Türkei: Den Aufstand im Angesicht des Faschismus wagen
Civaka Azad (Gastbeitrag)In diesem Gastbeitrag berichtet "Civaka Azad - Kurdisches Zentrum für Öffentlichkeitsarbeit" über Erfahrungen aus der Geschichte der Kurdischen Freiheitsbewegung. Wie lässt sich im Angesicht eines faschistischen Staatsapparats gesellschaftlicher Widerstand leisten? Wir möchten uns dieser Frage anhand des historischen Beispiels der Gründungsphase der späteren Arbeiterpartei Kurdistans ("Partiya Karkerên Kurdistanê")1 und ihrer Entwicklung bis Anfang der 1990er Jahre widmen. Auch wenn die Gründung und Entwicklung spezifischen Umständen unterliegt, glauben wir, dass ein Rückblick auch für andere Kontexte von Relevanz sein kann.
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Die Organisation und ihre Nachfolger ist seit 1993 in Deutschland verboten. Die meisten EU-Mitglieder stufen sie nicht selbst als Terrororganisation ein, sondern über ihre EU-Mitgliedschaft und die als verbindlich geltende EU-Terrorliste.
Erfahrungen aus der Geschichte der Kurdischen Freiheitsbewegung
Anfang der 1970er Jahre hatte die kurze, aber sehr heftige Zeit der 1968er Bewegung in der Türkei bereits ihren Zenit überschritten. Die Versuche eines Umsturzes scheiterten, ehe sie richtig beginnen konnte. Persönlichkeiten wie Mahir Çayan, Deniz Gezmiş oder Ibrahim Kaypakkaya - gestorben im Kampf, hingerichtet, gefoltert und ermordet - hatten diese Phase geprägt.1 Nach ihrem Ableben begann der türkische Faschismus, repräsentiert im Staatsapparat und in paramilitärischen Einheiten der "Grauen Wölfe“, die Kontrolle zu übernehmen. Mit dem Militärputsch von 1971 verloren auch weniger radikale, reformistische und legale linke Organisationen ihre Existenz. Die nachfolgenden Jahre bis zum dritten türkischen Militärputsch vom 12. Septembers 1980, waren geprägt von einem Militärapparat, Auseinandersetzungen auf den Straßen mit faschistischen Mobs und staatlich tolerierten oder gedeckten Massakern an ethnischen und religiösen Minderheiten. Die Luft zum Atmen für linke und revolutionäre Gruppen wurde dünner.
In diese Zeit fallen die ersten Organisationsschritte einer Gruppe, die 1978 die Arbeiterpartei Kurdistans gründen sollte.
Aus den Fehlern der anderen lernen
Den Entschluss zum Aufbau dieser Gruppe fasste Abdullah Öcalan. Er hatte an einer Gedenkdemonstration für Mahir Çayan teilgenommen, wurde festgenommen und verbrachte 1972 sechs Monate in Haft. Nach seiner Entlassung war er überzeugt, dass es eine Bewegung benötigt, die für die Befreiung Kurdistans eintritt. Gemeinsam mit seinen beiden Mitbewohnern, Haki Karer und Kemal Pîr, die beide übrigens nicht-kurdischer Herkunft waren,
stellte er sich dieser Aufgabe.
Nach einem gescheiterten Versuch, die zersprengte revolutionäre Linke unter dem Dach des linken Hochschulvereins „Ankara Demokratik Yüksek Öğrenim Derneği“ (ADYÖD) in Ankara zusammenzubringen, änderte die Gruppe ihre Strategie. Ausschlaggebend war die Analyse, dass der Faschismus in der Türkei auf dem Vormarsch sei und die revolutionäre Linke massiv in Bedrängnis geraten ist. Sich unter diesen Bedingungen der Kurdistanfrage zu stellen, musste für Außenstehende wie politischer Selbstmord wirken, denn die Entste-hungsphase der Gruppe fällt in eine Zeit, in der andere türkische und kurdische Organisationen vom türkischen Staat zerschlagen wurden. Letztere machen es den staatlichen Behörden nicht besonders schwer.
Das gängige Organisationsmuster jener Zeit bestand darin, neben einer möglichen illegalen Struktur über eine legale Vorfeldorganisation und eine offizielle (Partei-)Zeitschrift zu verfügen. Der türkische Repressionsapparat konnte über die legalen Strukturen oft an diejenigen gelangen, die in der Illegalität agierten. Die Vorfeldorganisationen und Publikationen waren schließlich auch nur noch so lange legal, bis 1971 eine neue Verfassung erlassen wurde, die die Bürgerrechte im Land deutlich einschränkte. Unter dem repressiven Charakter der neuen Verfassung hatten dann auch Parteien und Organisationen zu leiden, die nicht auf einen Umsturz im Land zielten.2
Die neue Gruppe, die sich ab 1975 als „Revolutionäre Kurdistans“ bezeichnete, hatte keine Parteizeitung oder politische Vorfeldorganisation gegründet, wie es sonst üblich war. Stattdessen bestand die erste Organisationsphase in nächtelangen klandestinen Diskussionsrunden in Studierenden-WGs. Eingeladen wurden nur Personen, die einer aus der Gruppe kannte. In den Diskussionszirkeln wurde die politische Situation diskutiert, Bücher gelesen und ein gemeinsames politisches Bewusstsein hervorgebracht. Um das Wissen in die Praxis zu überführen, fassten die Mitglieder des bis dahin losen Netzwerks 1975 den Beschluss, ihr Studium abzubrechen und in die kurdischen Gebiete aufzubrechen, um in der Bevölkerung neue Mitglieder zu gewinnen. Bis 1977 waren es schon mehrere hundert Menschen aus verschiedenen Orten Kurdistans.
Der Gruppe gelang es weitgehend der Konfrontation mit dem Staat aus dem Weg zu gehen. Stattdessen kam es zu Auseinandersetzungen mit anderen kurdischen und türkischen linken Organisationen, welche die Anwesenheit einer neuen Gruppe nicht duldeten.3 Die Gruppe entschloss sich zum Schritt der Parteigründung, um die eher losen Organisationsstrukturen in eine verbindlichere Form zu überführen.
Rückzug und Warten
Mit einer „Propaganda der Tat“ sollte der kurdischen Bevölkerung die Ernsthaftigkeit ihrer Ziele gezeigt werden. Doch der türkische Staat ist früher auf die Gruppe aufmerksam geworden und es gelang ihm, ein Gründungsmitglied festzunehmen. Es kam zu Angriffen auf kurdische Großgrundbesitzer, bevor man den Weg des strategischen Rückzugs einschlug. Eine offene Konfrontation wäre zu früh gekommen.
Als am 12. September 1980 das Militär in der Türkei erneut die Kontrolle an sich riss, waren die gesellschaftliche Opposition und die Bevölkerung mit einer Situation konfrontiert, die alles bisher Erlebte in den Schatten stellte. Am ersten Tag des Putsches wurden die Vorsitzenden aller politischen Parteien festgenommen, das Parlament aufgelöst und etwa 100 Abgeordnete inhaftiert. Erstmals wurden auch alle Bürgermeister und Stadträte abgesetzt, die Kontrolle über die Provinzen ging an ausgewählte Gouverneure. Bis zum Ende der Militärherrschaft waren rund 200.000 Menschen festgenommen und 65.000 zu Haftstrafen verurteilt worden. Folter gegen politische Gefangene war gängige Praxis und wurde so auch von internationalen Menschenrechtsorganisationen dokumentiert. Gegen 3.600 Personen wurde die Todesstrafe verhängt, von denen etwa 20 Prozent vollstreckt wurden. Viele bezahlten diesen Widerstand mit ihrem Leben. Die inhaftierten Mitglieder zogen ihre Kraft aus dem Bewusstsein, dass ihr Kampf nicht verloren war. Es dauerte noch bis 1984, bis sie schließlich den Kampf aufnahmen, aber nach dem Putsch von 1980 hatte die Gruppe als einzige Organisation das Militärregime in der Türkei überlebt.
Vom Kampf zur Massenbewegung
In den Folgejahren sollte Syrien ihr Rückzugsort sein. Obwohl das Baath-Regime selbst die kurdische Bevölkerung unterdrückte, versuchte das syrische Regime deren Präsenz als Druckmittel gegen die Türkei zu nutzen. Forderungen in der kurdischen Frage gegenüber Damaskus konnten nicht gestellt werden. Die Organisation schuf auch in anderen Teilen Kurdistans Rückzugsorte und vielfältige, tiefe Beziehungen zur kurdischen Bevölkerung in Rojava (Westkurdistan) und im Rest von Syrien. Der Austausch mit den Menschen schuf enge Bindungen und legte schließlich auch den Grundstein für die Revolution von Rojava im Jahr 2012. Dieser Austausch und das große Vertrauen der Bevölkerung machten den Weg zu einer Massenbewegung möglich.
Ab den 1990er Jahren entstand auch in Bakûr (Nordkurdistan), also dem Südosten der Türkei, eine ähnliche symbiotische Beziehung. Die Menschen gingen zum kurdischen Neujahrsfest Newroz auf die Straßen, auch wenn sie wussten, dass staatliche und paramilitärische Kräfte mit scharfer Munition das Feuer auf sie eröffnen würden.
Der Stein war ins Rollen gebracht und die Bevölkerung bereit, Verantwortung zu übernehmen. Die Selbstorganisierung der Gesellschaft, die politische Aufklärungsarbeit und der kollektive gesellschaftliche Widerstand sind heute Grundpfeiler des kurdischen Freiheitskampfes. Ihren Anfang nahmen sie in eben jenen Jahren in Rojava und Bakûr.
Die Lehren aus der Geschichte
Aus diesem sicherlich unvollständigen Rückblick kann man Lehren ziehen. Die Macht eines faschistischen Staates nicht zu unterschätzen und zu früh in die Konfrontation zu treten. Sich von der Übermacht des Staates nicht paralysieren zu lassen. In kleinen Gruppen lange zu diskutieren und die Verbundenheit und das politische Bewusstsein in der Gruppe zu stärken. Die Mauer der Angst durch konsequentes Handeln zu durchbrechen und durch Handeln und Auftreten die Menschen zu begeistern. Zeitpunkt und strategisches Handeln genau abzuwägen, erfordert eine präzise Analyse der Situation, des eigenen Organisationsgrades und der eigenen Handlungsfähigkeit.
Ein Wesenskern ist Bewusstseinsbildung und gesellschaftliche Aufklärung, da nur durch und mit der Bevölkerung Kurdistans ein Kampf zu gewinnen ist. Heute ist der Aufbau von gesellschaftlicher Bildungsarbeit ein Garant für den Erfolg - Themen wie Frauenbefreiung und ökologisches Bewusstsein sind Themen, mit denen sich in ganz Kurdistan beschäftigt wird.
Wurde die gesellschaftliche Organisierung zunächst als eine weitere Front neben der Partei und der Guerilla verstanden, ist sie heute das Herzstück. Selbstorganisierung ist nicht Mittel zum Zweck, sie ist der Hauptzweck und soll im Aufbau eines alternativen Gesellschaftsmodells, dem demokratischen Konföderalismus münden. In Rojava wird diese Idee heute mit Leben gefüllt.
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Vgl. AIB Nr. 9 - 3.1989: Repression in der Türkei/Kurdistan
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So wurden die kurdische Organisation „Devrimci Doğu Kültür Ocakları“ (DDKO) und die sozialistische Arbeiterpartei „Türkiye İşçi Partisi“ (TIP) 1971 ebenfalls verboten.
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Bei einer dieser Auseinandersetzungen wurde am 18. Mai 1977 Haki Karer ermordet.