In der Türkei verfolgt, in Deutschland abgelehnt: Kurd:innen brauchen Schutz!
Pro Asyl (Gastbeitrag)Stigmatisiert, kriminalisiert, inhaftiert – immer mehr Kurd*innen aus der Türkei suchen Schutz in Deutschland: meist vergebens. Denn weiterhin hält das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge an der Annahme fest, dass die Türkei ein Rechtsstaat sei. Die dramatische Menschenrechtslage wird schöngeredet. Diese deutsche Asylverweigerungspraxis muss dringend geändert werden.
Aras* und Serdan*1 stammen aus dem Südosten der Türkei. Sie sind Kurden und vor der Verfolgung durch die türkische Strafjustiz nach Deutschland geflohen. Die türkische Strafjustiz behauptet, sie hätten sich terroristisch betätigt – sei es Terrorpropaganda, die Unterstützung einer Terrororganisation oder die Beteiligung an terroristischen Aktivitäten. Beide bestreiten die Vorwürfe und erlebten bereits Drohungen, Befragungen, Haftbefehle und Strafverfahren. Bei Rückkehr befürchten sie die Fortsetzung der Verfolgung und ihre Inhaftierung.
Erschreckend ist: Bei keinem der beiden Männer hat das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) die Verfolgung anerkannt – ihre Asylanträge wurden abgelehnt.
Die Schicksale stehen exemplarisch für einen besorgniserregenden Trend. Auf der einen Seite steht die Erosion der Menschenrechte in der Türkei, unter der alle leiden, die nicht in das nationalkonservativ-religiöse Staatsprojekt von Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan passen (wollen), wie viele Kurd*innen. Auf der anderen Seite steht Deutschland, wo viele Schutz vor Verfolgung suchen, wo aber trotz der intensiven Verfolgung die Schutzquote sinkt. Immer mehr Geflüchteten aus der Türkei wird ein Schutzstatus verweigert. Häufig zu Unrecht.
Flucht vor dem Regime Erdoğan: Asylantragszahlen auf Höchststand
2023 stellten 61.181 türkische Staatsbürger:innen Asylerstanträge in Deutschland, damit haben sich die Antragszahlen im Vergleich zum Vorjahr mehr als verdoppelt. Wie auch in den Vorjahren sind es besonders Kurd:innen aus der Türkei, die in Deutschland Sicherheit suchen. Weiterhin erhalten sie statistisch gesehen jedoch wesentlich seltener Schutz, als Antragsstellende der türkischen Bevölkerungsgruppe. 2023 sank ihre Schutzquote auf nur sechs Prozent ab. Die Schutzquote der türkischen Bevölkerungsgruppe lag mit rund 65 Prozent wesentlich darüber.
Die niedrige Schutzquote von Kurd:innen steht im starken Kontrast zu der staatlichen Verfolgung, der sie aufgrund des ihnen unterstellten oder tatsächlichen politischen Engagements ausgesetzt sind. Viele geraten wegen (unterstellter) Verbindung zu Organisationen, wie der auch in Deutschland verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK, in den Fokus der türkischen Strafverfolgung. Dabei kann jede kritische Meinungsäußerung, wie sie in demokratischen Staaten üblich sind, von der türkischen Regierung unter Terrorverdacht gestellt und verfolgt werden. Erdoğans autokratische Wende findet unter dem Deckmantel der Terrorbekämpfung statt und geht Hand in Hand mit der Auflösung rechtsstaatlicher Standards.
Türkische Justiz: Mangelnde Unabhängigkeit und politische Instrumentalisierung
Die Vorwürfe haben in vielen Fällen keinen Gehalt und sind in Deutschland strafrechtlich nicht von Bedeutung – dennoch zweifelt das Bundesamt die Asylrelevanz in der Regel an.
Grob sind zwei Muster festzustellen: Zum einen werden die Schilderungen kurdischer Antragsstellender regelmäßig als »nicht glaubwürdig« abgetan und überzogene Belege verlangt, die die Strafverfolgung beweisen sollen. In weiteren Fallkonstellationen wird die Verfolgung durch die türkische Justiz zwar anerkannt, jedoch mit dem Hinweis des »berechtigten Verfolgungsinteresse« der Türkei als legitime Strafverfolgung eingestuft – und somit ein Schutzanspruch zurückgewiesen. Manchmal kommt beides zusammen. Beide Argumentationen bauen auf der Annahme auf, dass die türkische Justiz weiterhin rechtsstaatliche Standards erfüllt. Insbesondere in politischen Verfahren ist das jedoch längst widerlegt.
„Die Kommissarin ist alarmiert über die Tatsache, dass die türkische Justiz, insbesondere in Fällen mit Terrorismusbezug, ein noch nie dagewesenes Maß an Missachtung selbst der grundlegendsten Rechtsprinzipien an den Tag legt“, brachte es das Menschenrechtskommissariat des Europarats im Februar 2020 auf den Punkt. Diese Feststellungen sind weiterhin aktuell. Erst im September 2023 verurteilte das Europäische Parlament unter anderem „die mangelnde Unabhängigkeit der [türkischen] Justiz und die politische Instrumentalisierung des Justizsystems“ und verwies auf anhaltende Angriffe auf die Grundrechte etwa von Oppositionellen und Minderheiten durch juristische und administrative Schikane.
Den erwähnten Bericht verfasste das Menschenrechtskommissariat im Nachgang an einen Besuch 2019. Zu dem Zeitpunkt waren weitreichende Umwälzungen, die im Rahmen des Ausnahmezustands (Juli 2016 bis Juli 2018) nach dem gescheiterten Putschversuch von 2016 eingeleitet worden waren, konsolidiert. So trafen Verhaftungen und Suspendierungen auch große Teile der Richter*innenschaft sowie Staatsanwält*innen. Ersetzt wurden sie durch Personen, die dem Regime Erdoğans gegenüber als „absolut loyal“ gelten. Das wird nun in der Weigerung der Türkei deutlich, Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte – wie in den Fällen Kavala und Demirtaş – zu befolgen. „Der Präsident und andere hochrangige Regierungsmitglieder behaupteten fälschlicherweise, dass derartige Entscheidungen für die Türkei nicht bindend seien“, so "Amnesty International".
Fragwürdige Beweise führen zur Verurteilung
Etliche Strafverfahren und Verurteilungen zeugen von Rechtsunsicherheit und Willkür. Das sich daraus ergebende Gesamtbild legt nahe, dass in der Türkei systematisch prokurdische Parteien geschwächt und oppositionelle Stimmen unterdrückt werden sollen. Genutzt wird dabei neben der breiten Terrorismusdefinition immer wieder auch der Tatbestand der sogenannten Präsidentenbeleidigung (zwischen 2014 und 2020 mehr als 160.000 Anklagen) sowie das „Desinformationsgesetz“. Auf letzteres drohen bei Verurteilung Haftstrafen von bis zu drei Jahren.
Der Abbau rechtsstaatlicher Standards wird auch in den fragwürdigen Beweisen deutlich, die zur Verurteilung herangezogen werden. Ein Beispiel: Beim Vorwurf von Verbindungen zu terroristischen Organisationen werden oft Aussagen sogenannter Geheimzeug*innen als Grundlage für eine Verurteilung genommen. Es handelt sich um Personen, die der Verteidigung nicht bekannt sind und die von der Gegenseite nicht befragt werden können. Ihre Existenz sowie ihre Aussagen sind folglich nicht überprüfbar, zu Verurteilungen kommt es trotzdem.
BAMF hält an der Mär des türkischen Rechtsstaats fest
Obwohl auch das "Auswärtige Amt" auf die strafrechtliche Verfolgung wegen nicht nachvollziehbarer Terrorismusvorwürfe, die breite Terrorismusdefinition und die Abhängigkeit der Justiz hinweist, übernimmt das BAMF Strafvorwürfe unkritisch, wie der Fall von Aras* deutlich macht. In seinem BAMF-Bescheid heißt es: „Es kann nicht im Ansatz davon ausgegangen werden, dass das Verfahren des Antragstellers rechtsstaatlichen Grundsätzen nicht entsprochen hat.“
Sei es die Teilnahme an Demonstrationen und kritische Meinungsäußerungen wie bei Aras oder das parteipolitische Engagement wie bei Serdan: Aus dem Nichts werden in der Türkei Terrorismusvorwürfe konstruiert. Personen, die aufgrund politischer Tatvorwürfe in den Fokus staatlicher Ermittlung geraten sind, können nicht mit einem rechtsstaatlichen Verfahren rechnen. Die Feststellung, dass es keine rechtsstaatlichen Verfahren gibt, ist nicht nur auf die Gruppe der Kurd:innen begrenzt, sondern lässt sich auch auf Verfahren oppositioneller Gruppierungen oder Einzelpersonen sowie (vermeintliche) Angehörige des Gülen-Netzwerks übertragen.
Willkür der türkischen Strafverfolgung anerkennen
Das BAMF muss endlich die Willkür der türkischen Strafverfolgung anerkennen und darf Verurteilungen und Dokumente der türkischen Strafverfolgung nicht unkritisch übernehmen. Es ist längst an der Zeit, dass die Länderleitsätze entsprechend angepasst und die Entscheidungspraxis kritisch überprüft werden. Die Abkehr von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in der Türkei muss sich endlich auch auf die Schutzquote niederschlagen. Verfolgte des Erdoğan-Regimes brauchen Schutz!
Der Artikel ist in voller Länge mit ausführlichen Fallbeispielen und Quellenangaben auf der Website von PRO ASYL veröffentlicht: www.proasyl.de/kurdinnen-schutz
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*Namen geändert