenen Bevölkerung basiert, welche nur eine Sprache und eine Religion hat, kann Ideen einer gesellschaftlichen Vielfalt und Pluralität nur schwer akzeptieren. Besonders wenn diese mit sozialistischen, feministischen und ökologischen Ideen einher geht. Und so unterdrücken die politischen Machthaber der „Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung“ (AKP) und „Partei der Nationalistischen Bewegung“ (MHP) seit Jahren nicht nur die kurdische Bevölkerung in der Türkei selbst, sondern versucht jegliche politischen Entwicklung zum Aufbau einer demokratischen Gesellschaft im „Mittleren Osten“ zu verhindern.
So führt die Türkei seit Jahren einen mal offeneren, mal versteckteren Krieg in Syrien gegen die demokratische Selbstverwaltung. Im Jahre 2018 wurde der Kanton Afrin besetzt, 2019 folgte der Angriff auf die Städte Serê Kaniyê und Girê Spî und die umliegenden Regionen. Und an der Seite der Besatzer, z.T. auch in türkischen Militäruniformen, standen auch die Islamisten des „Islamischen Staates“.
Seit dem 24. April führt die AKP/MHP Regierung nun seinen, vor der NATO bereits angekündigten, Angriffskrieg in der Autonomen Region Kurdistans. Fast täglich gibt es lokale Berichte über flächendeckenden Bombardements, dem Einsatz von Chemiewaffen und die Zerstörung von tausenden Hektar Wald und landwirtschaftlichen Flächen. Ziel sind vermeintliche Standorte von Guerilla-Kämpfer*innen der „Arbeiterpartei Kurdistans“ (PKK). Doch unter Beschuss genommen werden Dörfer und nicht zuletzt das geflüchteten Camp Mexmûr, in welchem rund 23.000 Kurd*innen leben, die in den 1990er Jahren aus der Türkei fliehen mussten. Erst bei dem letzten türkischen Angriff auf das Camp am 5. Juni, starben drei Menschen.
Die Türkei, KDP und die deutschen Beziehungen
Doch die Türkei bleibt nicht nur bei Drohnenangriffen. Durch die wirtschaftliche Abhängigkeit der „Demokratischen Partei Kurdistans“ ( KDP) von der Türkei und dem Versprechen, die KDP zur regionalen Macht aufzubauen, wirbt Erdogan für einen offenen Krieg der Peschmerga (bewaffnete Streitkräfte aus der Autonomen Region Kurdistan im Irak) gegen die Guerilla. Dies wäre der Beginn eines innerkurdischen Krieges, der tausenden von Menschen das Leben kosten könnte und alle Errungenschaften kurdischer Autonomie und Anerkennung zerschlagen würde.
Dieses Angebot zeigt den Einfluss der Türkei auf die Autonome Region Kurdistans. Dieser Einfluss wird auch der Delegation klar, nachdem sie von Beginn der Reise an von türkisch sprechenden Geheimdienst-Agenten beschattet werden. Und wie weit die Zusammenarbeit der Türkei auch mit der deutschen Bundesregierung geht, zeigt sich am 12. Juni am Düsseldorfer Flughafen, als Mitglieder der Delegation an ihrer Ausreise gehindert werden. Unter ihnen auch die Hamburger Abgeordnete Cansu Özdemir (Die Linke). Verhängt wird das Ausreiseverbot mir der Begründung, dass die Anwesenheit von deutschen oder europäischen Staatsangehörigen in Südkurdistan, die deutsch-türkischen Beziehungen gefährden würde.
Wenn eine Friedensdelegation der deutsch-türkischen Freundschaft schadet, wird klar um was es in dieser Art „Freundschaft“ geht: Krieg.
Noch während die Delegation am 19. Juni mit Hinterbliebenen eines türkischen Drohnenangriffs spricht, werden keine 20 Kilometer weiter, erneut zwei Personen durch eine Drohne der Türkei getötet. Und nur wenige Tage zuvor, am 10. Juni, werden zwei Parteimitglieder der „Partei der Demokratischen Union“ (PYD), einer kurdischen Partei aus Syrien, zusammen mit einem Diplomaten der Autonome Administration von Nord- und Ostsyrien, auch als Rojava bekannt, am Erbiler Flughafen von Sicherheitskräften der KDP festgenommen. Bis heute fehlt jede Spur von ihnen. Dass sie gefoltert werden, ist laut Einschätzung lokaler Aktivist*innen zu befürchten. Und in der gleichen Woche, am 17. Juni, kommt es zu einem Anschlag auf die HDP-Zentrale in Izmir, bei dem die HDP-Mitarbeiterin Deniz Poyraz ums Leben kommt. Der Täter Onur Gencer ist ein bekannter türkischer Faschist, welcher sich in Syrien mit Waffen und dem Gruß der faschistischen „Grauen Wölfe“ bei der türkischen Besatzung Rojavas ablichten ließ. 2 All diese Anschläge und Massaker sind Teil des seit Jahren geführten Krieges des türkischen Staates gegen die kurdische Freiheitsbewegung und alle demokratischen Kräfte in der Türkei.
Internationale Solidarität: Friedensdelegation und Initiative „Defend Kurdistan“
Doch auch die internationale Solidarität von Antifaschist*innen, Feminist*innen und demokratischen Kräften mit dem Aufbau einer demokratischen Gesellschaft in Kurdistan, gibt es seit Jahren. Gegen die Angriffe der Türkei in Rojava, wurde die internationale Kampagne „RiseUp4Rojava“ ins Leben gerufen. Und auch gegen die Besatzungspläne in Südkurdistan, formiert sich der Widerstand. Die „#Delegation4Peace“ soll dafür ein Anfang sein.
Pierre Laurent, Senator aus dem französischen Senat, Dr. Maja Hess, Präsidentin von „Medico International“, Remy Pagani, ehemaliger Genfer Bürgermeister und Dr. Mechthild Exo, Wissenschaftler in Deutschland, waren Teil der Delegation. Aber auch zivilgesellschaftliche Bewegungen, wie die Kampagne „Rheinmetall Entwaffnen“, „Ende Gelände“, oder eben auch der antifaschistische Zusammenschluss VVN-BdA, nahmen an der Delegation teil. Sie führten Gespräche mit unterschiedlichen Parteien und zivilgesellschaftlichen Organisationen in Südkurdistan, unter ihnen die Partei PUK und der „Bewegung für Wandel“ (Gorran Partei). Auch mit dem Außenminister der konservativen Regierungspartei KDP kam es nach mehreren Versetzungen zu einem Gespräch, nur aber damit das Gespräch frühzeitig von ihm abgebrochen werden konnte, weil er nicht über eine Grenzöffnung zu Rojava reden wollte.
Die Besuche, der durch Krieg und Zerstörung vertriebenen Menschen, war eine wichtige Erfahrung der Delegation. Im jesidischen Flüchtlingscamp Sharya erzählten die Familien vom 74 Genozid in ihrer Geschichte. Der letzte im Jahre 2014 durch den „Islamischen Staat“. Sie berichteten vom fehlende Zugang zu sauberem Trinkwasser im Camp. Die mittlerweile 12.000 Menschen leben nun seit dem letzten Genozid hier in Zelten. Fast die Hälfte sind Kinder, doch Bildung ist auf dem Camp so gut wie nicht möglich.
Türkische Besatzung und deutsche Verantwortung
Bevölkerungsgruppen die systematisch verfolgt werden und fliehen müssen, Presse die eingesperrt wird, die HDP die verboten werden soll und die Angriffskriege, die zur Ausweitung der eigenen Staates dienen, weißen klar auf eine ultra-rechte und nationalistische Politik Erdogans hin. Doch trotz dieser Politik, bleibt die Türkei bester Kunde, wenn es um den Export von Waffen aus Deutschland geht. Allein 2019 betrug das Exportvolumen an Kriegsgeräten in die Türkei 345 Millionen Euro. Immer wieder ist es die Bundesregierung, die der Türkei politische Rückendeckung gibt und die antifaschistischen, revolutionären Kräfte der Türkei und Kurdistans auch in Deutschland kriminalisiert. Und unter der Androhung der Türkei, den „Flüchtlingsdeal“ aufzulösen und somit den Weg für tausende von Menschen nach Europa frei zu geben, wird die türkische Regierung mit Samthandschuhen angefasst.
Während die Leidtragenden des Kriegs wenig Aufmerksamkeit und Unterstützung erhalten, baut Erdogan seine Pläne für eine Art neues „Osmanisches Reich“ aus. Und Deutschland spielt eine aktive Rolle in diesem Konflikt. Daher liegt es auch in der Verantwortung deutscher Antifaschist*innen, sich gegen diese ultra-nationalistischen Fantasien der AKP/MHP Regierung und den aktuellen Angriffskrieg mit der Unterstützung Deutschlands zu stellen.
- 1Am 10. November 2016 sagte er z.B. in einer Rede zum 78. Todestag Kemal Atatürks: „Wir werden nicht Gefangene auf 780.000 Quadratkilometern sein. […] Unsere Brüder auf der Krim, im Kaukasus, in Aleppo und Mossul mögen jenseits der physischen Grenzen sein, aber sie sind innerhalb der Grenzen unserer Herzen.“
- 2Siehe: duvarenglish.com/man-who-killed-hdp-member-revealed-to-have-posted-armed-photos-from-syria-gallery-57854