Gojnormativität. Warum wir anders über Antisemitismus sprechen müssen.
Judith Coffey, Vivien LaumannEine echte Leseempfehlung für Alle, die schonmal in der Auseinandersetzung mit antirassistischen Theorien der „Critical Whiteness“ darüber gestolpert sind, (deutsche) Jüd_innen dort entweder als „weiß“ oder „schwarz“ einsortieren zu müssen. Immer wenn Antisemitismus nur als eine Unterform von Rassismus aufgefasst wird, entsteht schnell das Problem, die post-nationalsozialistische deutsche Gesellschaft nur unzureichend analysieren zu können.
Ihre solidarische Kritik an den linken Debatten und Praktiken unterfüttern Coffey und Laumann mit Erfahrungswissen, das sich aus ihren u.a. jüdischen, queeren, deutschen, österreichischen und linken Hintergründen speist. Bemerkenswert ist dabei, wie gut komplexe Sachverhalte in verständlicher und nachvollziehbarer Art vermittelt werden.
Goj (Plural: Goyim) ist eine jüdische Bezeichnung für Nicht-Jüd_innen und dient im von Coffey und Laumann vorgestellten Konzept der Gojnormativität der Benennung der dominanten Position im antisemitischen Herrschaftsverhältnis. Die Idee ist so gut, dass man sich wundert, weshalb noch niemand vorher darauf gekommen ist, den Ansatz auf Antisemitismus anzuwenden. Eine Erklärung bieten die unterschiedlichen, sich teilweise feindlich gegenüberstehenden linken Theorietraditionen bei der Analyse von Rassismus einerseits und Antisemitismus andererseits. Dieser Thematik widmet sich das Buch zwar auch - besonders interessant und mitunter schmerzhaft sind jedoch die anekdotenhaft eingestreuten Erlebnisberichte. Etwa wenn darüber berichtet wird, wie selbstverständlich präsent jüdisches Leben und das Wissen hierüber in einigen anderen Ländern ist, während sich in Deutschland die Wahrnehmung von Jüd_innen nur auf das „mediale Dreieck“ Antisemitismus, Shoa und Israel beschränkt.
Auch antifaschistische Linke scheinen das Fehlen von Jüd_innen vorauszusetzen, wenn sie unter dem Motto „Opa war ein Nazi“ demonstrieren. Hier wird eine Stärke des vorgestellten Konzepts deutlich, denn antisemitisch ist der gegen die Schuldabwehr der deutschen Gesellschaft gerichtete Slogan ja nicht - aber gojnormativ (leider) ganz sicher. Schmerzhaft ist auch, dass es für jüdische Linke in Deutschland (und Österreich) gemäß der Schilderungen nicht ganz unüblich ist, aus Eigenschutzgründen die eigene jüdische Herkunft meist auch gegenüber Freund_innen, Bekannten und politischen Weggefährten bzw. Genossinnen zu verbergen. Die Unsichtbarkeit von Jüd_innen und die Annahme, dass diese fehlen, kann zu kuriosen Situationen führen, etwa wenn innerlinke Kritik an Antisemitismus mit Rassismusvorwürfen gegen die (vermeintlich weißen) jüdischen Kritiker_innen gekontert werden und ihnen Nazigroßeltern angedichtet werden. Auch Bildungsarbeit zu Antisemitismus und Schulunterricht zur Shoa setzen meist voraus, dass keine jüdischen Schüler_innen anwesend sind - andernfalls findet oft kein angemessener Umgang mit der Situation statt.
Wer sich für etwas Neues in einer festgefahren scheinenden Debatte interessiert oder für die Lebensrealitäten und Perspektiven (einiger) jüdischer Linker, zum Beispiel um die Bedeutung des Anschlags in Halle auf jüdische Communities zu verstehen, sollte sich das Buch besorgen. Und apropos Gojnormativität: falls Du jüdisch bist lohnt sich die Lektüre vermutlich erst recht, auch wenn - beziehungsweise weil - Dir einiges bekannt vorkommen sollte.
Judith Coffey, Vivien Laumann
Gojnormativität. Warum wir anders über Antisemitismus sprechen müssen.
Verbrecher Verlag, Berlin 2021. 193 Seiten,
18 Euro.