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Abschied vom „Artglauben“ - das Verbot der "Artgemeinschaft"

Einleitung

Am 27. September 2023 endete die Geschichte einer der dienstältesten neonazistischen Organisationen der Bundesrepublik. An diesem Datum vollstreckte die Polizei das schon im Mai desselben Jahres im Innenministerium vorformulierte Verbot für die „Artgemeinschaft – Germanische Glaubens-Gemeinschaft wesensgemäßer Lebensgestaltung“ mitsamt Untergliederungen und der Beiorganisation „Familienwerk e.V.“. 700 Beamt*innen durchsuchten 26 Wohnungen von 39 „Artgemeinschaft“-Mitgliedern sowie Räumlichkeiten in zwölf Bundesländern. Erst in der Woche davor wurden die deutschen Ableger („Chapter“) des internationalen Netzwerks der „Hammerskin Nation“ verboten.

Artgemeinschaft
(Bild: Exif Recherche)

Ein Treffen der „Artgmeinschaft“ in der Wanderherberge "Hufhaus" im thüringischen Ilfeld am 18. Juni 2022.

Über 70 Jahre lang hatte die „Artgemeinschaft“ als eine Kernorganisation für ein radikal-antisemitisches, extrem rechtes Milieu wirken können. Spätestens ab 1980 war die Gruppe zusätzlich eine feste Instanz des militanten Neonazismus in Westdeutschland. Jahrzehntelang hätte es genauso wie im Fall der "Hammerskins" in staatlicher Logik Sachargumente für ein Verbot gegeben. Die Verbote erfolgten im Kontext der Vorbereitungen der Bundesregierung für strikte Maßnahmen zur „Abwehr“ von Flüchtlingen und massenhafte Abschiebungen. Das Vorgehen gegen „Artgemeinschaft“ und "Hammerskins" wirkten in dieser Situation wie eine Beruhigungspille für Kritiker*innen einer autoritären Abschiebepolitik: Seht her, gegen rechts machen wir auch etwas.

Es traf mit der „Artgemeinschaft“ eine kleine, aber bedeutsame Organisation mit einer zentralen Rolle im Neonazismus, die sich aus ihrer langen Geschichte begründete. Die „Artgemeinschaft“ wurde 1951 in Göttingen von Alfred Conn und Wilhelm Kusserow aus der Taufe gehoben, zwei Veteranen der „nordischen Bewegung“.

Die „Nordischen“ waren ein Teil der historischen völkischen Bewegung, in der „Rassen“-Theorie mit der Frage nach einer den „nordischen Rassen“ angemessenen Religiösität verknüpft wurde. Träger dieser zersplitterten Szene waren extrem rechte, antisemitische Milieus, männlich dominiert, in sozialer Hinsicht vorrangig kleinbürgerlich und mittelständisch. Während die Mehrheit der völkischen Bewegung ein von jüdischen Elementen bereinigtes Christentum anstrebte, hielt die Minderheit der „Nordischen“ eine völlige Überwindung des Christentums für notwendig. An dessen Stelle sollte ein aus heidnischen Vorlagen rekonstruierter Glauben treten.

Die Nazi-Machtübernahme 1933 wurde von der „nordischen Bewegung“ euphorisch begrüßt. Als sich abzeichnete, dass die Nazis ein Bündnis mit dem Christentum anstrebten, folgte Enttäuschung. Allerdings wurde mit Hans F. K. Günther eine Gallionsfigur der „nordischen Bewegung“ zum wichtigsten Rasseideologen des NS-Systems. 

Die „Artgemeinschaft“ schloss in der jungen Bundesrepublik unmittelbar an diese Szenerie an. Konkret setzte sich die Gruppe in die Tradition der frühen „Germanischen Glaubensgemeinschaft“ von 1913 und dockte an die „Nordische Glaubensgemeinschaft“ an, die Kusserow selbst 1927 gegründet hatte.

Die „Artgemeinschaft“ war zunächst vor allem ein Traditionsverein alternder antisemitisch-germanophiler Neuheid*innen. Eine Anbindung an den militanten Neonazismus war allerdings latent immer gegeben. Der umtriebige Hamburger Neonazi Jürgen Rieger wurde 1970 von Kusserow für die „Artgemeinschaft“ angeworben. Zehn Jahre später, 1980, sorgte Rieger für die Absetzung des greisen Kusserow. Von 1988 bis zu seinem Tod 2009 amtierte Rieger als Vorsitzender. 

Den ideologischen Kern bildete weiterhin die Rassereligion: Die „nordische Rasse“ selbst stand im Zentrum und wurde vergöttlicht, um so einen spirituellen und sittlichen Überbau zu den Erkenntnissen pseudowissenschaftlicher Rassenlehren bereitzustellen. Diesem weltlichen Programm von Rassenzucht und Euthanasie wurden Rituale wie Sonnenwendfeiern, Eheleiten oder Julfeiern an die Seite gestellt.

Die Gruppierung rückte unter dem Einfluss Riegers in das Zentrum des Neonazismus. Ab 1983 rief die (1994 verbotene) „Wiking Jugend“ (WJ) ihre Mitglieder zum Eintritt in die „Artgemeinschaft“ auf. Später wurden enge Beziehungen zu Mitgliedern der (2009 verbotenen) „Heimattreuen Deutschen Jugend“ (HDJ) unterhalten. Die Familien vieler Aktivist*innen des militanten Neonazismus waren Mitglieder der „Artgemeinschaft“, etwa die „Sippen“ von Sepp Biber oder der „Wiking-Jugend“-Familienclan der Nahraths. 

Die Funktion der „Artgemeinschaft“ lag darin, auf Grundlage ihrer Ideologie das Kernmilieu des Neonazismus zu festigen. An Treffen nahmen bis zu 350 Personen teil. Die Größe der Mitgliedschaft bewegte sich seit Jahrzehnten in einem niedrigen dreistelligen Bereich. Zuletzt sollen es 150 Personen gewesen sein. Auf Einhaltung des Arierparagraphen wurde geachtet: Wer Mitglied werden wollte, musste „überwiegend nordische Menschenart verkörpern“.

In den 1990er Jahren boten die „Hetendorfer Tagungswochen“ auf einem Gelände am Rande der Lüneburger Heide wichtige Begegnungsgelegenheiten. Ab den 2000ern wurden Treffen vielfach in einer Wanderherberge ("Hufhaus") im thüringischen Ilfeld ausgerichtet.

Die nach außen abgeschirmten Zusammenkünfte dienten der Bereitstellung einer Lebenswelt frei von Popkultur und anderen als schädlich eingestuften Einflüssen. Auf arglose Beobachter*innen hätten die Treffen einen zwar altmodischen aber harmlosen Eindruck machen können, nicht unähnlich manchen Mittelaltermärkten oder Wikingerfestivals: „Germanischer Sechskampf“, „Runenmagie“, Frauen in züchtigen langen Kleidern, spielende Kinder und Männer in weißen Hemden und Handwerker- oder Lederhosen. 

Die Treffen der Gruppe waren einerseits Familienzusammenkünfte, gleichzeitig aber auch Kontaktbörse und zum Teil sogar eine Art Radikalisierungsagentur für spätere RechtsterroristInnen. An der „Hetendorfer Tagungswoche“ 1997 nahm das spätere NSU-Mitglied Beate Zschäpe teil. Mitte der 2000er Jahre strömten Personen aus dem „Blood & Honour“-Netzwerk zu den „Artgemeinschaft“-Treffen, darunter der Brandenburger Maik Eminger. Der Name von Stephan Ernst, 2019 Mörder des Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke, stand mit dem Vermerk „ausgeschieden“ auf einem mit „Mitgliederliste“ betitelten Dokument der Gruppe aus dem Jahr 2012.

Nach Riegers Tod 2009 übernahm zunächst Axel Schunk den Vorsitz der „Artgemeinschaft“, gefolgt 2015 von Jens Bauer und ab 2021 Sabrina Seiferth. Die Gruppe blieb stabil und überstand interne Krisen. 2012 beispielsweise kam es zu Auseinandersetzungen, an deren Ende der in Hannover lebende „Artgemeinschafter“ Wilfried Hein wegen der Verbreitung von Aktfotos junger Mädchen in Kombination mit dem „Artgemeinschaft“-Logo aus der Organisation ausgeschlossen wurde. 

Die unveränderte politische Ausrichtung der Gruppe wurde deutlich, als Jens Bauer 2018 den NSU-Unterstützer Ralf Wohlleben - laut Zeit Online - nach dessen Entlassung aus dem Gefängnis bei sich zu Hause aufnahm.

Die Durchsuchungen im Zuge des Verbotsbeschlusses trafen zahlreiche „Artgemeinschaft“-FunktionärInnen wie die Vorsitzende Seiferth, den Vize-Vorsitzenden Alexander Donninger (Baden-Württemberg), Schatzmeisterin Ute Lukas (Bayern), den Ex-Vorsitzenden Bauer (Sachsen-Anhalt) und die ex-Vizechefin Julia Czaja (Nordrhein-Westfalen). In Oberhausen wurde die Wohnung von Jürgen Mosler durchsucht, Chefredakteur des „Artgemeinschaft“-Organs "Nordische Zeitung" und einst bekannt als Weggefährte und späterer Widersacher von Neonazianführer Michael Kühnen. Im Südbrandenburger Doberlug-Kirchhain traf es mit dem Wohnsitz von Rainer M. und Anita J. Angehörige einer weiteren, seit Jahrzehnten in die Organisation eingebundenen Sippe.

Die „Artgemeinschaft“ hatte vor geraumer Zeit eine Grafik markenrechtlich schützen lassen, auf der ein stilisierter Adler einen Fisch greift. Als Symbol für die Überlegenheit eines heidnischen Artglaubens über das Christentum ist dieses Motiv beispielsweise als Aufkleber an Autos beliebt. Nun ist die öffentliche Nutzung dieses Symbols nach dem Strafgesetzbuch verfolgbar (§86, Kennzeichen verbotener Vereinigungen).

Welchen Umgang die „Artgemeinschaft“ - Mitglieder mit dem Verbot finden werden, ist derweil noch nicht abzusehen. Als sicher kann gelten, dass es Versuche geben wird, einen Modus zu finden zur Weitergabe ihrer Ideologie, zur Fortführung ihrer Praktiken und zur Pflege ihres Netzwerkes. Denkbar wäre eine Annäherung an bestehende vergleichbare Vereinigungen wie den „Bund für Gotterkenntnis“, eine antisemitische Glaubensgemeinschaft, welche dem verquasten Verschwörungsglauben der 1966 verstorbenen Mathilde Ludendorff die Treue hält. 

Einige Vereinsgründungen, an denen „Artgemeinschaft“-Mitglieder beteiligt waren, kommen ebenfalls als Auffangbecken infrage. Dem 2020 etablierten „StiftungsWerk Zukunft Heimat“ beispielsweise steht mit Michael Seiferth der Ehemann der letzten „Artgemeinschaft“-Vorsitzenden vor. Die in der Satzung festgehaltenen Ziele klingen wie vorformuliert für eine Fortführung der „Artgemeinschaft“: „Brauchtumspflege, Heimatkunde, Familienförderung“. 

Während die Beiorganisation „Familienwerk e.V.“ vom „Artgemeinschaft“ -Verbotserlass miterfasst wurde, blieb indes der „Familienwerk Peeneraben e.V.“ bislang unangetastet. Diesem Verein steht „Artgemeinschafter“ Thomas Bredereck vor, dessen Wohnsitz in Lütow auf Usedom im Zuge des Verbotserlasses ebenfalls durchsucht wurde.