Der lange Arm der EU-Repression
Matthias Monroy (Gastbeitrag)Die grenzüberschreitende Polizeizusammenarbeit betrifft auch linke Aktivist_innen.
Mit dem 1997 unterzeichneten Vertrag von Amsterdam haben die damaligen EU-Staaten die Vergemeinschaftung ihrer Innenpolitik auf eine neue Stufe gehoben. Ein wichtiger Pfeiler ist der „Raum der Freiheit, Sicherheit und des Rechts“, der die Zusammenarbeit von Polizei und Justiz verbessern sollte. Auch die Entscheidungsverfahren wurden vereinfacht, indem die Regierungen mit einem sogenannten Rahmenbeschluss weitreichende Maßnahmen in allen Mitgliedstaaten durchsetzen konnten.
Eigentlich wurden im Vertrag von Amsterdam auch die Befugnisse des Europäischen Parlaments erheblich ausgeweitet, indem die Abgeordneten nunmehr in vielen Bereichen mitstimmen konnten. Für den „Raum der Freiheit, Sicherheit und des Rechts“ war dies jedoch erst mit dem 2009 geschlossenen Vertrag von Lissabon der Fall.
Eine der sichtbarsten Konsequenzen der neuen polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit war die Gründung von Agenturen. 1999 haben sich die EU-Staaten zuerst auf die Schaffung von Europol geeinigt. Auch als „Europäisches Polizeiamt“ bezeichnet, sollte die Behörde mit Sitz im niederländischen Den Haag Maßnahmen im Bereich der grenzüberschreitenden organisierten Kriminalität koordinieren und den Informationsaustausch zwischen den nationalen Polizeibehörden fördern. Diese Kompetenzen wurden nach 9/11 auf die Terrorismusbekämpfung und später auf die Bekämpfung von Cyberkriminalität sowie von „Schleusern“ ausgeweitet.
Seit 2007 gibt Europol jährliche „Trendberichte“ zu „Terrorismus und Extremismus“ heraus. Schon immer enthielten diese auch Kapitel zu „gewalttätigem Anarchismus“, vermutlich weil Europol mit diesen Bewegungen eine Rechnung offen hatte: Aus Italien oder Griechenland abgeschickt erhielt die Polizeiagentur mehrmals Briefbomben, zu denen sich anarchistische Gruppen bekannten. Als anarchistische Epizentren hat Europol damals Deutschland, Griechenland, Italien und Spanien ausgemacht. An diesem Fokus hat sich bis heute nichts geändert.
Zu den bekanntesten Rahmenbeschlüssen nach dem Vertrag von Amsterdam gehört der 2002 beschlossene Europäische Haftbefehl, mit dem ein nationaler Haftbefehl von einem „Anordnungsstaat“ in allen Mitgliedstaaten verteilt werden kann. Der Beschluss folgt dem „Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung“, wonach die Maßnahme vom Vollstreckungsstaat“ verpflichtend umgesetzt werden muss. Hierzu haben sich die Staaten auf eine Liste von 32 Straftaten oder Deliktsbereiche geeinigt, in denen ein Haftbefehl nicht mehr von einem Richter in dem ersuchten Staat, wo die Person festgenommen wird, geprüft wird. Auch die Auslieferung („Übergabe“) der Betroffenen muss dann zügig erfolgen.
Ausgeschrieben werden die Europäischen Haftbefehle im Schengener Informationssystem (SIS), das die EU-Staaten sowie Norwegen, Island, die Schweiz und Liechtenstein 1995 nach der Abschaffung der Kontrollen an ihren Binnengrenzen eingerichtet haben. Derzeit sind dort rund 90 Millionen Gegenstände und eine Million Personen zur Fahndung oder auch Einreiseverweigerung ausgeschrieben. Möglich sind im SIS auch Ausschreibungen zur
Observation, Kontrolle oder „Ermittlungsanfrage“. Geraten die Betroffenen in eine Polizei- oder Grenzkontrolle, erfolgt eine Meldung an die ausschreibende Behörde zu Aufenthalt, Reiseroute, Verkehrsmittel und Mitreisenden. Rund 160.000 Personen sind mit dieser Kategorie gespeichert, bei jährlich steigender Tendenz. Die meisten dieser Fahndungen stammen aus Frankreich, Deutschland steht an zweiter Stelle.
2008 haben sich die EU-Staaten auf den sogenannten Vertrag von Prüm geeinigt, an
dem auch die Schengen-Staaten beteiligt sind. Die Verordnung regelt die automatisierte Abfrage von Fingerabdruck- und DNA-Daten unter Polizei- und Zollbehörden aller Teilnehmer. So kann eine Polizeibehörde erfahren, ob zu einer unbekannten Person in anderen Ländern Informationen vorliegen. Dieses Verfahren wird zurzeit auf Gesichtserkennung erweitert, wobei die dabei genutzten Fotos aus erkennungsdienstlichen Behandlungen oder Asylanträgen stammen. Trotz Brexit nimmt auch Großbritannien an dieser digitalen Polizeikooperation teil.
Zum neuen Prüm-Rahmen gehört außerdem die Möglichkeit zur Abfrage von polizeilichen Ermittlungsakten. Auf die Einführung eines solchen Systems haben vor allem deutsche Regierungen seit den Nullerjahren immer wieder gedrängt. In der neuen Prüm-Verordnung wird dies nun als „Europäischer Kriminalaktennachweis“ (EPRIS) umgesetzt. Das öffnet die Tore für grenzüberschreitende politische Willkür, denn hier geht es um den bloßen Verdacht: Die Polizei in Polen kann darüber etwa in einem anderen Staat Informationen über Abtreibungsbefürworter sammeln, Behörden in Italien oder Griechenland können auf diese Weise als „Schleuser“ bezeichnete Fluchthelfer im gesamten Schengen-Gebiet ausforschen.
Nach Vorbild des Europäischen Haftbefehls haben die EU-Staaten 2017 die Richtlinie zur Europäischen Ermittlungsanordnung (EEA) beschlossen. Die jeweils zuständigen Justizbehörden eines „Anordnungsstaates“ können damit einen „Vollstreckungsstaat“ zur Erlangung und anschließenden Übermittlung von Beweisen auffordern. Möglich ist dies bei vorgeworfenen Straftaten wie der Beteiligung an kriminellen oder terroristischen Vereinigungen, dem Handel mit Drogen, Waffen oder gestohlenen Kraftfahrzeugen, „Beihilfe zur illegalen Einreise“ oder Sabotage.
Einmal angeordnet muss der „Vollstreckungsstaat“ dann etwa die Telekommunikation der betroffenen Personen überwachen, ihre Fahrzeuge mit GPS-Peilsender verfolgen, Finanztransaktionen ausspähen oder sogar verdeckte Ermittler einsetzen.
Neben dem offiziellen „Raum der Freiheit, Sicherheit und des Rechts“ arbeiten europäische Repressionsbehörden aber auch weiterhin im Halbdunkel zusammen. Zu den wichtigsten Formaten gehört die „Police Working Group on Terrorism“ (PWGT), in der sich die politischen Abteilungen von Polizeibehörden aller Schengen-Staaten seit 1979 organisieren. Die informelle Gruppe galt einst als Antwort auf linke bewaffnete Bewegungen. Nach Selbstauflösung dieser Gruppen in fast allen europäischen Staaten haben die Beteiligten der PWGT ihren Zweck auf den gesamten Bereich der politisch motivierten Kriminalität „einschließlich extremistischer Straftaten“ erweitert. Zwei Mal im Jahr (immer im Mai und November) trifft sich die Gruppe zur Konferenz, dort werden „aktuelle Geschehnisse und Phänomene mit Bezug zur politisch motivierten Kriminalität“ behandelt. Die angeschlossenen Behörden haben auf deutsche Initiative ab 1999 ein dezentrales System eingerichtet, um „Informationen zu Zwischenfällen schnell und genau auszutauschen“.
Die anfangs eher strategische Vernetzung dient spätestens seit der Jahrtausendwende auch zur „operativen Zusammenarbeit“.
Wie das funktioniert, wurde im Rahmen linker, grenzüberschreitender Proteste wie dem Grenzcamp in Brüssel 2010 oder dem G20-Gipfel 2017 in Hamburg bekannt. Dort hat das deutsche Bundeskriminalamt Personendaten über „polizeibekannte“ international agierende linke Aktivist_innen über den PWGT-Kanal erhalten.
Auch die offiziellen EU-Zusammenarbeitsformen von Polizei und Justiz betreffen immer wieder linke Aktivist_innen. So werden derzeit mehrere deutsche Beschuldigte wegen vorgeworfener Taten beim „Tag der Ehre“ 2023 in Budapest per Europäischem Haftbefehl gesucht. Mithilfe der Europäischen Ermittlungsanordnung wurden nach dem G20-Gipfel Hausdurchsuchungen in Frankreich und der Schweiz durchgeführt. Hunderte, vielleicht tau-
sende Linke könnten mit heimlichen SIS-Fahndungen ausgeschrieben sein. Der neue Prüm-Rahmen ermöglicht es der Polizei unbekannte Personen, wie nach dem G20-Gipfel 2017 in Hamburg mithilfe von Gesichtserkennung in Datenbanken aller Schengen-Staaten zu suchen.
Schließlich hat auch Europol linke Bewegungen verstärkt auf dem Radar: In ihrem aktuellen EU-Lagebericht zu Terrorismus hatte die Polizeiagentur unter der Überschrift „Linke und anarchistische terroristische Anschläge, Verhaftungen, Verurteilungen und Strafen“ erstmals auch die Kampagne „Abolish Frontex“ und die internationale „No-Border-Bewegung“ erwähnt. Zur Begründung hieß es, diese setzten sich „innerhalb des linksextremen und anarchistischen Spektrums“ für die Abschaffung von Grenzen und weltweite Freizügigkeit ein, die EU-Grenzagentur Frontex werde dabei „als Feindbild gesehen“.
Hier musste Europol jedoch – ebenfalls einmalig – eine Schlappe einstecken und eine neue Fassung des Berichts anfertigen, in der die antirassistischen Gruppen nicht mehr vorkommen. Wer diese Löschung beantragt hat, bleibt unklar. Offenbar hat es unter den 27 EU-Staaten Streit um die unterschiedliche Auslegung der Definition von „Terrorismus“ gegeben.