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„Reichsbürger“ in Gera: Die Zukunft von 1871

Einleitung

Am 6. April 2024 fand das „Große Treffen der Bundesstaaten“ in Gera statt. Zu dem „Reichsbürger“-Treffen reisten rund 1.000 Menschen aus der ganzen Bundesrepublik an. Es war bereits die dritte Veranstaltung der Reihe und damit eines der größten Treffen der Szene überhaupt.

Gera Reichsbürger

Knapp 3.000 Menschen sammelten sich im Sommer 2023 in einer Telegram-Gruppe mit dem Namen „Das große Treffen der Bundesstaaten“. Es war ein Versuch verschiedener Führungsfiguren der „Reichsbürger“-Szene jene Teile zusammenzuführen, die noch immer an die Gültigkeit der Verfassung von 1871 glauben. 

Bereits 2023 hatten diese Treffen in Magdeburg und Dresden stattgefunden. Die TeilnehmerInnen zahlen lagen hier bereits zwischen 700 und 1.200 Personen. Die 1.000 angereisten Menschen in Gera sprechen also für eine gewisse Stabilität der Szene-Mobilisierung. Gera gilt ohnehin als eine der Städte mit der größten und mobilisierungstärksten extrem rechten Mischszene in Deutschland. Hier ziehen Neonazis gemeinsam mit „Reichsbürgern“ und AfD an einem Strang. 

Kurz nach Beginn der Veranstaltung beschreibt der ostthüringer „Reichsbürger“ und AfD-Bündnispartner Frank Haußner in einem der zahlreichen Livestreams, wer aus seiner Sicht an diesem Tag in Gera zusammengekommen ist: „Das sind die Leute, die die Zukunft unseres Landes im Rahmen der noch gültigen Verfassung von 1871 sehen und die Politik Otto von Bismarcks sich zum Vorbild nehmen.“ Neben anderen Szenegrößen wie Matthes Haug, Hans-Joachim Müller, Frank Radon oder Frank Maier trat Haußner in Gera auch als Redner auf. Erst wenige Monate zuvor hatte der AfD-Politiker Björn Höcke Haußners Aktivitäten als „historischen Verdienst“ bezeichnet.

Neben der internen Mobilisierung kursierte online vor dem Treffen auch die Ankündigung eines „historischen Flaggenumzugs“. Offenbar versuchte die Szene so auch noch Menschen anzuziehen, die noch nicht fest eingebunden sind. In den vorangegangenen Jahren konnte die Szene ihren Zulauf über die Demonstrationen der Pandemie-LeugnerInnen erreichen. Vor allem über Verschwörungserzählungen haben sich so zahlreiche Menschen bis zur „Reichsbürger“-Szene radikalisiert. Dass die Szene nun nach den Jahren der Corona-Demos weiter in die Öffentlichkeit drängt zeigt, wie sehr hier ein Wandel stattgefunden hat. Waren es früher eher kleinere Treffen in Hinterzimmern und abgehalfterten Dorfkneipen, sucht die Szene nun verstärkt die Öffentlichkeit und hat sich merklich professionalisiert.

Von skurrilen TV Auftritten zu gut organisierten Großveranstaltungen

Bis 2016 und den tödlichen Schüssen auf einen SEK-Beamten in Bayern wurde die Szene von den Behörden zumeist in ihrer Gefährlichkeit unterschätzt. Auch im Fernsehen waren es eher skurrile Auftritte wie die des Antisemiten Norbert Schittke aus Niedersachsen, die für Belustigung sorgten. Die Gesamtdarstellung der Szene zielte auf ihre Absurdität und Lächerlichkeit ab. 

Vergleicht man dies mit der professionell anmutenden Organisation in Gera, zeigen sich wahrscheinlich die Erfahrungen, die die Szene während der Corona-Pandemie gemacht hat. Wochen vor der Veranstaltung wurde in den zugehörigen Telegram-Kanälen strukturiert an der Vorbereitung der Veranstaltung in Gera gearbeitet: Es gab Zuständige für die Ordnerstruktur, Skizzen für die Aufstellung der verschiedenen Demonstrationsteile, einen Ablaufplan und einen regen Austausch zur günstigen Beschaffung der dringend benötigten Fähnchen. Und nicht zuletzt die Organisation von Bussen und Fahrgemeinschaften. Auch die Durchführung in Gera zeigt den hohen Organisationsgrad der Szene. Ein fast zehn Meter hoher Bildschirm ist am 6. April vom ganzen Veranstaltungsort aus zu sehen, es gibt ein Pressezelt, Verpflegung, Wassertoiletten und Zelte, in denen selbstgebastelter Reichskitsch gegen Spende erworben werden kann. Die gesamte Veranstaltung wurde von einem Moderator begleitet. Nicht zuletzt deuten dieser hohe und professionalisierte Organisationsgrad auch auf vorhandene Finanzmittel hin, die der Szene zur Verfügung stehen.

Zwischen Reichserzählungen und dem Kampf gegen die BRD

Das Sammelsurium der Redner bot alles dar, was aus der „Reichsbürger“-Szene seit Jahren bekannt ist. Zwischen einem oberlehrerhaften Matthes Haug, der mal eben kurz die Eckpunkte der historischen Entwicklungen seit 1871 darlegte, über Hans-Joachim Müller, dessen stets etwas wirr wirkenden Einlassungen ein Mix aus zahlreichen bekannten Verschwörungserzählungen bilden, bis zu Frank Haußner, der gerahmt von Verschwörungsideologie sein politisch-strategisches Ziel deutlich auf den Punkt brachte: „Auf den Trümmern links-grün-regenbogenfarbener Dekadenz bauen wir eine Gesellschaft freier und selbstbestimmter Menschen auf. Wir werden wieder Menschen sein und keine Sachen und kein Personal“, so Haußner. Und um dieses Ziel zu erreichen, müsse man Veränderungen anstoßen, in den Menschen und deren Familien. „Diese Veränderung wird sich in der Bildung von Gemeinschaften fortsetzen und sich zu kommunaler Selbstverwaltung entwickeln. Aus dieser kommunalen Selbstverwaltung heraus entsteht die Parallelstruktur zum gegenwärtigen Lügenkonstrukt auf deutschem Boden. Es entsteht ein neues Deutschland, denn für uns ist klar, diese BRD ist nicht unser Deutschland“, so Haußner weiter. Die Redner lieferten eine Mischung aus bekannten „Reichsbürger“-Erzählungen, Verschwörungsglauben und einer deutlichen Bezugnahme auf aktuellere politische Entwicklungen.

In Gera zeigte sich, dass der Kampf der „freien Menschen“ irgendwo zwischen der Rückkehr zu „ihrem Deutschland“ von 1871, dem Kampf gegen „Genderideologie“ und Migration und allgemeiner „links-grüner Ideologie“ liegt. Vor Ort scheinen alle gewusst zu haben, was diese Schlagworte genau meinen. Man könnte sagen: Die Szene hat sich über die vergangenen Jahre „aktueller politisiert“. Ohnehin dürfte das Treffen eher der Selbstvergewisserung, der Vernetzung und damit der Stabilität der Szene dienen, als dem Erlangen neuer Erkenntnisse durch die gehaltenen Reden.

Gera: „Reichsbürger“ zwischen De-Legitimierung und Terror

Die „Reichsbürger“-Szene war schon seit Anbeginn geprägt durch ihre große Heterogenität. Das ideologische Angebot bietet für jeden Interessierten eine eigene Auslegung. Machtkämpfe sowie persönliche Konflikte trugen immer wieder ihr Übriges zur Zersplitterung der Szene bei. Im Kern hat sich dies auch kaum geändert. 

In den letzten Jahren haben sich vor allem im Rahmen der Corona-Pandemie verschiedene strategische Entwicklungen gezeigt. Ein Teil hat nach dem versuchten Sturm des Bundestages gemerkt, dass diese Strategie mit den aktuellen Ressourcen nicht gelingen kann und sich strategisch auf die De-Legitimierung des aktuellen Systems ausgerichtet. Hierzu gehören hunderte Telegramkanäle, Youtube-Formate, Vorträge und auch Großveranstaltungen. Ebenso die fast sektenartigen Strukturen eines Peter Fitzek ("Königreich Deutschland"). Ein anderer Teil der Szene hat sich über die Corona-Pandemie weiter radikalisiert und den Weg zum „militärischen“ Widerstand gewählt. Dazu gehören offenbar auch die mutmaßlichen Putschisten der „Gruppe Reuß“. Auch in Gera gab es immer wieder Bezugnahmen auf den inhaftierten Prinzen, und verschiedene Aktionen und Solidaritätsbekundungen zeigten in den letzten Monaten, dass große Teile der „Reichsbürger“-Szene dem Prinzen weiterhin verbunden sind.

Die politischen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen der kommenden Monate werden zeigen, wohin sich die Szene entwickelt. Zumindest ihre Stichwortgeber sind auf den Erhalt des permanenten Bedrohungsszenarios und der Mobilisierung gegen die „Machthaber“ angewiesen, denn nur so können auch ihre Geschäftsmodelle am Leben erhalten werden. 

Im Kern dürften „Reichsbürger“ als Krisensymptom zu verstehen sein. Die Flucht in verschwörungsideologische Parallelstrukturen und die Abwendung von rationalen Diskursen dürfte neben individualpsychologischen Situationen auch mit einer als krisenhaft empfundenen politischen, gesellschaftlichen und ökonomischen Gesamtsituation korrespondieren.