Frankreich: „Wir befürchten das Schlimmste für die kommenden Tage und Wochen“
Calais Border Monitoring (Gastbeitrag)Interview mit „Utopia 56“ über die mögliche Machtübernahme der extremen Rechten in Frankreich und die Auswirkungen auf Geflüchtete und jene, die sie unterstützen. Das Interview ist am 1. Juli 2024 bei „Calais Border Monitoring“ erschienen.
Am Tag nach der ersten Runde der Parlamentswahlen fragten wir „Utopia 56“ nach dem Rechtsruck in Frankreich und den Folgen einer möglichen Regierungsübernahme durch den extrem rechten „Rassemblement National“ (RN). Célestin Pichaud von „Utopia 56“ in Grande-Synthe (Region Hauts-de-France, Nordfrankreich) erklärt, welche Auswirkungen das Szenario bereits hat und was eine RN-Regierung für die Geflüchteten und ihre Unterstützer_innen bedeuten könnte.
Calais Border Monitoring: Hat sich nach der Europa-Wahl die Situation in Dunkerque bzw. Grande-Synthe verändert?
Célestin Pichaud: Am 14. Juni hat die Organisation Roots (eine Grassroots-NGO, die sanitäre und hygienische Grundversorgung bereitstellt), die sich um den Wasserzugang im Camp Loon-Plage nahe Dunkerque kümmert, festgestellt, dass einer ihrer 1000-Liter fassenden Wasser-Tanks mit einer blauen Flüssigkeit verunreinigt wurde. Die Organisation meldete dies und derzeit wird die Flüssigkeit durch die französische Polizei analysiert. Glücklicherweise wurde niemand verletzt und auch niemand hat von der Flüssigkeit getrunken, doch gab es eindeutig die Absicht, dem Inhalt der Tanks und möglicherweise den Menschen Schaden zuzufügen.
Ich weiß nicht, ob dies in einem Zusammenhang mit den Europa-Wahlen steht, aber es ist fünf Tage nach den Wahlen passiert. Die Stadt im Norden, die am meisten von Gewaltakten gegen Geflüchtete betroffen ist, ist Calais. Dort gab es Steinwürfe, Beleidigungen, mit einer uunbekannten Substanz gefüllte Ballons, die auf Geflüchtete geworfen wurden, rassistische und xenophobe Graffitis und Todesdrohungen an der Hauswand einer Hausbesetzung. Diese Aktionen fanden ebenfalls nach der Auflösung der Nationalversammlung infolge der Europa-Wahlen statt. Wir befürchten das Schlimmste für die kommenden Tage und Wochen mit diesem alarmierenden Aufschwung der extremen Rechten in Frankreich, sowohl für Geflüchtete als auch für ihre Unterstützer_innen.
CBM: Wie präsent ist der „Rassemblement National“ (RN) – und beeinflusst das bereits eure Arbeit?
CP: Der RN ist sehr präsent in Nordfrankreich. Die Partei erzielte ihre vierthöchsten Wahlergebnisse in ihrer historischen Hochburg Pas-de-Calais: Marine Le Pen erhielt dort 58,04, Thierry Frappé 60,6 und Bruno Bilde 59,24 Prozent. Sébastian Chenu erzielte 58,32 Prozent in der Region Nord (dem bevölkerungsreichsten Département in Frankreich).
Der RN beeinflusst unsere Arbeit durch seine bloße Existenz. Wir sind besorgt über gewalttätige Aktionen von RN-Unterstützer_innen gegen Geflüchtete und ihre Unterstützer_innen. Wie bereits erwähnt, waren die Ereignisse der letzten Wochen von beispielloser psychischer und physischer Gewalt geprägt. Wir haben auch Angst um die Unterstützenden vor Ort und befürchten, dass extrem-rechte Aktivist_innen ihnen gegenüber gewalttätig werden könnten.
Seit über 30 Jahren ist die Politik an der Französisch-Britischen Grenze geprägt durch Repression, mangelnde Gastfreundschaft und Missachtung fundamentaler Grundrechte. Sie unterscheidet sich kaum von den Forderungen der extremen Rechten. Tatsächlich sind einige der Maßnahmen, die der RN umsetzen könnte, in Nordfrankreich faktisch bereits in Kraft und wirken sich bereits auf die Menschen und unser Handeln aus.
Zum Beispiel das Verwehren des Zugangs für Organisationen zu Orten, an denen Vertriebene sind, sowie die Missachtung grundlegender Rechte, insbesondere des Zugangs zu Wasser, Hygiene und sanitären Einrichtungen.
CBM: Was würde es für „Utopia 56“ bedeuten, wenn Frankreich eine extrem-rechte Regierung bekäme? Ein Medienunternehmen betitelte bereits einen Artikel mit der Frage: „Sollte Utopia 56 aufgelöst werden?”.
CP: Eine extrem-rechte Regierung in Frankreich könnte viele Konsequenzen für „Utopia 56“ haben: die Möglichkeit aufgelöst zu werden, die Wahrscheinlichkeit, dass unsere Aktivitäten illegal würden und immer größere Hindernisse für unsere Arbeit. Aber über „Utopia 56“ hinaus würde es zunehmende Unsicherheit für Menschen auf der Straße, insbesondere für Geflüchtete und noch mehr institutionelle Gewalt gegen sie bedeuten, gekennzeichnet durch mangelnde Unterstützung und absichtliche Gefährdung aufgrund der umgesetzten Politik.
Seit unserer Gründung haben wir gemerkt, dass Repression Menschen nicht davon abhält, Risiken einzugehen, im Gegenteil. Je mehr polizeiliche Maßnahmen es gibt, umso höhere Risiken gehen Menschen ein, wie die Abfahrt von weiter entfernten Orten beispielsweise. Am 1. Mai 2024 wurden Menschen vor der Küste von Dieppe (Département Seine-Maritime) gerettet, eine Strecke, die viermal so lang und damit deutlich gefährlicher ist. Oder es kommt zu überstürzten Abfahrten, die zu chaotischen Situationen führen, mit mehr Menschen in Booten usw.
Wir stellen auch fest: Je höher das Risiko ist, das die Menschen auf sich nehmen, desto mehr Tote gibt es. Von Anfang Januar bis Ende Juni 2023 haben wir keine Todesfälle auf See oder am Strand beobachtet, während im gleichen Zeitraum 2024 mindestens 16 Menschen auf See oder an den Stränden gestorben oder verschollen sind. Letztendlich reduziert die Repression nicht die Zahlen der Überfahrten: Im ersten Halbjahr 2023 sind, laut
offiziellen Zahlen der Regierung, 11.433 Menschen im Vereinigten Königreich angekommen und im ersten Halbjahr 2024, ebenfalls laut offiziellen Zahlen, 13.500.
Die aktuelle Grenzpolitik an der Französisch-Britischen Grenze ist bereits zum Schlimmsten fähig, aber eine extrem-rechte Regierung würde diese Gewalt verstärken und zu einer noch größeren menschlichen Tragödie führen.
Wie auch immer, es würde nicht das Ende unseres Kampfes gegen extrem rechte Ideen und für Grundrechte, für Freiheit und die Würde des Menschen und für menschliche Werte bedeuten.
CBM: Was wären die Konsequenzen für Menschen auf der Flucht?
CP: Würde eine extrem rechte Regierung in Frankreich Realität werden, so hätte dies ernsthafte Auswirkungen für Menschen auf der Flucht:
1. Zunehmende Prekarisierung: Die prekären Zustände für Geflüchtete würden sich verschlimmern. Die Maßnahmen würden vermutlich noch weit restriktiver werden und zu einem mangelnden Zugang zu Grundbedürfnissen und Grundrechten wie Nahrung, Wasser, Unterkunft und medizinischer Versorgung führen. Es ist wichtig festzustellen, dass diese „not welcome”-Politik in Frankreich bereits umgesetzt wird.
2. Zunehmende Gewalt: Institutionelle Gewalt gegen exiled people würde vermutlich zunehmen. Dazu gehören mehr aggressive Polizei-Kontrollen sowie mehr gewalttätige und unbehelligte Festnahmen und Abschiebungen.
3. Rechtliche und administrative Hürden: Legale Möglichkeiten um Asyl zu suchen und andere Formen des Schutzes könnten bedeutend reduziert oder beendet werden. Bürokratische Hürden würden zunehmen und es Betroffenen noch schwerer machen, sich durch das Verwaltungssystem zu navigieren um ihre Rechte geltend zu machen.
4. Zwangsweise Rückführungen: Es würde wahrscheinlich zu einer Zunahme von Zwangsrückführungen in unsichere Länder kommen. Die Bedingungen in provisorischen Lagern und Verwaltungshaftzentren würden sich verschlechtern, was zu mehr Menschenrechtsverletzungen führen würde.
5. Verschlechterung der geistigen und körperlichen Gesundheit: Der Stress und das Trauma, die mit zunehmender Unterdrückung und Unsicherheit einhergehen, hätten schwerwiegende Auswirkungen auf die geistige und körperliche Gesundheit der im Exil lebenden Menschen.
6. Abhängigkeit von Schmuggler_innen: Wenn legale Wege versperrt werden, könnten sich mehr Menschen den Schmuggelnden zuwenden, was ihre Verletzbarkeit und Risikobereitschaft erhöht.
7. Soziale Auswirkungen: Die durch die rechtsextreme Politik angestachelte Feindseligkeit und Fremdenfeindlichkeit würde die sozialen Spannungen verschärfen und zu mehr Gewalttaten und Diskriminierung seitens der “normalen Bevölkerung” führen.
8. Auswirkungen auf Hilfs-Netzwerke: Organisationen und Freiwillige, die Menschen auf der Flucht unterstützen, würden verstärkter Repression ausgesetzt sein, darunter rechtliche Schritte, Geldstrafen und die mögliche Auflösung der Organisation. Dadurch würden Menschen in Not noch weiter von lebenswichtiger Hilfe und Unterstützung abgeschnitten sein.
Zusammengefasst würde eine extremrechte Regierung für ein Klima der zunehmenden Feindseligkeit gegenüber und der Gefahr für die Menschen auf der Flucht sorgen, was zu einer massiven Verschlechterung der Lebensumstände und zur Untergrabung ihrer grundlegenden Menschenrechte führen würde.
CBM: Was müsste passieren, wenn der RN an die Macht käme?
CP: Wir müssen weiterhin Widerstand leisten, Missstände anprangern und für ein würdiges, vereintes und bedingungsloses Willkommen kämpfen. Es ist von elementarer Bedeutung, Verbindungen zwischen Menschen zu knüpfen, da die Ideen der extremen Rechten auf Ignoranz und Angst fußen. Die Förderung von Begegnung, Austausch und Zusammenarbeit ist entscheidend. Dies erfordert die Überwindung der Vereinzelung, die das gegenwärtige System fördert, für den Aufbau von etwas Neuem und Besserem.
Erstveröffentlichung: https://calais.bordermonitoring.eu/2024/07/01/we-fear-the-worst-for-the…