Neonazi-Überfall vor Antifa-Demonstration: Auswertung und Ausblick
Antifaschist*innen aus Hellersdorf (Gastbeitrag)Am 6. Juli 2024 fand die Demonstration „Nach den Rechten schauen“ im Berliner Bezirk Marzahn-Hellersdorf zum zweiten Mal statt. Die Demonstration versucht einen Gegenpol zur zunehmenden neonazistischen Raumnahme und Gewalt im Bezirk zu bilden. Im Vorfeld der Demonstration kam es zu einem gewalttätigen Übergriff von Neonazis auf den Anreise-Treffpunkt. Über diesen Angriff, die nachfolgende Demonstration und was wir daraus für die Zukunft lernen können, soll es in diesem Gastbeitrag von Antifaschist*innen aus Hellersdorf gehen.
Neonazi-Aktivitäten im Bezirk
Die Neonazi-Kaderpartei „Der III. Weg“ nutzt den gesellschaftlichen Rechtsruck und ihre historische Verankerung in Marzahn-Hellersdorf gezielt aus und hat den Bezirk zu einem Hotspot ihrer Aktivitäten erklärt. Das bedeutet zum einen regelmäßige Propaganda-Aktionen und häufige Treffen an öffentlichen Orten. Insbesondere die Jugendorganisation „National Revolutionäre Jugend“ (NRJ) probiert sich hier aus. Rechte und/oder gewaltaffine Jugendliche werden gezielt und erfolgreich angesprochen, wodurch die NRJ stetig wächst. Damit steigt auch die Bereitschaft zu immer gewagteren und gewalttätigen Aktionen, darunter gezielte Angriffe mit schweren Körperverletzungen und Raubüberfälle auf politische Gegner*innen.
Solche Vorfälle gibt es vor allem in den Berliner Bezirken Marzahn-Hellersdorf und Pankow. Diesen Teufelskreis gilt es langfristig zu durchbrechen, um den Neonazis die Bezirke wieder streitig zu machen.
Neonazi-Angriff am Ostkreuz
Öffentlich beworben trafen sich Antifaschist*innen um 16.10 Uhr am Berliner S-Bahnhof Ostkreuz, um gemeinsam zur Demonstration nach Hellersdorf zu fahren. Punkt 16.10 Uhr griffen 15 bis 20 Neonazis den Vortreffpunkt an. Sie marschierten in Zweierreihen, waren ver-mummt und bewaffnet mit Holzknüppeln, Schlagstöcken, Handschuhen und Pfefferspray. Geschlossen prügelten sie auf die dort wartenden Personen ein. Dabei schlugen sie gezielt gegen Köpfe und ließen auch von bereits am Boden liegenden Personen nicht ab, bis sie sich organisiert zurückzogen. Weder Cops noch Antifas konnten die Neonazis nach dem Überfall im Kiez wiederfinden. Es ist davon auszugehen, dass es entweder einen sicheren Rückzugsort oder eine Flucht mit Autos gab. Dafür spricht, dass am Abend nach der Demonstration noch eine weitere Person in Hellersdorf aus einem Auto heraus überfallen wurde. Auch bei einer Razzia gegen NRJ-Akteure circa zwei Wochen später wurde ein Auto beschlagnahmt.
Auch wenn diese neue Eskalationsstufe der Gewalt viele Menschen in Berlin überrascht hat, war sie abzusehen. Die Gewalt durch Neonazis und insbesondere durch die NRJ hat in den letzten Monaten und Jahren zugenommen und es kam zu geplanten Angriffen auf Menschen in den Randbezirken. Der Organisierungsgrad des Angriffs und die Präzision, mit der er durchgeführt wurde, sind eine neue Stufe der Gewalt, die aber vorhersehbar war.
„Der III. Weg“ und seine Jugendorganisation NRJ veranstalten regelmäßig Kampfsporttrainings. Darüber hinaus pflegen sie gute Kontakte in die Ultra- und Hooliganszene des Fußballclub BFC Dynamo.
Dass wir als antifaschistischeSzene von diesem Angriff überrascht wurden, ist also eher unserer eigenen Naivität und Selbstüberschätzung geschuldet - und dem Sicherfühlen im eigenen Szenebezirk.
„Der III. Weg“ und die NRJ bilden eine gewaltaffine, militante und durchorganisierte Neonazi-Struktur, die aktiv den Kampf auf der Straße sucht und dabei überall zuschlagen kann. Bei einer Razzia knapp zwei Wochen nach dem Überfall am Ostkreuz, bei der zehn Wohnungen von Neonazis aus dem Kreis der NRJ in Berlin, Brandenburg und Sachsen durchsucht wurden, beschlagnahmten die Cops mobile Endgeräte, verschiedene Kleidungsstücke, Schreckschusswaffen, Schlagwerkzeuge und Elektroschocker.
Demonstration
Den Angriff am Ostkreuz nutzten die Cops, um Anreisende zur Demonstration zu durchsuchen und zu kriminalisieren. Zur angeblichen Gefahrenabwehr oder mit anderen fadenscheinigen Begründungen wurden mitgebrachte Regenschirme und Fahnen konfisziert und sichergestellt. Die Demonstration verlief dann trotz des vorangegangenen Angriffs und des schlechten Wetters äußerst kraftvoll mit circa 230 Teilnehmenden durch Hellersdorf. Wie erwartet bewegten sich mehrere Neonazi-Gruppen im Umfeld der Demonstration. Zwei von ihnen versteckten sich im Gebüsch, um Fotos von der Demo zu machen.
Ein Blick in die Zukunft
In den letzten Jahren hat die Gewalt der Neonazis stetig zugenommen. Allein im letzten Jahr hat ein Personenkreis um den „Der III. Weg“ Demonstrationen und Projekte in Mitte, Hellersdorf und Pankow angegriffen. Allen sollte klar sein, dass diese Angriffe nicht einfach aufhören werden. Die Zeiten werden rauer, darauf müssen wir uns einstellen. Wir können nicht einfach entspannt auf Demonstrationen gehen und die Demonstration beginnt auch nicht erst vor Ort. Unsere aktuellen Demo-Strategien reichen nicht mehr. Der Schutz und die Verteidigung von Demonstrationen und deren Anreisen ist die Aufgabe von allen Teilnehmenden. Jede Person und jede Gruppe, die auf eine Demonstration geht, muss sich individuell vorbereiten.
Wir müssen neue Strategien entwickeln und erlernen. Ein wichtiger Schlüssel dafür ist ein Austausch mit aktiven Genoss*innen aus den 1990er und 2000er Jahren, um deren Taktiken zu erlernen und anzuwenden. Denn mit diesen Taktiken konnten Neonazis damals erfolgreich zurückgedrängt werden. Um diesen Kampf erfolgreich aufnehmen zu können, ist es jedoch wichtig, dass wir uns langfristig organisieren, um besser aufeinander Acht zu geben und füreinander da zu sein. Auch eine gemeinsame Vorbereitung auf bestimmte Szenarien klappt besser in festen Gruppen, als in eher losen Bekanntschaften oder Zusammenhängen.
Ein paar konkrete Hinweise
Zum Abschluss wollen wir noch einmal auf ein paar konkrete Punkte eingehen, die unserer Meinung nach eigentlich klar sein sollten, die wir dennoch allen noch einmal ins Gedächtnis rufen wollen.
1. Antifa ist HandARBEIT und diese Arbeit muss auch irgendjemand machen. Eine Demonstration/Kundgebung/Veranstaltung ist kein Event, an dem man teilnehmen kann, sondern lebt von der Beteiligung aller. Das kann bedeuten, dass man als Gruppe ein eigenes Transpi/Fahnen/Regenschirme mitnimmt und diese einsetzt oder aber, dass man sich im Vorfeld einer Aktion bei den Organisator*innen meldet und fragt, wo noch Unterstützung benötigt wird.
2. Der Schutz vor Neonazi-Angriffen ist die Aufgabe von uns allen und kann nicht an eine Schutzstruktur ausgelagert werden. Sprecht mit euren Bezugis1 darüber, wie ihr euch im Falle eines Angriffes verhalten wollt. Besucht Trainings oder Veranstaltungen dazu und bereitet euch entsprechend vor. Seid wachsam, wenn ihr auf Demonstrationen oder Kundgebungen unterwegs seid und verlasst euch nicht ausschließlich auf andere.
3. Kennt eure Neonazis, das heißt informiert euch auf Rechercheportalen über die lokalen Neonazis. Gesichter zu erkennen hilft nicht nur dabei, Neonazis als aktive Gefahr zu erkennen, sondern auch ihre Strukturen aufzudecken. Meldet Beobachtungen über Neonazis an Rechercheportale oder an eure lokale Antifa-Gruppe.
4. „Der III. Weg“ betreibt Recherchearbeit über Antifaschist*innen und Linke. Dazu machen Kader des „Der III. Weg“ Fotos von linken Veranstaltungen, Neonazis rauben aber auch gezielt Menschen aus, um über deren Handys oder Notizbücher an weitere Informationen zu kommen. Lasst also Dinge, die ihr nicht braucht Zuhause, macht euch Gedanken darüber, welche Informationen ihr wie speichert und verkleinert eure Angriffsfläche so weit wie möglich. Das ist auch im Zuge der zunehmenden Repression gegen Antifaschist*innen eine sinnvolle Maßnahme.
Viele dieser Maßnahmen und Strategien sind nicht neu, sondern wurden in den 1990er und 2000er Jahren entwickelt und erprobt, und gehörten lange zum Standard antifaschistischer Bewegungen. Lasst uns gemeinsam wieder dahin zurückkommen.
Für eine neue (alte) autonome Antifa!
Bei Fragen, Anregungen oder Kritik schreibt uns gerne an: antifa_627 [at] riseup.net
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