"Sturmlokale" als "Vorposten im Bürgerkrieg"

Das NBZ-Konzept
1991 veröffentlichte die Zeitschrift „Vorderste Front“, eine NPD Hochschulzeitung, das Konzept der „National befreite Zonen“ (NBZ). Der Inhalt: Die Schaffung von Treffpunkten, Vierteln, Dörfern und Städten, in denen Neonazis eine solche Machtstellung einnehmen, dass nichts mehr gegen deren Einverständnis geschehen kann. „Wir sind drinnen, der Staat bleibt draußen. […] Befreite Zonen sind sowohl Aufmarsch- als auch Rückzugsgebiete für die Nationalisten Deutschlands. […] Aus militanter Sicht befinden wir uns dann in einer befreiten Zone, wenn wir nicht nur ungestört demonstrieren und Info-Stände abhalten können, sondern die Konterrevolutionäre dies genau nicht tun können.“ (Zitiert nach AIB Nr. 94, 1.2012)
Gescheiterte Umsetzung
An Versuchen hat es seitdem nie gemangelt: Die Weitlingstraße in Berlin-Lichtenberg, der „Club 88“ in Neumünster, parallel auch die Gaststätte Titanic, das "Café Germania" in Berlin, einige Straßen und Orte in Dortmund-Dorstfeld, das Haus der „Identitären Bewegung“ in Halle und ungezählte völkische und extrem rechte Raumnahmen und Ansiedlungen in Ostdeutschland, von denen Jamel nur die Spitze des Eisbergs ist.
Es gelang der Neonaziszene jedoch nie das NBZ-Konzept zu realisieren oder dauerhaft und ungestört eine kulturelle Hegemonie an diesen Orten zu etablieren – denn antifaschistische Gruppen machten immer schnell und konsequent auf die Raumnahmeversuche aufmerksam und organisierten Öffentlichkeit und Widerstand. Was jedoch passiert, wenn der Staat und Antifaschist:innen sich nicht gegen die Neonaziszene durchsetzen können, zeigt ein Blick in die Geschichte.
Vorbild: "Sturmlokal"
Das Konzept der „National befreiten Zonen“ ist nur brauner Wein in, nicht mehr wirklich, neuen Schläuchen. Ab 1929 begann die nationalsozialistische „Sturmabteilung“ (SA) in allen Städten Deutschlands eigene Treffpunkte zu eröffnen – die sogenannten „Sturmlokale“. Diese wurden häufig in Viertel eröffnet, wo die Arbeiterbewegung besonders stark war – wo die NSDAP also nicht damit rechnen konnte auf gute Wahlergebnisse zu kommen oder Unterstützung der Nachbarn zu erhalten. Aber genau die Konfrontation war es, die man suchte. Der Kit der Gewalt im gegnerischen Viertel vergemeinschaftete die SA-Männer, machte Eindruck im nationalistischen Bürgertum – und nährte den Ruhm der angeblich "furchtlosen Kämpfer gegen den Marxismus". Es wurde ein „Vorposten im Bürgerkrieg“, eine „uneinnehmbare Festung“ im Kampf gegen die eigenen Nachbarn.
In einer Selbstdarstellung des „Sturm 33“ aus Berlin-Charlottenburg hieß es: „Ständig stehen Wachen vor dem Lokal, und in der näheren Umgebung gehen Streifen. Außerdem sind dauernd Fahrzeuge, Autos oder Motorräder vor dem Lokal bereit. In den ersten Tagen gelingt den Kommunisten die Lokalfenster einzuwerfen und SA-Männer zu überfallen. Dann wird es anders. Jeder Angriff des Gegners wird mit schwersten Verlusten für ihn abgeschlagen. Ein Kommunist wird erschossen, zwei verletzt. Da endlich wird es ruhiger in Charlottenburg; der Gegner weiß, daß er sich an uns die Zähne ausbeißt“.
Allein im Jahr 1931 wurden in Deutschland fast 3000 Linke (die meisten Kommunisten und Sozialdemokraten) durch SA-Gewalt verwundet oder sogar getötet. Diese Gewalt geschah direkt in den Wohngebieten wo häufig die „Sturmlokale“ die Ausgangspunkte waren, da die Geschehnisse auf und um Versammlungen und Demonstrationen deutlich besser von der Polizei kontrolliert werden konnten.
Antifaschisten in den Stadtvierteln standen vor einem Dilemma: Ließen Sie die SA in den Vierteln gewähren, errichtete diese dort „Sturmlokale“ und begann systematisch die angrenzenden Straßen zu kontrollieren, Versammlungen abzuhalten und neue Anhänger zu rekrutieren. Ging man aber gegen die SA-Männer und ihre Treffpunkte vor, hatte man nicht nur bis an die Zähne bewaffnete Gegner vor sich – sondern auch gleichzeitig die Polizei, welche die Antifaschisten anklagte und teils für viele Monate ins Gefängnis steckte.
Versuche, durch Mietboykotts die Hauseigentümer zum Rauswurf der Nazis zu bewegen, scheiterten, da die Wohnungsnot so groß war, dass das Risiko von Obdachlosigkeit für die eigene Familie einfach zu groß war.
Erst die Kneipe, dann das Viertel
Was passierte, wenn es den Antifaschisten vor Ort nicht gelang, den sich ansiedelnden SA-Sturm früh wieder zu vertreiben, macht ein Beispiel aus Berlin-Kreuzberg deutlich. Der „SA-Sturm 27“ hatte 1929 in der Wiener Straße das Lokal „Kock“ als sein erstes Sturmlokal in der Gegend übernommen. Doch die lokale Gruppe des „Rotfront Kämpferbundes“ (RFB) zertrümmerte die Einrichtung und verhinderte so die Weiternutzung als „Sturmlokal“. Doch wenige Monate später unternahm die SA den nächsten Versuch – einen Häuserblock weiter. Die Auswirkungen auf die Nachbarschaft wurden sofort deutlich: Ein Hakenkreuz zierte von nun an die Häuserfassade. Die nahegelegene Kreuzberger Synagoge wurde mit Hakenkreuzen und antisemitischen Parolen beschmiert, regelmäßig wurden linke Lokale in der Gegend von SA-Männern belagert und im Dezember unternahm der „SA-Sturm“ einen Überfall auf ein bekanntes KPD-Lokal in der gleichen Gegend, bei dem ein Besucher des Lokals erschossen und mehrere andere schwer verwundet wurden. Nach 1933 wandelte die SA ihr „Sturmlokal“ in ein "wildes KZ" um und misshandelte und folterte politische Gegner. Ein einziger Nazitreffpunkt in einer eigentlich linken Gegend sorgte dafür, dass ein ganzes Viertel für Antifaschisten unsicher wurde.
Antifa bleibt Handarbeit
Ein zeitlicher Sprung ins heute. Auch im thüringischen Eisenach wurde über viele Jahre eine Raumergreifungsstrategie der extremen Rechten verfolgt. Zwei Immobilien, das „Bulls Eye“ und das „Flieder Volkshaus“, waren Anlaufpunkte für die örtliche und bundesweite Neonaziszene und Ausgangspunkt von rechten Übergriffen bzw. ein Ort für deren Planung. Graffiti, Aufkleber, Neonazi-Veranstaltungen, Kampfsporttrainings und Konzerte schufen sowohl die Basis der permanenten Rekrutierung von neuen Anhängern, als auch eine Atmosphäre der Bedrohung im Viertel. Der Kreis um die Neonazi-Gruppe „KnockOut51“ (vgl. AIB Nr. 144) führte mehrere Angriffe auf Antifaschisten und Polizisten durch, war mit internationalen Terrorstrukturen wie der „Atomwaffendivision“ verflochten und plante gezielte Tötungsaktionen gegen Linke.
Die Stadt reagierte hilflos und versuchte die extrem rechten Jugendlichen unter anderem mit städtisch unterstützten Graffiti-Aktionen wieder in die Stadtgesellschaft zu „integrieren“. Das Gewaltmonopol ging so nach und nach auf die örtliche Neonaziszene über. Antifaschist*innen versuchten daher im Oktober 2019 sich dieser Entwicklung entgegenzustemmen und die Gewalteskalation der Eisenacher Neonazis zu stoppen. Das „Bulls Eye“ und deren Betreiber, der Anführer von „KnockOut51“ Leon Ringl, wurden angegriffen. Einige Antifaschist*innen, die versucht haben sollen sich der örtlichen Gewalt in den Weg zu stellen und eine Art „Nationalbefreite Zone“ zu verhindern, sehen sich massiver Repression ausgesetzt: Vielen drohen Gerichtsverfahren, einige wurden bereits verurteilt oder befinden sich derzeit (Stand: März 2025) in Untersuchungshaft. Doch ironischerweise hatten die Aktionen der Antifas dennoch einen, wohl eher unerhofften, Effekt: Der Staat musste eingreifen um zu dokumentieren, dass er nicht gewillt war, sein Gewaltmonopol zu verlieren. Neben den Antifaschist*innen wurden daher daher auch die Mitglieder von „KnockOut51“ vor Gericht gestellt.
Wäre diese staatliche Intervention deutlich früher erfolgt: die Antifaschist:innen wären womöglich heute noch in Freiheit bei ihren Familien.